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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 19:173–200.

TIBOR DÖMÖTÖRFI

Was treibt die ungarische Gesellschaft auseinander?

Phänomene der sozialen Anomie nach der demokratischen Wende

 

Der Zusammenbruch der staatssozialistisch-realsozialistischen Systeme Ostmittel- und Osteuropas, bzw. die schnelle Auflösung des kommunistischen Weltsystems traf die politischen Analytiker sowie die Sozialwissenschaftler im Westen völlig überraschend und unvorbereitet. Niemand sah die Ereignisse voraus, der Überraschungseffekt war entsprechend groß.1

Die Interpretation der seitdem in diesen Ländern eingeleiteten Demokratisierungsprozesse weist divergierende Unterschiede auf. Welche die typischsten Merkmale der politisch-institutionellen und sozialen Übergangsvorgänge von Diktatur zur Demokratie bzw. des Abbaus der totalitär-autoritären Strukturen sind – der im Falle Ungarns bereits vor dem „Schicksalsjahr” 1989 begann –, wurde von Anfang an kontrovers diskutiert.2

Die analytischen Definitionen der Transformationsprozesse variieren sich demnach von „Revolution” über „Systemwechsel” und „Re-Demokratisierung” bis zum „Systemverfall” oder einfachen „Regimewechsel”.3 Aus der terminologischen Vielfalt lässt sich jedoch herausfiltern, dass weder reine systemtheoretische noch ausschließlich handlungstheoretische Ansätze in diesem Fall als hinreichend anzusehen sind. Bei akteursbezogenen Interpretationen, wie etwa bei jener über Revolution, muss beispielsweise berücksichtigt werden, dass der Druck „von unten” nur durch den reformwilligen Druck „von oben” effektiv wurde, ein zivilgesellschaftliches „Erzwingen” der Demokratisierung wäre allein nicht erfolgreich gewesen.4 In diesem Sinne – und abgesehen hier von der Akzentuierung „regimegeleiteter” oder „oppositionsgeleiteter” Transitionen5 – kann man am besten mit der berühmt gewordenen Formel von T. G. Ash6 über eine „Refolution” sprechen.

In dem speziellen Fall Ungarns war der friedliche demokratische Übergang durch Verhandlungen zwischen der kommunistischen Regierung und der demokratischen Opposition grundsätzlich möglich,7 weil Ende der 80er Jahre in der Parteielite der MSZMP (USAP–Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei) die Einsicht Oberhand gewonnen hatte, wonach die Eliminierung der anachronistischen ideologischen Kulissen und leer gewordenen politischen Formeln sowie die Verabschiedung von dem maroden planwirtschaftlichen System unausweichlich wurde.

Im Rückblick kann man grundsätzlich – und im Vergleich mit den meisten anderen ehemaligen Ostblockstaaten besonders – auf die Stabilität des 1989/90 in Gang gesetzten Demokratisierungsprozesses hinweisen, der im politisch-institutionellen und ökonomischen Sinne bis Mitte der 90er Jahre weitgehend erfolgreich vollzogen wurde.

Im Folgenden möchten wir vor allem eine empirisch gehaltene Bestandsaufnahme von verschiedenen relevanten Faktoren des Systemwechsels vorstellen und dadurch der Frage nachgehen, ob die demokratisch-marktwirtschaftlichen Veränderungen eine qualitative Zäsur aus anomietheoretischer Sicht bildeten. Anschließend befassen wir uns mit direkten Reaktionen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit auf diese Entwicklungen, um aus den Forschungsergebnissen allgemeinere Schlüsse zu ziehen.

 

Die demokratische Wende als qualitative Zäsur in anomietheoretischer Sicht?

Leicht nachvollziehbar ist, dass der Wechsel von Diktatur zu Demokratie in seiner Komplexität auch die Werte- und Normensysteme der jeweiligen Gesellschaften betrifft und verändert.8 Einige Regeln und Normen verlieren dabei ihre Gültigkeit, andere wiederum gewinnen an Bedeutung. Oft kommt es zu Mischlagen von alten und neuen sozialen Regeln, die Konsistenz des normativen Gefüges wird allgemein schwächer. Mit dem Zerfall der posttotalitär-autoritären Herrschaftssysteme in Ost- und Ostmitteleuropa, die als eine Art oktroyierte Kohäsionskraft über der Gesellschaft funktionierten, gewannen anomische Tendenzen zweifelsohne an neueren Dimensionen.9

Vorsicht ist allerdings in der Beurteilung solcher Situationen geboten, weil die in allen betroffenen Ländern teils sehr massiv aufgetretenen Phänomene politischer Orientierungslosigkeit nach der Wende10 nicht einfach mit sozialer Anomie gleichzusetzen sind.11

Bei der Fragestellung, ob die demokratische Wende als eine Zäsur in anomietheoretischer Sicht12 betrachtet werden kann, kommt aus den besagten Gründen ein besonderer Stellenwert der näheren Untersuchung der objektiven gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Begleiterscheinungen im Laufe der Etappen des Demokratisierungsprozesses zu.

Die demokratisch-marktwirtschaftliche Transformation nach Teilsystemen

Der Veränderungsdruck der demokratisch-marktwirtschaftlichen Transformation verursachte in jedem ost- und ostmitteleuropäischen Reformstaat erhebliche und umfassende Brüche in den politischen, sozioökonomischen, aber auch in den rechtlichen Strukturen. Unter Berücksichtigung der immanenten Unterschiede der jeweiligen Prozessabläufe stellen wir im Falle Ungarns zuerst nicht die einzelnen Transformationsschritte vor, sondern wir konzentrieren auf die für unser Thema relevanten Erscheinungen und Entwicklungen13 in den Bereichen Sozioökonomie, Politik und Recht.

Die Durchführung der ökonomischen Transformation mit der gleichzeitig laufenden Demokratisierung war ohne Zweifel nicht unproblematisch in den ehemaligen staatssozialistischen Ländern, wo diese Veränderungen zügig in Angriff genommen wurden.14 Die sozialen Kosten sind überall hoch. Wegen der Umstellung der Volkswirtschaften von Planwirtschaft und COMECON auf Marktwirtschaft und Weltmarkt sank im ganzen Osteuropa die Produktion, gemessen sowohl an dem Bruttoinlandsprodukt als auch an der Industrieproduktion. Nach Berechnungen des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche büßten die Länder Osteuropas zwischen 1989 und 1993 insgesamt rund 70 Prozent ihrer Wirtschaftskapazitäten ein.15

Die Abbaudynamik der Nationalökonomien wegen der Umstellungskrise zeigte allerdings temporär und landesspezifisch deutliche Unterschiede.16 In Ungarn erfolgte die Wende der negativen Trends – nach Polen und Tschechien – in den Jahren 1993/1994.

