Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 19:111–118.
ZOLTÁN SZÁSZ
Nationale Konfliktgemeinschaften in der Habsburgermonarchie
Das ungarisch-rumänische Verhältnis1
In den achtziger Jahren veröffentlichte der tschechische Historiker Jan Křen – zuerst als Samisdat in der Tschechoslowakei, dann in Kanada – sein inzwischen auch auf Deutsch erschienenes Werk „Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780-1918”.
In dessen Einleitung charakterisiert er das deutsch-tschechische Verhältnis folgendermaßen: „Die tschechisch-deutsche Nachbarschaft und Durchmischung gehört zu den ältesten Beziehungsgeflechten in mitteleuropäischen Raum. (...) Zumindest an ihrer Ostgrenze sind die Deutschen mit keiner anderen Nation so eng verbunden wie mit den Tschechen.”
Um dies weiter zu illustrieren, zitiert Kren den tschechischen Dichter und Germanisten Otakar Fischer; dieser bezeichnete Deutsche und Tschechen als zwei „ineinander verwachsene und ineinander verbissene Nationen”.
Vierzig Jahre zuvor, im Jahr 1948, eröffnete László Makkai, der damals beste Kenner der siebenbürgischen und rumänischen Geschichte in Ungarn, sein Buch über die ungarisch-rumänische Beziehungsgeschichte (Magyar–román közös múlt) mit dem folgenden Satz: „Es gibt in Europa keine zwei Völker – die Deutschen und Tschechen nicht ausgenommen – die sich in einem derart großen Bereich berühren würden wie das ungarisch und das rumänische. Die Siedlungsgebiete des ungarischen und rumänischen Volkes sind in kleineren und größeren Sprachinseln ineinander verkeilt. Daher kann man nicht von einem Zusammenleben zweier geschlossener nationaler Bevölkerungen Seite an Seite sprechen, ein Umstand, der im Laufe der Geschichte für beide Seiten eine ständige existentielle Frage bedeutete.”
Berufspolitiker, Friedensstifter und Journalisten betrachteten Siebenbürgen oft als ungarisch-rumänisches Elsass-Lothringen: Argumentationsmuster und nationalen Stereotypen waren einander sehr ähnlich, die Gebietsabtretungen und wechselweisen Grenzveränderungen lösten ähnliche Reaktionen aus, und die Lösungsansätze wiesen ebenfalls einige Parallelen auf. Diese ineinander verschränkten Argumentationsmuster nehmen zumindest seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von zentralem Stellenwert im Rahmen der nationalen Diskurse beider Seiten ein; bis in die jüngste Vergangenheit, wie die Diskussion um die Autonomievorstellungen aus dem Kreis der Siebenbürger Ungarn zeigen.
Auch die Geschichte des ungarisch-rumänischen Verhältnisses reicht in eine weite Vergangenheit zurück. In diesem Zusammenhang gilt es jedoch festzuhalten, dass es sich bei Siebenbürgen, einer historischen Region des Zusammen- und Nebeneinanderlebens von Rumänen, Siebenbürger Sachsen und Ungarn, um keinen eindeutig definierten Begriff handelt: in diesem Überblick verwende ich die Bezeichnung „Siebenbürgen” nicht für das gesamte, nach dem Ersten Weltkrieg von Ungarn an Rumänien abgetretene Gebiet. Dies entspricht dem Sprachgebrauch der Zeit um die Jahrhundertwende sowohl auf ungarischer als auch auf rumänischer Seite: damals bezog sich der Begriff „Siebenbürgen” (Erdély, Ardeal) auf eine kleinere Einheit (57 000 km2), das heutige Zentralrumänien, eine Region, we1che schon im Mittelalter innerhalb des ungarischen Königreiches eine eigene Verwaltungseinheit gebildet hatte.
Ungarische Überlegungen, unter osmanischer Oberherrschaft – Mitte 17. Jahrhunderts – eine Art rumänisch-ungarisches, die Karpaten übergreifendes Dacia (Fürst Gabriel Bethlen) ins Leben zu rufen – der Namen war eine Anlehnung an die ehemalige römische Provinz – fanden mit der Eroberung Siebenbürgens durch Habsburgische Truppen (1687) ein Ende, die auch die Südkarpaten zur Grenze der Einflussbereiche zweier europäischer Großmächte, der Habsburger und der Osmanen, machte.
