Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 1:103–105.
FERENC GLATZ
„In Memoriam József Eötvös”
– diesen Titel gaben wir der alljährlichen Memorial Lecture des Europa Institutes Budapest. Wir Wünschen hiermit an das Gedanken an jenen Politiker anzuknüpfen, der beteiligt war an der Gestaltung einer modernen, bürgerlichen ungarischen Nation. Der als Mitglied der bedeutendsten Generation der ungarischen Geschichte – der sogenannten Reform-Generation– dazu in der Lage war. eine Politik der Interesseneinheit zu schaffen. Und das zu einer Zeit – zwischen 1825 und 1870 – da die Schaffung des neuen Ungarn mit den tatsächlichen bzw. vermeintlichen Kränkungen der verschiedensten gesellschaftlichen Schichten einherging. Die Befreiung der Fronbauern, die Einführung des bürgerlichen Wahlrechtes, die Beseitigung von Vorrechten des Adels usw. erfolgten inmitten heftiger gesellschaftlicher Debatten und hitziger Konfrontationen.
József Eötvös war das Mitglied einer solchen Generation und gleichzeitig eine ihrer führenden Persönlichkeiten, die dazu in der Lage war, die Interessen der ungarischen Nation im Rahmen des zeitgenössischen Europa sowie anderer Nationen der Region zu überdenken:
Verletzung von materiellen und Prestige-Interessen, die radikale Umgestaltung der Produktionsstruktur, das Umdenken hinsichtlich staatlich-nationaler Interessen – und die Abstimmung all dessen auf die Politik der Interessenkonsolidierung. In den Dienst jener waren Politik und sich entfaltende moderne Politadministration zu stellen, um der Gesellschaft die vorantreibende Kraft europäischer Normative plausibel und annehmbar zu machen. Jene Normative, ohne die eine Nation nicht in den Reihen kultivierter moderner Nationen Europas bestehen bleiben kann.
Die ungarische politische Führungsgarde der Epoche 1825–1870 hat diese große Tat vollbracht: inmitten hektischer gesellschaftlich-nationaler Gefechte – wir dürfen nicht vergessen, dass in diesen Zeitraum auch der Unabhängigkeitskampf von 1848/49 entfällt – war man in der Lage, jenes politisches Institutionssystem aufzubauen, das die zurückgebliebene ungarische Gesellschaft inmitten der Betrübnisse der bürgerlichen Modernisierung funktionstüchtig erhielt. In einer Periode, da individuell das Leben der Bürger des neuen konstitutionellen Staates neu zu durchdenken war. Einkünfte mussten umgruppiert werden, es war der Kampf gegen die Verarmung aufzunehmen und gleichzeitig musste man sich die neue bürgerliche Unternehmermentalität aneignen, sich an diese gewöhnen.
József Eötvös war führende Persönlichkeit dieses vier Jahrzehnte lang andauernden Kampfes sowohl als Schriftsteller, Politiker und auch Minister. Er war imstande, als geborener Baron in seinen Romanen die Leiden der Fronbauern zu schildern, in seinen politischen Artikeln als geborener ungarischer Aristokrat mit seinem ganzen Einfühlungsvermögen auf die Volksbewegungen der Nicht-Ungarn einzugehen und gleichzeitig als Minister folgerichtig für den Ausbau der Volksbildung zu kämpfen. Und als ungarischer Politiker hat er niemals den europäischen Horizont aus den Augen verloren. Wenn es europäische Gesichtspunkte erforderten, war er dazu in der Lage, sogar aus dem Gesichtswinkel der anderen Seite – wie z.B. die Habsburger-Dynastie – seine eigene Nation einzuschätzen. Nationale Demagogie und Popularitäthäscherei vermeidend sprach er mit harter Selbstkritik von Fehlern seiner Nation. Wenn das Interesse der Nation dies erforderte.
Könnte es für die jährlichen Memorial Lectures des Europa Institutes Budapest einen besseren Namensgeber als gerade József Eötvös geben? Diese Frage stellten wir unseren Kollegen, als anlässlich der Kuratoriumssitzung mein werter Freund und Kollege Erhard Busek den Gedanken aufwarf, hier im Budapester Europa Institut in jedem Jahr eine Memorial Lecture zu halten. Gewählt wurde der Name von József Eötvös in den 90er Jahren zu einem Zeitpunkt, da Ungarn einen der Reformzeit ähnlichen schweren Wandel durchzumachen hatte: Die Umgestaltung des Produktions- und Wirtschaftssystems, welche von Bürgern und Individuum ein Umdenken hinsichtlich ihrer Lebensstrategien erforderte. Eine Umgestaltung der politischen Kultur, im Laufe derer man sich der vom politischen Mehrparteiensystem geforderten Toleranz anzupassen hatte. Und nach einer 40-jährigen politisch-strategischen Isolierung musste man sich an das auf Europa bzw. die ganze Welt ausgerichtete offene Denken und Verhalten gewöhnen...