 

Sozioökonomische Trends in Osteuropa
in Prozent zum jeweiligen Jahresende (1990–1994)

 

1990

1991

1992

1993

1994

Ungarn

GDP

–3,5

–11,9

–3,0

–0,8

2,0

 

Industrieprod.

–10,2

–16,6

–9,7

4,0

9,2

 

Agrarprod.

–4,8

–6,2

–20,0

–9,7

2,0

 

Inflation

28,9

35,0

23,0

22,5

18,8

Polen

GDP

–11,6

–7,0

2,6

3,8

5,1

 

Industrieprod.

–24,2

–11,9

3,9

7,3

11,9

 

Agrarprod.

–2,2

–1,6

–12,8

6,8

–9,3

 

Inflation

585,8

70,3

43,0

35,3

32,2

Tschechien

GDP

–1,2

–14,2

–6,4

–0,9

2,6

 

Industrieprod.

–3,3

–24,4

–7,9

–5,3

2,1

 

Agrarprod.

–2,3

–8,9

–12,1

–2,3

–5,6

 

Inflation

9,9

56,7

11,1

20,8

10,0

Bulgarien

GDP

–9,1

–11,7

–7,3

–2,4

1,4

 

Industrieprod.

–16,7

–22,2

–15,9

–10,9

4,5

 

Agrarprod.

–6,0

–0,3

–12,0

–18,3

2,5

 

Inflation

23,8

338,5

91,3

72,9

96,2

Russland

GDP

–2,0

–13,0

–19,0

–12,1

–15,0

 

Industrieprod.

–0,1

–8,0

–18,0

–14,1

–20,9

 

Agrarprod.

–3,6

–4,5

–9,4

–4,0

–9,0

 

Inflation

5,3

92,6

1460,2

840,0

300,0

Quelle: Countries in transition 1995: 38ff.

 

Parallel zu dem Abstieg der nationalökonomischen Produktion kam es in den osteuropäischen Ländern zu dem steilen Anstieg der Verbraucherpreise. In vielen Ländern, wo bis zur demokratischen Wende an den hohen staatlichen Subventionen und der zentralen Preisregulierungsmechanismen festgehalten wurde, stießen die Preise explosionsartig in den Himmel. In Ungarn dagegen blieben die jährlichen Preissteigerungen relativ moderat, wohlgemerkt, mit der Inflation musste die Bevölkerung bereits seit Anfang der achtziger Jahre ihre Erfahrungen machen.

Zweifelsohne war eine der sozial schwerwiegendsten Folgen des ökonomischen Systemwechsels die nach dem Ende des Staatssozialismus erstmals offen auftretende Arbeitslosigkeit.17

 

Arbeitslosigkeitsraten in Osteuropa
in Prozent zum jeweiligen Jahresende (1990–1994)

 

1990

1991

1992

1993

1994

Ungarn

1,9

7,8

13,2

12,6

10,9

Polen

6,3

11,8

13,6

16,4

16,0

Tschechien

0,8

4,1

2,6

3,5

3,2

Bulgarien

1,7

11,1

15,2

16,4

12,8

Russland

k.A.

0,1

0,8

1,2

2,2

Quelle: Countries in transition 1995: 38ff.

 

Obwohl Ungarn in dieser Hinsicht eine mittlere Stelle im osteuropäischen Umfeld einnimmt (mit ca. 10-11 Prozent Arbeitslosen), unter der beruflich aktiven Bevölkerung existiert eine erhöhte Angst vor Arbeitslosigkeit. Z.B. im Jahre 1992 fühlten sich 32 Prozent und im darauf folgenden Jahr 29 Prozent der Beschäftigten davon bedroht, entlassen zu werden.18 Es wird von den Betroffenen besonders als verstörend empfunden, dass sie oft nicht wissen können, nach welchen Kriterien und Grundsätzen Arbeitnehmer eingestellt bzw. entlassen werden. Scheinbar existieren für viele keine nachvollziehbaren festen Regeln mehr in diesem Bereich.19

Bemerkenswert ist, dass in der öffentlichen Meinung unter Auswirkungen des Systemwechsels in erster Linie die sozioökonomisch induzierten Veränderungen gemeint sind. Nach dem Wegfall des staatlich garantierten Rechts auf Arbeit und mit dem weitgehenden Abbau der realsozialistischen sozialen Versorgungssysteme verursachten die Arbeitslosigkeit, die parallel wachsende Armut und die soziale Marginalisierung in den Augen der Menschen die größten Belastungen der Systemtransformation.20

Der politische Machtwechsel erfolgte in Ungarn unter friedlichen Umständen durch Verhandlungen zwischen der kommunistischen Regierung und der vereinten Opposition in dem Zeitraum von Anfang 1989 bis Frühjahr 1990, als die ersten freien Wahlen abgehalten wurden. Die demokratische Institutionen wurden rasch ausgebaut, die politische Stabilität war im parlamentarischen System gewährleistet.21 Die ersten beiden Legislaturperioden haben die konservative (1990–1994) und die darauf folgende sozialistisch-liberale Koalition (1994–1998) ohne Zwischenwahlen voll ausgefüllt, was ein einmaliges Phänomen in der post-kommunistischen Region darstellt. Viele fragten sich, ob angesichts dieser Entwicklung überhaupt „revolutionäre” Veränderungen mit der Demokratisierung in Gang gesetzt wurden.22

Trotz teilweise vernichtender Urteile in der öffentlichen Meinung, die wiederholt Politikverdrossenheit und Enttäuschung in der Gesellschaft gegenüber dem neuen politische System attestierten,23 blieben Protestaktionen unter der Antall- und Horn-Regierung sporadisch und richteten sich meistens in Form von innerbetrieblichen Streiks gegen Missstände in der Privatisierung. Hervorzuheben ist allerdings die landesweite Blockade der Taxifahrer und Lastwagenunternehmer im Oktober 1990, die sich ursprünglich als Protest gegen die Benzinpreiserhöhungen artikulierte.24 Die Blockade wurde mehrere Tage lang durchgehalten und bewies, dass die Handlungsfähigkeit der neuen demokratischen Regierung leicht zu beschränken war. Die Geschehnisse zeigten gleichwohl, dass im äußersten Fall die formellen und faktischen Machtverhältnisse noch auseinanderdividieren konnten (die damals seit einem Jahr amtierende Regierung wagte es nicht, die Straßen gewaltsam zu befreien) und die Wirkungslosigkeit gesetzlicher Normen von der gesellschaftlichen Mehrheit akzeptiert wurde (der Staatspräsident erließ unter dem Druck der Öffentlichkeit eine generelle Amnestie zugunsten der Beteiligten).25

Als ein Indikator für die Suche nach stabilisierenden Kontinuitäten und Vorhersehbarkeiten in der Gesellschaft möchten wir im Folgenden den überraschenden Erfolg der post-kommunistischen Sozialistischen Partei (MSZP) bei den Parlamentswahlen von 1994 aus der Reihe der politischen Ereignisse kurz hervorheben.