Auf beiden Seiten entwickelten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts jene Parameter, die das Denken der politisch-gesellschaftlichen Eliten für die Zeit bis zum Auseinanderbrechen der Habsburgermonarchie bestimmen sollten. Erste Frühformen eines von Geistlichen formulierten rumänischen kollektiven Bewusstseins spiegelten sich in der 1735 geprägten Formel des rumänischen unierten Bischofs Micu-Klein: „Wir sind seit dem Kaiser Trajan die ältesten Bewohner Siebenbürgens” Die Konzeption der römischen (später dakorumänischen) Kontinuität, wonach eine lateinisch sprechende Bevölkerungsgruppe die Wirren der Völkerwanderungszeit als direkte Vorfahren der Rumänen nördlich der Donau überlebt hätte, wurde 19. Jahrhundert in wissenschaftlichen Welt kontrovers diskutiert, diente jedoch bereits 1791 zur Grundlage des Kampfes der rumänischen Intelligenz für ihre politische Emanzipation.
Die Rumänenfeindlichkeit des ungarischen Adels wiederum wurde durch 1784 niedergeschlagenen Horia Bauernaufstand in Ostungarn wesentlich verstärkt, der auch zu einem ersten Auseinandergehen der ungarischen (Szekler) und rumänischen Bauern führen sollte. Die absolute rumänische Bevölkerungsmehrheit innerhalb Siebenbürgens jedoch konnte von der Mitte des 18. Jahrhunderts auch der siebenbürgische Adel, der sich als ein integraler Bestandteil der ungarischen Nation begriff, nicht in Zweifel ziehen. Erklärt wurde dieser Umstand jedoch vermehrt damit, dass – so ein zeitgenössisches Zitat – „der Rumäne sich aufmachte, als der Ungar für die Heimat (gegen die Türken) sein Blut vergoss, (...) und sich in den leer gewordenen Ortschaften ansiedelte”.
Als im Vormärz die bürgerliche Umgestaltung über die Bauernbefreiung die gesellschaftliche Emanzipation der Rumänen auf die Tagesordnung gesetzt hatte, verband die rumänische Intelligenz den sozialen Aufstieg bereits mit dem Anspruch auf Anerkennung als eigene Nation. Die nach 1841 offen geführten Diskussionen über verschiedene liberal nationalistischen Magyarisierungstrategien ließen jedoch in den Reihen der rumänischen Intelligenz bereits das Gefühl einer Bedrohung der nationalen Existenz entstehen.
Auf die Problematik der Revolution von 1848 und des ungarischen Unabhängigkeitskrieges von 1848/49, der für die kommenden Jahrzehnte auf bezüglich des ungarisch-rumänischen Verhältnisses eine entscheidende Auswirkung haben sollte, kann ich im Rahmen dieses Überblickes nicht ausführlicher eingehen. Erwähnenswert erscheint vor allem, dass das Wissen um die bevorstehende Katastrophe die ungarische liberale Elite im Juli 1849 dazu brachte, die Rumänen als gleichberechtigte nationale Gruppe innerhalb Siebenbürgens und als Nation in Ungarn anzuerkennen und ihnen weitgehende Autonomierechte (bis hin zu einer eigenen Nationalgarde) zusicherten. Andererseits verstärkte sich auf rumänischer Seite die antiungarische Einstellung der Eliten weiter, und sie erhofften sich die Einrichtung eines großen rumänischen Kronlandes innerhalb der Habsburgermonarchie. Die liberalen Eliten in der Walachei, dem Kerngebiet der späteren rumänischen Einigungsbewegung, dachten damals – noch sehr vorsichtig – bereits an die Möglichkeit einer großrumänischen Lösung unter Einschluss Siebenbürgens.
Im Laufe der Diskussion in den Emigrantenkreisen, die nach dem Scheitern sowohl der ungarischen als auch der Revolution in den rumänischen Fürstentum Walachei entstanden waren, fand auf rumänischer Seite die Wahrnehmung des Ungarn als nationalem Hauptfeind in das Nationalbewusstsein Eingang. Dies stand in keinem Gegensatz mit einer Kooperationsrhetorik und Taktik, welche sich vor allem auf den nichtslawischen Charakter beider Nationen in einem slawischen Umfeld bezog, in dem Russland bereits die beiden rumänischen Fürstentümer in seine Expansionsüberlegungen einbezogen hatte.