Ein Systemwechsel kann nicht einfach identisch sein mit der Einführung von Marktwirtschaft und politischem Mehrparteiensystem. In der Gesellschaft haben tiefgreifendere Veränderungen zu erfolgen, in unserer Persönlichkeit und in unserem Denken muss ein Wandel eintreten. Auch die Denkweise muss geändert werden, damit zur Jahrtausendwende ein funktionstüchtiges modernes Mitteleuropa und im Rahmen dessen ein funktionstüchtiges modernes Ungarn geschaffen wird– sagten wir 1989. Diese geänderte Denkweise betrifft Beziehungen von Individuum und Gemeinschaft, das Verhältnis zwischen Staat, Nation und konfessionellen Gemeinschaften, jenes zwischen Bürger und Institutionen sowie das Denken hinsichtlich uns selbst.
Betreffs der Notwendigkeit zitierten wir die Lehren von Széchenyi und Eötvös: wie sehr doch für den Ausbau eines neuen gesellschaftlich-politischen Systems eine Veränderung von Denkweise, Reflexen und Gewohnheiten der ungarischen Gesellschaft erforderlich ist.
Wie wenig ist es doch üblich – sagten wir – im ungarischen alltäglichen und politischen Leben jene Haltung einzunehmen, die für individuelle Schwierigkeiten nicht unbedingt im anderen Bürger oder in politischen Institutionen, sondern in sich selbst nach der Fehlerquelle sucht. Es ist kaum Brauch, sich in der Welt und Umwelt als Ganzes einzuordnen und zur Kenntnis zu nehmen: die Lebensberechtigung des „Andersseins” ist den eigenen Bestrebungen zumindest gleichberechtigt. Es ist kaum Tradition, die Leistung des anderen zu würdigen. Sich nicht in erster Linie nur deshalb auf Debatten einzulassen, um bis aufs Messer Seine Wahrheit zu verteidigen, sondern um aus der Argumentation des anderen zu lernen und sich selbst auf diese Weise zu bereichern. Und in Diskussionen nehme ich zur Kenntnis: auch ich kann von der Wahrheit des anderen überzeugt werden. Es ist eine solche neue individuelle – nicht egoistische – Gesellschaft zu formen, in der Individuum und Gemeinschaft organisch miteinander verbunden sind, die gegenseitige Achtung des ICH und DU, des WIR und IHR das Verbindungsglied des alltäglichen Lebensbereiches ist. Und ein solches modernes bürgerliches Verhalten wird die Grundlage des reibungslosen Wirkens der neuen Institutionen sein.
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Das Europa Institut Budapest wünscht eine solche Institution zu sein, die dem politischen und intellektuellen Publikum in jedem Bereich ein Forum bieten möchte. Unabhängig von der politischen Parteizugehörigkeit, oder mit anderen Worten: gemeinsam mit der politischen Zugehörigkeit der denkenden Intelligenz. Es ist weiterhin unser Ziel, jenen Debatten eine Heimstatt zu bieten, die zur Gestaltung der zivilen Denkweise und Verhaltensformen neuen Typs beitragen können. Dieser Gedanke leitete unsere ausländischen Freunde, wie Herrn Dr. Dr. Batliner, die Peter Kaiser-Stiftung, ebenso wie jene in Ungarn oder alle bei der Gründung des Europa Institutes Budapest Mitwirkenden, unter Ihnen Herrn Vizekanzler, Minister Erhard Busek; sowohl derzeit 1990 als auch heute noch.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich als Direktor des Europa Institutes Budapest möchte an dieser Stelle besonders Herrn Árpád Göncz, den Präsidenten der Republik Ungarn begrüßen, der – wie ich glaube – sowohl als Persönlichkeit als auch hinsichtlich politischer und Verhaltenskultur anerkannt Träger all jener Eigenschaften ist, die wir uns in Ungarn der 90er Jahre für das Verhalten im alltäglichen Leben so wünschen. Und er ehrte uns bereits 1992 anlässlich unserer ersten Memorial Lecture, gehalten vom Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Domokos Kosáry, mit seiner Anwesenheit.
Und ich begrüße herzlichst unseren heutigen Referenten, Herrn Vizekanzler Minister Erhard Busek, der – wie in Ungarn bereits allgemein bekannt ist – im Interesse eines solchen Österreich politisiert, das offen der Welt gegenübersteht und sich akzentuiert mit den ost-mitteleuropäischen Nachbarn befasst, sowie hinsichtlich des Zusammenlebens hiesiger kleiner Völker die Gestaltung von Institutionen neuen Typs zu unterstützen wünscht.
Darüber hinaus, glaube ich, muss er hier in Ungarn nicht ausführlicher vorgestellt werden, mit Ausnahme jener Tatsache vielleicht, dass wir beide nahezu am selben Tag geboren wurden.
* Einleitende Worte zum ersten Vortrag der Memorial Lecture-Reihe im Europa Institut Budapest, 1992.