Die „Rückkehr der Roten” Mitte der neunziger Jahre von Litauen bis Polen machte in der westlichen Öffentlichkeit Furore und es wurde viel darüber spekuliert, wieso die „Wende-Kommunisten” überall zurück an die Macht drängen, auch im „reformfreudigen” Ungarn.26 Der polnische Soziologe A. Smolar wies klar darauf hin, dass die „neu-alten” Post-Kommunisten, die sich selbst inzwischen lieber als Sozialdemokraten bezeichnen, darauf konzentrierten, die Hoffnungen auf ein „thermidorisches Regime des Kompromisses”, auf eine Synthese zwischen den Errungenschaften der Volksrepublik und denen des halben Jahrzehnts seit 1990 zu wecken. „Unter einer Linksregierung, die von der ‘Barbarei des Ostens’ gereinigt sei und jetzt in den Westen heimkehre, zugleich aber die wertvollen, gesellschaftlich weithin anerkannten Leistungen der kommunistischen Zeit, beispielsweise in der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik, die in neuester Zeit in Vergessenheit geraten seien, erneuere und fortsetze, könne nach diesen Vorstellungen endlich der Marsch in die Zukunft beginnen.”27

Die „samtene Konterrevolution” (Smolar) gewann 1994 auch in Ungarn und zwar so, dass die Sozialistische Partei in ihrer Propaganda jene unteren und mittleren Schichten besonders ansprach, denen es in der späten Phase des Realsozialismus relativ gut ging, die aber seit der Wende besonders Mühe haben, ihren Standard zu halten.28 Gleichzeitig wurden die politischen und persönlichen Zusammenhänge zwischen der alten MSZMP und der neuen MSZP (USP–Ungarische Sozialistische Partei) im Wahlkampf dezent aber eindeutig hochgespielt.29

Obwohl die Frage über Wandel und Kontinuität der Machteliten im Systemwechsel bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein heiß diskutiertes Streitthema in den Sozialwissenschaften ist,30 können Hinweise in großer Zahl darüber gefunden werden, dass die politische Handlungsweise und sogar die Sprache der hohen Parteifunktionäre der MSZP dem staatssozialistischen Mustern ähnelt. Aber nicht nur die politische Kultur der Regierungsparteien,31 sondern auch die in den Medien vermittelten Werte- und Normeninhalte suggerierten eine Kontinuität,32 die durch die Verstärkung der Identifikationskomponenten in der Gesellschaft auf die Stabilisierung der Machtverhältnisse abzielte.

Mit dem Ausbau der demokratischen Rechtsstaatlichkeit bis spätestens 1994/95 gewannen die manifestierten, gesetzlich festgeschriebenen Normen in der Rechtspraxis eindeutig an Bedeutung, diese Tatsache wird allgemein anerkannt.33

Dass in der Rechtsanwendung dennoch gewisse Normunsicherheit feststellbar ist, hängt in erster Linie mit der rasanten gesetzgebenden Arbeit des Parlaments zusammen, die in den ersten zwei Legislaturperioden besonders charakteristisch war. Es bleiben offensichtlich noch viele „Gesetzeslücken” offen, die besonders auf sozial empfindlichen Gebieten (Eigentumsrecht, Strafrecht) widersprüchliche Interpretationen erlauben.34

Dadurch entstehen Ungereimtheiten und Unstimmigkeiten in der Rechtsordnung, die in der Öffentlichkeit des Öfteren thematisiert werden.35 Der subjektive Leidensdruck, der aus Unsicherheiten resultiert, ruft bei vielen nach Eindeutigkeit. Als ein Zeichen dafür können die Law-and-Order Parolen interpretiert werden, die in der Kampagne für die Wiedereinführung der in Ungarn 1990 abgeschafften Todesstrafe in der Presse laut geworden sind.36

Zusammengefasst kann man sagen, dass in den Teilsystemen Wirtschaft, Politik und Recht die notwendigen marktwirtschaftlich-demokratischen Umstrukturierungen weitgehend mit Erfolg durchgeführt wurden. Die normativen Grundlagen in diesen Bereichen sind größtenteils bereits festgelegt.

Es gibt allerdings Schwachstellen, die Widersprüchlichkeiten und letztendlich Illoyalität gegenüber der neuen Ordnung begünstigen. Obwohl die Anpassungsschwierigkeiten in der Volkswirtschaft im Vergleich ein durchschnittliches Ausmaß erreichen, werden die sozialen Kosten als hoch eingestuft und erlebt. Hinter der Stabilität des neuen politischen Systems stecken Kontinuitäten aus der staatssozialistischen Vergangenheit, die die Erneuerung der demokratischen politischen Kultur erschweren. Die umfassenden Veränderungen im Rechtssystem können normative Defizite nicht kaschieren, die in der Rechtsanwendung für Irritationen sorgen und Verunsicherung auslösen.

Weiterlebende Dominanz egoistischer Tendenzen und antisozialer Verhaltensweisen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene

Wenn man die ungarische Gesellschaft der 90er Jahre aus der Nähe beobachtete, scheint ein beinahe zügelloser Egoismus in der öffentlichen Sphäre um sich zu greifen; jegliche Bindungen, Beziehungen, moralische Prinzipien, die über die persönlichen Kreise oder die familiären Strukturen hinausgehen, geraten ins Wanken; kaum einige Normen und Regeln werden allgemein akzeptiert, weil jeder für sich alleine kämpft und der andere als potentieller Feind angesehen wird. Man könnte meinen, diese Erscheinungen sind Produkte der Freiheit und Liberalisierung.37

Den offensichtlich schwachen Bindungen der sozialen Integration und Solidarität kann man auch gegenwärtig ganz alltäglich und hautnah auf die Spur kommen. Wir erwähnen hier nur die auffällige Präsenz der Obdachlosigkeit in den Großstädten38 und den ziel- und wahllosen Vandalismus39 sowohl in dem städtischen Milieu als auch auf dem flachen Lande, die neuartige Erscheinungen sind.

Die Frage ist aber, ob diese Attitüden und Verhaltensweisen, die nach der demokratischen Wende auf dieser Weise zum Vorschein kamen und sich jetzt auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene manifestieren, inwiefern neue Erscheinungen sind oder auf alte, im Staatssozialismus ausgeprägte Verhaltensmuster zurückzuführen sind.

Tatsache ist, dass die Umstellung auf das demokratisch-marktwirtschaftliche System bedeutete auch, dass die staatliche Sanktionsordnung wegen der Anpassungsschwierigkeiten weitgehend gelockert wurde. In der Gesellschaft wurde es aber so erlebt, dass die diesbezüglichen „kleinen privaten Freiheiten” des Kádárismus, die nicht unbegründet auch mit den tolerierten Rechtsbrüchen und mit der Gesetzeslückensuche gleichgesetzt wurden, jetzt unter den freien marktwirtschaftlichen Verhältnissen auf die öffentliche Sphäre ausgedehnt werden können.