Im Siebenbürgischen Fürstentum, das nach 1849 wieder ein eigen verwaltetes Kronland im Rahmen der gesamten Habsburgermonarchie darstellte, konkurrierten ungarischer Adel und rumänische Intelligenz um die Unterstützung durch das politische Machtzentrum in Wien. Bis zum Ende der Monarchie jedoch verlagerten sich die Bezugspunkte beider Seiten zunehmend: während die ungarische Elite der zunehmenden politischen Instabilität des engeren Österreichs wegen, ihre Augen zunehmend auch nach Berlin richteten, wandten sich die Rumänen aufgrund der Enttäuschung ihrer Hoffnungen auf eine eigenes Kronland ebenfalls einer zweiten Schutzmacht zu: dem späteren Königreich Rumänien, welches (schon von 1861) begonnen hatte, eine politische Ausstrahlung auf Siebenbürgen zu entfalten.
Noch vor dem Abschluss des österreichisch-ungarischen Ausgleiches von 1867, der die Habsburgermonarchie in einen Bund zweier nominell unabhängiger Staatswesen umwandelte, war ein Teil der ungarischen Liberalen in der Frage der verfassungsmäßigen Stellung Siebenbürgens zu Zugeständnissen bereit. Sowohl Deák, als auch sein Gegner Kossuth (in seinem Plan einer Donaukonföderation) dachten an eine ähnliche Lösung wie im Falle Kroatiens: Siebenbürgen sollte, so die Überlegungen, eine beschränkte Autonomie, einen eigenen Landtag und eine korporative Vertretung im ungarischen Parlament erhalten. Deák war auch bereit, die Rumänen innerhalb Siebenbürgens als gleichberechtige nationale Gruppe anzuerkennen und damit ihren rechtlichen Status innerhalb des politischen Systems an die der Ungarn, Székler und Siebenbürger Sachsen anzugleichen. Widerstand kam jedoch vor allem von seinen Anhängern in Siebenbürgen, welche nicht bereit waren, ihre wider erworbene Machtpositionen mit neuen Gruppen zu teilen. Manche befürchteten auch, dass damit die 1867 vollzogene Wiederangliederung Siebenbürgens an Ungarn zum Gegenstand einer großpolitischen Dauerdebatte werden und interethnische Konflikte wieder aufleben könnten.
Die Frage der verfassungsrechtlichen Stellung Siebenbürgens war jedoch infolge des stufenweisen Ausbaus des ungarischen Nationalstaates um die Jahrhundertwende endgültig von der politischen Tagesordnung verschwunden. Das ungarische Nationalbewusstsein war vor allem vom politischen Denken der Grundbesitzerklasse geformt worden, und zwar im Sinne sowohl eines Machterhaltens über die Nationalitäten Ungarns, als auch der Durchsetzung eines ungarischen Einflusses in Südosteuropa (und zwar nicht als territoriale Expansion, sondern zur Einrichtung einer „Schutzmacht” gegen den russischen Einfluss am Balkan). In dieser Nationskonzeption wurde das ungarische Ethnikum in einem zweifachen System nationaler Hierarchien verankert: es wurde der Habsburgischen Gesamtmonarchie untergeordnet, um auf diese politische Erwartungen in Richtung einer „vergrößerten Macht” und eine Vorzugsstellung zu projizieren. Dem ungarischen Ethnikum hingegen wurden vor allem die Nationalitäten, und damit auch die Rumänen Siebenbürgens, untergeordnet.
Mit der Neuordnung der Habsburgermonarchie durch den österreichisch-ungarischen Ausgleich gelang es der liberalen Grundbesitzerelite auch, ihre traditionelle politische Hegemonie innerhalb Siebenbürgens wiederherzustellen. Dies geschah durchaus auf verfassungsmäßigem Wege, jedoch auch unter Einbindung absolutistischer Kräfte am Wiener Hof. Auf diese Weise konnte ein direkter Konflikt mit den Rumänen – wie während des Unabhängigkeitskrieges 1848/49 – vermieden werden; hierdurch verringerte sich jedoch nicht nur die Gefahr eines gewaltsamen Auseinandersetzung, sondern auch jene für eine Lösung auf dem kooperativen Verhandlungsweg. Eine weitere Folge für den politischen Alltag Siebenbürgens war, dass durch das Aufgehen Siebenbürgens im ungarischen Staat, keine dringende Notwendigkeit zu einem ungarisch rumänischen Interessensausgleich mehr gegeben war.