In der Makroökonomie liefern für diesen Mentalitätswandel sehr gute Beispiele die regellosen Abläufe während der Privatisierung des ehemaligen staatssozialistischen öffentlichen Eigentums.40 Hier erscheint ein oligarchischer Egoismus auf der Makroebene nach dem Motto: „wir verteilen und plündern”. Es gibt bezeichnenderweise keinen „wirtschaftlichen Nationalismus”, keine konsequente Vertretung gesamtgesellschaftlicher Interessen und nur wenig Rücksichtnahme auf die sozialen Kosten der Privatisierung der staatlichen Betriebe.41

Die verbreitete „Regellosigkeit” im ökonomischen System kann darauf zurückgeführt werden, dass die Vermischung unklarer und inkonsistenter Strukturelemente nach wie vor in vielen Wirtschaftssektoren dominiert. So wie im kádáristischen Sozialismus staatliche Planwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Elementen koexistierte, beeinflussen heute Gebilde eines oligarchischen Etatismus die Funktionsweise der privaten Wirtschaft.

Dieser Themenkomplex ist natürlich untrennbar von der Problematik der Korruption als Ausdruck des uferlosen „sacro egoismo”.42 Die Korruption ist allgegenwärtig im heutigen Ungarn43 und zwar in einer Weise, die die marktwirtschaftliche Funktionsfähigkeit einzelner Branchen erheblich beeinträchtigt.44

Als Folge der Normenkrise in der Sozioökonomie floriert die Schattenwirtschaft. Nach offiziellen Schätzungen erreicht der „schwarz” erwirtschaftete Anteil um 30 Prozent der GDP.45 Neben ganz neuen Formen der Wirtschaftskriminalität (wie etwa manipulierte Konkurse und Liquidierungen)46 dominieren weiterhin die „klassischen” Methoden: illegale Beschäftigung und Steuerhinterziehung.

Nach dem Zeugnis von Erfahrungsberichten, die mit gewisser Regelmäßigkeit in der Tagespresse abgedruckt werden, sei Schwarzarbeit eine alltägliche Routine-Erfahrung in der privaten Wirtschaft. Auf der Arbeitnehmerseite treibt die Angst vor Entlassung dazu, dass Menschen unter dem Minimallohn arbeiten, ihre Lebensunterhaltskosten müssten sie dann durch Schwarzarbeit bestreiten. Auf der Arbeitgeberseite versuchen sich Kleinunternehmer regelmäßig mit verschiedenen Manipulationen: Angestellte werden nicht gemeldet, für Lieferungen werden keine Rechnungen ausgestellt. Über das Ausmaß der Schwarzarbeit existieren nur Schätzungen: ein Indikator kann sein, dass 25 Prozent der registrierten Arbeitslosen nach der Einstellung der Arbeitslosenunterstützungszahlung „verschwinden”, d.h. sie verdienen ihr Geld fortan höchstwahrscheinlich als Schwarzarbeiter. Sehr bezeichnend ist zum Schluss die journalistisch registrierte hohe gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber den illegalen Beschäftigungsverhältnissen: „Der Regelbruch, der Schwindel, das Tricksen sind heute voll angenommene Sachen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung.”47

In der Sache Steuerhinterziehung sind die Ungarn aufgrund indirekter Indikatoren auch nicht besonders zimperlich.48 Niedrige Steuermoral bedeutet gleichsam die Aufkündigung dieser Form der gesellschaftlichen Solidarität. Diese Art von Normverletzung scheint so verbreitet zu sein, dass in den redistributiv-allokativen Systemen der Normverletzer letztendlich begünstigt und der Normkonforme benachteiligt wird.49 Im Verhältnis von Staat und Staatsbürger bildete sich ein „negativer Konsens” aus, der auf der gegenseitigen Ignorierung der Steuer- bzw. Leistungsmoral basiert und dadurch die gesetzliche Norm massiv in Frage gestellt wird.50 Falls aber der Regelverstoß ausnahmsweise geahndet wird, wird es als „Willkür” empfunden, besonders wenn es zur realisierbaren Sanktionierung kommt. (Charakteristisch ist in dieser Hinsicht die Empörung über die Pläne der zweiten bürgerlichen Regierung [1998], eine „Steuerpolizei” mit besonderen Befugnissen aufzustellen.)

Wir könnten des Weiteren auf eine Reihe vielfältiger „Abwehrreaktionen” hinweisen, die alle darauf abzielten, individuelle Interessenfreiheiten gegenüber gesetzlichen Regelungen und Maßnahmen möglichst abzusichern. (Z.B. aus den letzten Jahren: organisierter Protest der Taxifahrer gegen die geplante Tarifenmaximierung, lautstarke Ablehnung des Gesetzes zum Schutz der Nichtraucher, Blockade gegen die Einführung von Autobahngebühren etc.)51

Neue Erscheinungsformen von sozialer Desintegration und Devianz

Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Frage, wie die Lockerung der Sanktionsordnung nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur bzw. der Anpassungsstress in der Gesellschaft während der Systemtransformation auf die verschiedenen Formen devianten Verhaltens auswirkten.52

Die statistisch erfassbaren Kennzahlen über Selbstmord, Alkoholismus und mentale Krankheiten, die in der Epoche des Staatssozialismus zum Teil dramatische Verschlechterungstendenzen aufwiesen, zeigen während der relativ kurzen Zeitspanne seit 1990 insgesamt eine leichte Entspannung der Lage. Die Entwicklung ist allerdings nicht ohne Widersprüche und Unklarheiten.

 

Selbstmord, Alkoholismus und mentale Krankheiten in Ungarn (1990–1995)

 

1990

1991

1992

1993

1994

1995

Selbstmordrate, pro 100.000 Einwohner

39,9

38,6

38,7

35,9

35,3

34,2

Weinkonsum, pro Kopf, in Litern

28

29

30

32

29

Bierkonsum, pro Kopf, in Litern

105

101

94

83

85

Spirituosenkonsum, pro Kopf, in Litern

4,3

3,9

3,7

3,7

3,5

Leberzirrhose als Todesursache,
pro 100.000 Einwohner

52,6

56,9

70,5

81,7

83,9

83,0

Registrierte Zahl der psychisch Kranken, pro 10.000 Einwohner

123

125

132

132

135

Aus psychiatrischen Anstalten entlassene Patienten, pro 10.000 Einwohner

173

179

181

Quelle: Andorka/Kolosi/Vukovich 1996: 43f.

 

Die Erleichterung der ungarischen „Selbstmordepidemie”53 ist eindeutig feststellbar, obwohl die Suizidrate weiterhin hoch ist (ca. 34 pro 100.000 Einwohner) und die sozio-kulturelle bzw. regionale Unterschiede wie zuvor charakteristischerweise bestehen.54 Wegen der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Aussichten rechneten Publizisten und Beobachter anfangs der Veränderungen mit einer steigenden Selbstmordrate.55 Diese Prognose bewahrheitete sich auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene nicht.56

Die Kennzahlen des Alkoholismus zeigen etwas widersprüchliche Tendenzen. Trotz der insgesamt rückläufigen Trends des Alkoholkonsums wird das Phänomen Alkoholismus weiterhin als ein gravierendes gesellschaftliches Problem begriffen und untersucht.57 Die statistisch steigende Zahl der an Leberzirrhose Verstorbenen kann allerdings ohne die Berücksichtigung des zeitlichen Verzerrungsfaktors leicht überbewertet werden.

Die dramatischen sozialen und normativen Folgen der Systemtransformation lösten in breiten Bevölkerungsschichten massive Verhaltensüberforderung (Stress) aus.58 Dieser Druck überlagert die bereits zuvor vorhandenen psychosozialen Belastungen, wie es sich in den Krankenstatistiken zeigt. Charakteristisch sind die regionalen Unterschiede: die östlichen Landesbezirke (Komitate) Ungarns, die sich in sozioökonomischer Sicht in einer benachteiligten Lage befinden, haben eine größere Zahl von psychisch Kranken zu verzeichnen.59 Die wichtigsten Indikatoren dieser Probleme, die Symptome der Depression, zeigen immerhin eine signifikante gesellschaftliche Differenzierung: 1988 bis 1995 waren die niedrig Gebildeten und die Arbeitslosen am stärksten, die oberen Statusgruppen und die Jugendlichen dagegen am wenigsten betroffen.60

Die offensichtliche Korrelation zwischen Selbstmordhäufigkeit, Alkoholismus und psychischen Problemen kann mit der hohen Mortalität der Ungarn in Zusammenhang gebracht werden.61 Auf diesem Gebiet werden zurzeit strategische Forschungen u.a. von der Wissenschaftsakademie Ungarns durchgeführt. Angesichts einer drohenden demographischen Krise werden die verschiedenen Dimensionen der Lebensqualität analysiert. Es wurde festgestellt, dass bei den erwähnten sozialen Problemerscheinungen die mangelnde Festigkeit der sozialen Beziehungen und Bindungen eine entscheidende Rolle spielt.62

Eine der traumatischsten Erfahrungen in der heutigen ungarischen Gesellschaft ist die Verschlechterung der Kriminalitätslage in dem Land, die gewöhnlich mit dem Systemwechsel in Verbindung gebracht wird, obwohl die ersten Anzeichen dafür bereits mit dem sukzessiven Verfall der Diktatur, also seit den achtziger Jahren registrierbar waren.63 Die Presse berichtet intensiv über die verschiedensten Kriminaltaten, die Irritation in der Bevölkerung ist erheblich.64

In der gesellschaftlichen Meinung wird die öffentliche Sicherheit als immer schlechter eingestuft und als eines der größten Probleme in Ungarn von heute betrachtet, wo politischer Handlungsbedarf besteht.65

 

Beurteilung der öffentlichen Sicherheit in Ungarn
Antworten in Prozent (1994–1997)

 

1994

1997

verhältnismäßig gut

10

4

mittelmäßig

43

41

verhältnismäßig schlecht

29

36

sehr schlecht

18

19

Quelle: Median Institut, Budapest, in: Népszava 29. Dezember 1997 (Nr. 302)

 

Die Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, ist groß in der Bevölkerung, darauf deutet auch der Aufschwung des privaten Sicherheitsgewerbes sowie die Selbstbewaffnung der Bürger hin.66 Merkwürdigerweise wird der Polizei weiterhin Vertrauen geschenkt,67 obwohl seit dem Systemwechsel auch die landesüblichen polizeilichen Strukturen und Methoden kräftig in Frage gestellt wurden.68

Die heftigen gesellschaftlichen Reaktionen auf die Kriminalitätslage sind verständlich, wenn man bedenkt, dass hohe Kriminalitätsraten an sich noch besser zu ertragen sind, als ein plötzlicher Zuwachs an Straftaten. Und die Kriminalstatistiken sprechen eine deutliche Sprache. Sie zeigen, dass während der neunziger Jahre sich die Zahl der bekannt gewordenen Delikte verdreifachte (1988: 185.300 – 1995: 502.180; 1996: 466.050; 1997: 514.403). Davon waren die meisten Eigentumsdelikte, deren Anteil an den Gesamtdelikten von 50–60 Prozent auf beinahe 80 Prozent (1997: 76,4 Prozent) anstieg. Die Zahl der Gewaltdelikte wuchs relativ mäßig, ausgenommen die Mordfälle. Während es bis Ende der achtziger Jahre jährlich um 200 Tötungsdelikte gab, waren es im Jahre 1995 296 Fälle.69

Als neues Phänomen kann die Verbreitung der organisierten Kriminalität erwähnt werden, die in Osteuropa mittlerweile überall präsent ist.70 In Ungarn wurde erst Mitte der neunziger Jahre die medienwirksame Brutalität der organisierten Banden offensichtlich. Wenige Jahre später gehörten schon die Berichterstattungen über die mafiaartige Hinrichtungen und Bombenattentate beinahe zur täglichen Routine, die allerdings die Öffentlichkeit unverändert empören.71 Da der Täterkreis sich auf wenige Gruppen (darunter Ausländer) beschränkt, wird das Problem der organisierten Kriminalität eher kriminalpolitisch als gesellschaftlich betrachtet.72

Ebenfalls seit der demokratischen Wende sind verschiedene extremistische Gruppierungen (Skinheads, Rechtspopulisten) in der Öffentlichkeit erschienen. Sie haben aber wenig Zulauf, ihre gesellschaftliche Wirkung ist gering, sie stoßen auf die Ablehnung der breiten gesellschaftlichen Mehrheit.73

Im Realsozialismus war die öffentliche Darstellung von Sexualität ein Tabu. In den ersten Jahren der Zensurfreiheit fegte eine regelrechte Pornowelle über das Land, die nach der offensichtlichen Deckung des Nachholbedarfs ohne nennenswerte gesetzliche Einschränkungen deutlich nachließ. Meinungsumfragen zufolge lässt sich die Mehrheit der Ungarn vom Anblick der sexuellen Darstellungen nicht stören.74