Weder in rechtlicher noch in politischer Hinsicht waren die Rumänen ab 1867 gleichberechtigte Partner gewesen. Nach dem Ausgleich existierte die „rumänische Frage” zwar als administrative, kulturelle, sozioökonomische und konfessionelle Frage weiter und wurde, wenn auch selten, im Parlament und in der Presse behandelt. Ein Forum für die Herstellung eines formellen Kontaktes zwischen beiden nationalen Gruppen fehlte jedoch nach wie vor, nicht zuletzt weil eine solche Kontaktaufnahme aus der Sicht des politischen Regimes nicht legitim sein konnte: So gab es zwar individuelle Freiheiten innerhalb der „einheitlichen politischen ungarischen Nation” – der bürgerlichen Erweiterung der feudalen „natio hungarica”. Kollektive Rechte jedoch gab es nur im kulturell-konfessionellen Bereich. Darüber hinaus stellte eines der Grundprinzipien des Staates dar, dass dieser, wie es hieß, nicht mit seinen „einzelnen Bürgern feilschen” könne.
Diese ungarische nationalstaatliche Entwicklung stand in einem gewissen Widerspruch zu jenen Auseinandersetzungen, we1che die Verstärkung der ökonomischen Lage des rumänischen Bürgertums Ungarn – von einem vergleichsweise niederem Niveau aus – um die Jahrhundertwende auslösten und we1che auch das Bild der Rumänen in der ungarischen Publizistik weiter negativ prägen sollten: gemeint ist die Parzellierung des ungarischen Mittelgrundbesitzes, die auch wesentlich durch Siebenbürgisch Sächsische und Rumänische Geldinstitute durchgeführt wurde. Den Wünschen der agrarischen Elite nach einer staatlichen Intervention nach preußischem Vorbild waren die merkantil-liberalen Kreise nicht bereit, entgegenzukommen. Waren daher für einen Teil der ungarischen Gesellschaft Angstphantasien kennzeichnend – so verglich ein Autor den Siebenbürgen Rumänen mit einem Maulwurf, der sich immer weiter vor grabe in die geheiligte ungarische Erde – bedeutete derselbe Vorgang für die rumänische Seite – so sprach etwa Baritiu 1885 über einen „wahren wirtschaftlichen Krieg”, infolgedessen der rumänische Bodenbesitz im ganzen Land vergrößert werden sollte, „wenn wir weiter existieren wollen, wenn wir überhaupt ein Vaterland für uns haben wollen.”
Auf außenpolitischem Gebiet war 1883 durch die Integration des 1878 völlig unabhängig gewordenen Rumäniens in den Dreibund aufgrund eines Geheimvertrages eine zweifelhafte Beruhigung der rumänischen Frage erfolgt. Budapest-Wien versuchte seit diesem Zeitraum auf diplomatischem Wege Bukarest dazu zu bewegen, auf die sich dort bald artikulierende gesamtrumänische Bewegung mäßigend einzuwirken, fand sich jedoch angesichts ihrer vorläufigen Harmlosigkeit mit deren Existenz ab. Zunehmend versuchte die rumänische Regierung jedoch, unter Hinweis auf die nationale Frage Wien und später auch Berlin für eine entgegenkommendere ungarische Nationalitätenpolitik zu mobilisieren. Es wurde folglich der rumänischen Seite ermöglicht, sozusagen den Spieß umzudrehen und ihrerseits in der Siebenbürgischen Frage die Stimme zu erheben.
Das 20. Jahrhundert begann für die Beziehungen zwischen Ungarn und Rumänen dennoch vielversprechend. Beruhigend wirkte die Auflösung einer eigenen Sektion, welche im Amt des Ministerpräsidenten in Budapest zur Beobachtung der Nationalitäten (und Sozialdemokraten) eingerichtet worden war. Und die politischen Vertreter der ungarländischen Rumänen folgten dem Beispiel der Slowaken und beteiligten sich nach Jahrzehnten der formellen Passivität erneut an Parlamentswahlen, ein Schritt, der als „Normalisierung” des politischen Lebens angesehen wurde. Entsprechend möchte ich noch etwas detaillierter auf die zwei letzten Versuche einer Bereinigung des ungarisch-rumänischen Verhältnisses eingehen, deren Verlauf durchaus auch für ganz Österreich-Ungarn einen paradigmatischen Charakter aufwies.