Die Prostitution war während der kommunistischen Zeiten ebenfalls verboten, aber in begrenztem Maße und an bestimmten Orten (in Großstädten) geduldet. Nach der Wende wurde die Prostitution einer der am besten florierenden illegalen Wirtschaftszweige des Landes.75 Mitte der neunziger Jahre waren schätzungsweise 10.000 Prostituierte in Ungarn aktiv und sie erwirtschafteten insgesamt so viel, wie ca. 0,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes.76 Die Prostitution verbreitete sich sehr rasch im ganzen Land und nahm Erscheinungsformen an, die früher unbekannt waren (z. B. Landstraßenstrich). Betroffen sind besonders Frauen aus dem Unterschichtmilieu, oft aus dem Roma-Ethnikum.77 Da die demokratischen Regierungen bzw. die Polizei mit dem wachsenden Problem der Prostitution als illegaler Tätigkeit, die nicht selten mit der organisierten Kriminalität in Verbindung steht, offensichtlich nicht fertig werden kann,78 wurde erwogen, das gewerbsmäßige Dirnenwesen unter bestimmten administrativen Bedingungen zu legalisieren.79

Wie im übrigen Ost- und Ostmitteleuropa, ist der illegale Drogenkonsum und -handel auch in Ungarn ein immer ernsthafter werdendes gesellschaftliches Problem.80 Die Zahl der regelmäßigen oder gelegentlichen Konsumenten von illegalen Drogen wird gegenwärtig auf 40.000 bis 100.000 geschätzt.81 Einige Experten behaupten, dass diese Angaben noch deutlich nach oben korrigiert werden müssten, bei steigender Tendenz.82 1994 bis 1996 stieg die Zahl der registrierten Drogenabhängigen um 50 Prozent (1994: 2806; 1995: 3263; 1996: 4233). In dem genannten Zeitraum verdreifachte sich der Anteil der Heroinabhängigen. Im Jahre 1996 wurden in Ungarn 289 Drogentote registriert (145 Männer, 144 Frauen).83 Die von den Behörden beschlagnahmte Menge von illegalen Drogen signalisiert einen regen Handel mit dem Rauschgift (1990: 6,3 kg; 1996: 1146,0 kg; 1998: 728,6 kg).84

Auf die seelische Instabilität vieler Menschen zielen die neuen Sekten und Jugendreligionen,85 die nach der Wende in allen osteuropäischen Ländern wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.86 Das öffentliche Auftreten und die teils aggressive Mitgliederwerbung dieser neuen Kulte ist in erster Linie der wiedergewonnenen Religionsfreiheit zu verdanken.87 Die außerkirchliche „neue Religiosität”, die hier zu beobachten ist, weist zum Teil sehr individualistische Züge auf (Esoterik, New Age, Scientology).88 Die Popularität der neotranszendentalen Bewegungen in Ungarn kann allerdings so gedeutet werden, dass viele kulturell entwurzelte Menschen, die durch den Kollaps der äußeren Lebensbedingungen mit der Sinnentleerung ihrer Situation konfrontiert wurden, unter den Schirm der religiösen Subkulturen und Sekten flüchteten.89

Es kann im Zusammenhang mit der Implosion des staatssozialistischen Systems in dem Bereich devianten Verhaltens allgemein eine Schwerpunktverschiebung konstatiert werden: „Selbstaggression" lässt demnach im Wesentlichen nach, „Fremdaggression" (wie Kriminalität) nimmt deutlich zu.

Die Verbreitung der neuen Formen von Devianz und antisozialen Verhaltensweisen resultiert in erster Linie daraus, dass die Sanktionsgefahr nach dem Zerfall der repressiven Ordnungs- und Regelsysteme wesentlich geringer geworden ist bzw. in der Form nicht mehr existiert. In dem vorhandenen Umfang konnte aber diese Entwicklung u.E. nur deswegen einsetzen, weil die moralisch-regulativen Grundlagen der entsprechenden gesellschaftlichen Normen bereits während der Diktatur ausgehöhlt wurden.

 

Ansichten, Reaktionen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit auf einige Aspekte der Veränderungen anhand Paneluntersuchungsergebnisse und Umfragen (1991–1995/97)

Die erwähnten Fragen betreffend verfügt man gegenwärtig über eine Vielzahl von repräsentativ erhobenen Umfrageergebnissen.90 Ähnliche repräsentative Untersuchungen waren während der Diktatur aus gesellschaftspolitisch-ideologischen Überlegungen offiziell nicht zugelassen. Aus diesem Grund kann man – abgesehen von einigen Ausnahmen aus den achtziger Jahren91 – kaum entsprechende frühere Erhebungen zum Vergleich ziehen.

Unserem Interesse für diese Umfragen liegt die methodische Annahme zugrunde, dass Personen zu diesen Fragestellungen bessere Informationsquellen sein können, als statistische Datenreihen oder ggf. die einfache Beobachtung von Verhaltensmustern.92

Akzeptanz von verschiedenen Devianzformen

In der Ära des Kádárismus – besonders ab Ende der sechziger / Anfang der siebziger Jahre – war die Vorkommenshäufigkeit einiger Formen devianten Verhaltens (besonders Selbstmord und Alkoholismus) in der ungarischen Gesellschaft sehr hoch. Dahinter wurde schon damals eine erhöhte Akzeptanz in der Bevölkerung gegenüber bestimmten Abweichungen von den gesellschaftlichen Normen vermutet.93

Abweichendes Verhalten – auch wenn es ggf. verbreitet ist – ist natürlich an sich nicht repräsentativ für die ganze Gesellschaft, aber wir denken, wenn Devianz in der öffentlichen Meinung in Akzeptanz umschlägt, dann ist es ein direkter Indikator für die aufgekündigte Verbindlichkeit der betreffenden Normen. Deswegen scheint die Fragestellung für uns besonders interessant und relevant zu sein, ob die Vermutungen über einschlägige Tendenzen in der ungarischen Gesellschaft aufgrund der nach 1990 durchgeführten Meinungsumfragen stimmig sind bzw. in welchen Bereichen greifen.

Wir können aufgrund der Forschungsergebnisse eine deutliche Widersprüchlichkeit in den Meinungen konstatieren.

Das moralische Element der Normen, das auf die christlich-religiöse Lehre zurückgeht, hat – nicht zuletzt wegen des säkularisierten Weltbildes – klar an Bedeutung verloren. Das nominelle Rechtsbewusstsein der Menschen bezieht sich in erster Linie auf die manifesten Regeln und Gesetze.

Die Abweichungen von den gesellschaftlichen Normen werden jedoch selektiv beurteilt. Deviante Verhaltensformen, die einen besonderen sozio-kulturellen oder sozialgeschichtlichen Hintergrund haben, werden in der Tat weniger verachtet.

Es kann etwas allgemeiner auf das deutlich erkennbare Phänomen hingewiesen werden, dass mit der relativ stabilen Rechtempfindlichkeit der Menschen eine verbreitete Rechfertigungsbereitschaft koexistiert, gewisse Normverletzungen mit den Umständen zu entschuldigen. Wertekontinuität und Normenkrise können also gleichzeitig beobachtet werden.