Im Sinne einer Stärkung Ungarns und der Monarchie begann Graf István Tisza, der sich auch persönlich immer wieder von der Notwendigkeit eines ungarisch-rumänischen Ausgleiches überzeugt gezeigt hatte, im Jahr 1910 Verhandlungen mit der politischen Führung der Rumänen in Ungarn. In die Verhandlungsserie, die sich bis einige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hinzog, waren auch Berlin und Bukarest mit eingeschalten. Eines der Hauptprobleme jedoch stellte für beide Seiten die Tatsache dar, dass sie entgegensetzt zu den dominanten Auffassungen in der ungarischen wie der rumänischen öffentlichen Meinung verhandelten. Zusätzlich jedoch durchkreuzte der ausgeprägt ungarnfeindliche und rumänenfreundliche Thronfolger Franz Ferdinand diesen Ausgleichsversuch. Ohne über seine Zukunftsvorstellungen genau im Bilde zu sein, können wir feststellen, dass er sich nach seinem Regierungsantritt – der täglich zu erwarten war, zu dem es jedoch infolge des Attentats in Sarajevo nie kommen sollte – selbst die Lösung des Problems vorbehalten wollte. Die Interferenz zweier Versuche zur Befestigung der Monarchie wirkte jetzt negativ aus.
Zu jener Zeit konnte man in Siebenbürgen selbst die Tiefe des Grabens, der die Bevölkerung der Region bereits in zwei Gesellschaften trennte, leicht übersehen. In einer Ausgabe eines bekannten deutschen Reiseführers wurde das Siebenbürgen um die Jahrhundertwende als ein Land des Friedens beschrieben, mit vier oder fünf dynamisch wachsenden zentralen Orten, sonst jedoch mit vielen langweiligen Kleinstädten, zahlreichen Sprachen und Mundarten sowie mit altmodischen Dörfern; Siebenbürgen erschien hier als ein Mikrokosmos und eine Fundgrube für Ethnographen.
Dennoch erhielt unter der Oberfläche gerade um die Jahrhundertwende eine zunehmende nationale Segregation schärfere Konturen. Die rumänischen Kulturorganisationen, allen voran das Netzwerk der ASTRA, hatten bereits auf vielen Gebieten Parallelstrukturen zur staatlichen ungarischen Administration, welche die Anliegen der rumänischen Bevölkerung halbherzig oder nur rudimentär zur Kenntnis nahm, aufgebaut. Das Netzwerk, in das auch die von Zeitgenossen oft mit Angst erwähnten Geldinstitute und auch die rumänischen Kirchen mit eingebunden waren, kümmerte sich auch um landwirtschaftliche oder gesundheitliche Fortbildung und verfügte auch über etliche caritative Unterorganisationen mit überwiegend sozialen Aufgabenbereichen. Sie bildete eine minimale, aber ideale Basis, um im Herbst 1918, nach der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie eine Übernahme der lokalen Verwaltung im heutigen Siebenbürgen durch die Rumänen durchzuführen.
Insgesamt besehen funktionierte bis dahin in den ländlichen Gemeinden – trotz der starken ethnisch-konfessionellen Hierarchisierung – im Alltagsverkehr ein leidliches bis gutes Auskommen noch weitgehend. Demgegenüber waren freundschaftliche Kontakte zwischen beiden Gruppen im städtischen Bereich umso unwahrscheinlicher, je höher die betreffenden in der jeweiligen sozialen Hierarchie verankert waren. Die abgesondert verlaufene nationale Integration hatte zwei getrennte Gesellschaften entstehen lassen, welche die Grundlage eines politischen Ausgleiches hätten bilden können. Parallel zur Entwicklung in österreichischen Teil der Doppelmonarchie – genannt sei hier nur der Mährische Ausgleich von 1905 – bereitete sich mit zeitlicher Verspätung auch in Ungarn eine Lösung der Minderheitenproblematik vor, welche nationale Konfliktgemeinschaften institutionalisierte, Interessensgemeinschaften überführen wollte – entsprechend der Metapher, dass der rumänische Minderheitenpolitiker Vasile Goldiş für das ungarisch-rumänische Verhältnis gebrauchte: beide Nationen seien wie Siamesische Zwillinge; sie seien beide Rücken an Rücken aneinandergewachsen, jedoch könne der eine ohne den anderen nicht überleben.