 

Entfremdung, Orientierungslosigkeit, Anomie

Im Folgenden möchten wir uns mit einigen weiteren Meinungsumfrageergebnissen noch detaillierter beschäftigen: 1993 bis 1997 wurden nämlich im Rahmen der jährlich landesweit durchgeführten Ungarischen Paneluntersuchungen Fragen gestellt, die ganz konkret wesentliche Dimensionen von „Anomie” erfassen sollten.

Die einschlägigen Fragen bezogen sich z.T. auf Anomie im engeren Sinne, d.h. auf die regulatorische Normenkrise (im Durkheimschen Sinne) bzw. auf die Orientierungsschwierigkeiten in der Gesellschaft.

 

Symptome der Anomie und Entfremdung in Ungarn
in Prozent der zustimmenden Antworten (1993, 1996, 1997)

Anomie/Entfremdung-Reaktionen

1993

1996

1997

 

vollkommen wahr

zum Teil wahr

vollkommen wahr

zum Teil wahr

vollkommen wahr

zum Teil wahr

1. Wenn jemand etwas erreichen will, muss gewisse Regeln ignorieren.

38,9

39,0

42,2

37,7

43,9

38,1

2. Ich finde mich im Leben kaum zurecht.

24,7

37,2

17,7

35,1

16,9

34,1

3. Ich kann mein Schicksal nicht steuern.

16,7

40,3

11,3

39,1

11,1

38,7

4. Ich kann mit meinen Sorgen kaum fertig werden.

15,6

35,5

12,1

32,5

11,6

33,7

5. Ich versage oft in wichtigen Sachen.

13,7

33,4

9,9

28,9

10,1

32,4

6. Ich kann meine Probleme nicht lösen.

9,7

42,0

6,9

40,4

8,1

37,3

7. Meine Arbeit macht mir keine Freude.

5,7

17,3

5,2

16,9

4,6

15,0

8. Ich fühle mich oft einsam.

11,8

14,3

11,2

13,6

9,0

13,6

Quellen: MHP 1993; MHP 1996; MHP 1997

 

Die allgemeinen Indikatoren für Anomie zeigen von 1993 bis 1997 eine leichte Entspannung in dieser Hinsicht in der Gesellschaft, aber mit einer deutlichen Ausnahme. Die einzige Fragestellung, die sich in dem erwähnten Themenkomplex abweichend verhält, ist diejenige über die pauschale Akzeptanz von Normenverletzungen.

In jedem der untersuchten Jahre stieg der prozentuale Anteil deren an, die vollkommen oder teilweise mit der Aussage über die „unausweichbaren” Regelverstöße einverstanden sind. Aufgrund der Paneluntersuchungsdaten 1997 stimmten insgesamt 82 Prozent der Ungarn der Behauptung zu, dass man die Normen verletzen muss, um im Leben klarzukommen.

 

Meinungen über die Notwendigkeit von Normenverletzungen nach Geschlecht,
Altersgruppe, Schulbildung und Einkommen – Antworten in Prozent (1997)

Wenn jemand etwas erreichen will, muss gewisse Regeln ignorieren

voll-
kommen wahr

zum Teil wahr

eher nicht wahr

gar nicht wahr

gesamt

N

Geschlecht

Männer

47,2

36,9

9,0

6,9

100,0

1290

Frauen

40,9

39,3

11,0

8,8

100,0

1433

Altersgruppe

6–19 J.

39,4

40,0

11,0

9,6

100,0

202

20–29 J.

43,3

39,6

8,7

8,3

100,0

505

30–39 J.

47,1

40,7

7,2

5,1

100,0

470

40–49 J.

46,9

37,9

10,0

5,2

100,0

513

50–59 J.

50,3

33,2

8,5

7,9

100,0

425

60–69 J.

41,0

36,5

13,7

8,9

100,0

311

über 70 J.

31,9

39,6

14,8

13,9

100,0

297

Schulbildung

0–7 Klassen

38,6

37,3

13,9

10,2

100,0

329

8 Klassen (Grundschule)

43,3

39,0

9,3

8,4

100,0

913

Berufsschule

51,5

33,0

8,8

6,7

100,0

593

Mittelschule

45,7

38,9

9,5

6,0

100,0

589

Universität, Hochschule

33,2

45,3

11,5

10,0

100,0

296

Einkommensgruppe

1. (unterste)

42,0

40,8

9,4

7,8

100,0

450

2.

41,1

41,5

10,2

7,2

100,0

439

3.

41,7

37,4

11,8

9,0

100,0

481

4.

45,0

37,5

8,5

9,0

100,0

497

5. (oberste)

48,8

34,4

10,4

6,4

100,0

475

Quelle: MHP 1997

 

Sehr bemerkenswert sind diese gruppen- und schichtspezifischen Unterschiede bei den Antworten in Bezug auf die „Notwendigkeit” der Regelverstöße. Sie zeigen eine signifikante Abweichung von dem Muster der anderen Antworten. Bei dieser Fragestellung kann nur bei Männern eine höhere Zustimmungsbereitschaft klar festgestellt werden. Weder nach Altersgruppen, noch nach Schulbildung oder Einkommen sind eindeutige Unterschiede unter den jeweils betreffenden Gruppen oder Schichten auszumachen. Wenn überhaupt, dann zeigen vielleicht die „mittleren” Bereiche mäßige Ungleichheiten. Also Menschen mittleren Alters bzw. mit Mittelschulreife neigen eher zur bejahenden Antwort. Nach Einkommensschichten kann man sogar bei den höheren Kategorien einen leichten Anstieg der zustimmenden Antworten registrieren. D.h. die Wohlhabenden sind noch öfter bereit den Regeln zuwiderzuhandeln oder sehen dies als Notwendigkeit zum Erfolg an, als die etwas ärmeren Menschen.

Noch bei dieser Fragestellung bleibend, ziehen wir im Folgenden weitere Umfrageergebnisse heran, um die undeutlichen substantiellen Elemente der unterstellten Notwendigkeit von „Regel”-verletzungen in bestimmten Fällen exemplarisch präzisieren zu können. Diese Daten relativieren etwas die Dramatik der oben angedeuteten Resultate.