Dass im ungarisch-rumänischen Fall die Kräfte des Ausgleiches jenen der Konkurrenz unterlagen, war nicht zuletzt auch auf das geringe Wissen der ungarischen Gesellschaft über Wünsche und Ziele ihrer mit Abstand größten nationalen Minderheit zurückzuführen. Unter der ungarischen Intelligenz gab es wenige Empathie und nur eine Handvoll aufmerksamer Beobachter, die sich der Dimension der rumänischen Nationalbewegung vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges überhaupt bewusst waren und bereits vermuteten, was dies sowohl für das rumänisch-ungarische Verhältnis als auch für den ungarischen Staat bedeutete.
So auch Károly Kós, der im Bereich der Architektur zu den Schöpfern einer eigenen Siebenbürgischen Variante des ungarischen Nationalstils zu zählen ist und im Rumänien der Zwischenkriegszeit zu den Unterstützern einer national übergreifenden, sich erneut für eine Sonderstellung Siebenbürgens einsetzenden Transsylvanismus-Bewegung zählte. Im August 1911 nahm Kós an einer Jahresversammlung der ASTRA teil und schilderte seine Eindrücke mit folgenden Worten: „Ich habe eine imposante Nationalversammlung gesehen. (...) Ich habe dort eine Armee gesehen: die nationale Armee. Diese greift uns nicht mehr nur mit Sensen und Holzkanonen an und wird auch kein Sklave der Interessen Wiens sein. Das ist jetzt eine Nation, die bewusst arbeitet und sich mit Geld und Kultur bewaffnet hat. (...) Jetzt (...) müssen wir erkennen, dass wir es in Siebenbürgen mit einer konsolidierten rumänischen Gesellschaft zu tun haben, sowohl auf wirtschaftlichem und sozialem als auch auf kulturellem Gebiet. Diese Gesellschaft kennt zur Gänze ihre Stärke und Ziele. Diese Gesellschaft ist diszipliniert, fanatisch und idealistisch. Diese Gesellschaft ist eine Nation.”
Diese Entwicklung war das Produkt einer mit Konfrontationen und Kooperationen gefüllten langen historischen Periode im Rahmen der meist modernen und zugleich meist liberalen Staatsformation der Zeit: die Habsburger Monarchie.
Der tiefste Grund des ungarisch-rumänischen Gegensatzes war nicht einfach die Konfrontation von zwei politisch-territorialen Bestrebungen im Laufe der Formation ihrer Nationalstaatlichkeit. Es ging viel mehr darum, dass die Ausbildung der rumänischen Nation fand hauptsächlich und – nicht nur in Siebenbürgen – im konfliktreichen Prozess der Koexistenz mit und später der Abgrenzung von den Ungaren statt.2
Anmerkungen
1
Dieser Aufsatz ist Teil der Vorbereitung einer mit Peter Haslinger gemeinsam geplanten größeren Arbeit über die historischen Lehren der rumänisch-ungarischen Spannung, des s.g. „nationalen Diskurses”. Als Ausgangspunkt diente Erdély története III. Hrsg. B. Köpeczi, red. Z. Szász (Budapest, 1986); englische Übersetzung: History of Transylvania Vol. III. Ed. Z. Szász. New York 2002, Atlantic Studies on Society in Change No. 108. Ed. Béla K. Király; – P. Haslinger: Arad, November 1918. Wien– Köln–Weimar 1993.
2
Aus der neuen Literatur siehe L. Boia: Istorie şi mit in constiinta romanească. Bucuresti, 1997; L. Boia: Două secole de mitologie naţională. Bucuresti 1999; – Nation-Building and Contested Identities. Romanian & Hungarian Case Studies. Ed. B. Trencsényi, D. Petrescu etc. Budapest-Iaşi 2001, mit einer ausgewählten Bibliographie für die Periode 1990-2000.
Der Autor ist Professor des Europa Institutes Budapest.