Wenn man das anzustrebende Glück als materieller Wohlstand definiert, dann sind 59,4 Prozent der Ungarn mit der Aussage einverstanden, dass (man) „in diesem Land nur unerlicherweise reich werden kann”.94 Falls die Formulierung in der Umfrage: „etwas zu erreichen”, als ein allgemeinerer Ausdruck für die Durchsetzung eigener Gerechtigkeitsvorstellungen interpretiert wird, finden relativ viele Menschen, dass Normenverletzungen eine Notwehrhandlung der „einfachen Leute” darstellen. 48 Prozent der Befragten waren 1997 mit den folgenden Behauptungen einverstanden: „Der Staat und die Arbeitgeber behandeln die einfachen Arbeitnehmer sehr schlecht. Deswegen kann gegen sie jedes Mittel gerecht sein, falls sie es nicht merken.”95

Die Respektierung der geltenden Gesetze und Vorschriften war schon in der späten Phase des staatssozialistischen Systems brüchig. (Vgl. hierzu die Ergebnisse von Umfragen aus den Jahren von 1989 bis 1991, die in der untergehenden Sowjetunion durchgeführt wurden. Denen zufolge hielt über die Hälfteder Menschen es für unmöglich, in der Sowjetunion zu leben, ohne geltende Gesetze zu verstoßen.)96 Die neuen Umwälzungen im Rechtssystem erschwerten offensichtlich bei vielen die Orientierung und diese Situation begünstigt noch mehr die Bereitschaft, gesetzliche Normen außer Acht zu lassen. „Im alten System konnte man sich besser mit den Regeln und Gesetzen zurechtkommen” – war die Meinung 68,5 Prozent der Ungarn im Jahre 1995.97 Dass eine pauschale Abneigung der Menschen gegen die gesetzmäßige Gesellschaftsordnung dennoch nicht unterstellt werden kann, zeigen die Rufe nach dem „starken Mann”, der in der gegenwärtigen Situation Klarheit macht. „Angesichts der Verbreitung der Kriminalität und Korruption in Ungarn könnte nur eine starke Führungspersönlichkeit mit Autorität Ordnung schaffen.” – Dieser Aussage stimmten 1997 76,1 Prozent (also eine deutliche Mehrheit) der Befragten zu.98

Resümieren können wir die hier weiter nicht zitierten Umfrageergebnisse darin, dass die Vertiefungstendenzen einer Anomiekrise, die bis 1990 u.E. charakteristisch waren, aufgrund der neueren Untersuchungen nicht mehr feststellbar sind, obwohl die gesellschaftlichen Reaktionen weiterhin auf die Präsenz ausgeprägter anomischer Zustände hindeuten.

Die anomierelevante Gültigkeit der dargestellten Datenerhebungen an sich schränkt jedoch die Tatsache ein, dass oft nur Werte- und Sinninhalte abgefragt werden und sich die meisten Fragestellungen höchstens indirekt auf die Normebene beziehen. Viele Fragen nach Gefühlen, Perzeptionen, Einstellungen von Personen orientieren sich sehr nach der Anomie-Skala von Srole, d.h. es handelt sich dabei um Anomia.99

Die aus unserer Sicht relevantesten Ergebnisse dieses Themenblocks bleiben diejenigen über die abnehmende Verbindlichkeit der Normen. Es wäre aber vorschnell zu behaupten, dass aufgrund dieser Daten etwa 80 oder 60 Prozent der erwachsenen Ungarn tatsächlich Normenverletzungen begehen. Vor allem ist es meist nicht klar, an welche Regelverstöße genau bei den einschlägigen Antworten gedacht wurde. Es kann aber festgestellt werden, dass im Bewusstsein der gesellschaftlichen Mehrheit – zubilligend oder missbilligend – Normenverletzung und Erfolg im sozialen Leben miteinander verkoppelt existieren. Dies deutet allerdings auf eine massive anomische Normenkrise in der Gesellschaft.

 

„Selektive” Anomie

Aufgrund weiterer Forschungsergebnisse, die der Verfasser z.T. durch eine kleine Feldforschung in Budapest erzielte, können soziale Unterschiede aus anomietheoretischer Sicht weiter vertieft werden. Während unter der kommunistischen Diktatur praktisch jedes Mitglied der Gesellschaft von einer „institutionalisierten” Anomie betroffen war, kann – aufgrund der einschlägigen Reaktionsmuster – seit der demokratischen Wende verstärkt eine „selektive” Betroffenheit durch Anomie beobachtet werden. Zahlreiche Indikatoren sprechen dafür, dass vor allem der sozioökonomische Status der Gesellschaftsmitglieder eine trennende Rolle dabei spielt.

Es kann hier in anomietheoretischer Hinsicht auf die unterschiedliche Anpassungsfähigkeit einzelner sozialer Gruppen hingewiesen werden. Während der achtziger Jahre konnten sich noch breite gesellschaftliche Schichten an die Optionen des liberalisierten „Gulasch-Kommunismus” anpassen, Anfang der 90er Jahre konnten dagegen nur relativ Wenige den Bedingungen des „Wildkapitalismus” schnell und erfolgreich entsprechen.100 Die gegenwärtigen Veränderungen in der Sozialstruktur und die weitere Polarisierung in der Gesellschaft, bzw. die Vergrößerung der gesellschaftlichen Ungleichheiten bedeuten gleichsam, dass soziale Gruppen und Schichten zunehmend unterschiedlich über soziale Ressourcen verfügen können.101

Es wird beobachtet, dass Erscheinungen anomischer Orientierungslosigkeit häufiger unter Frauen, in sozialen Gruppen mit niedrigem oder ohne Schulabschluss, und in den armen Schichten (Arbeitslose, Rentner, Unselbständige) auftreten, die früher grundsätzlich von gesicherten Leistungen des Sozialstaates lebten.102

 

Schlussfolgerungen

Im Hinblick auf die seit den siebziger Jahren besonders stark hervorgetretenen anomischen Tendenzen in der ungarischen Gesellschaft bildete die demokratische Wende offensichtlich eine Zäsur. Es wäre aber übertrieben, über eine „Welle” der Anomie zu sprechen, weil es sich dabei offensichtlich um sukzessive und selektive Veränderungen handelt.

Aus den Ergebnissen der repräsentativen Befragungen sowie aus den Kennzahlen der indirekten Anomieindikatoren kann man entnehmen, dass mindestens eine Seite der von der Diktatur institutionalisierten Anomie, nämlich die Komponente des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht unter den demokratischen Verhältnissen allgemein zurückwich. (Entsprechend kann z.B. der Rückgang der Selbstmordrate seit 1988–89 als ein Indikator für diese Tendenzwende interpretiert werden.) Von einer Vertiefung der „akuten” Anomiekrise, die vor der Wende noch charakteristisch war, kann aufgrund dieser Beobachtungen nicht mehr die Rede sein.

Die eher selektiv auftretenden Symptome der normativen Orientierungslosigkeit und des sozialen Stresses können gegenwärtig darauf hindeuten, dass der Verlust der angewöhnten institutionell-normativen Rahmenbedingungen des Lebens im späten Staatssozialismus schwierig zu verkraften ist. Es resultiert daraus, dass die gesellschaftliche Mehrheit sich weitgehend dem paternalistisch-liberalisierten System und seinen bereits vertraut-widersprüchlichen Werte- und Normenstrukturen angepasst hat.

Dieses weiterlebende Einstellungsmuster begleitete die politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen und trug dazu bei, dass parallel zu der Etablierung der neuen, demokratischen Verhältnisse kein erfassbar neues und konsequentes Werte- und Normensystem entstand, das allgemein akzeptabel wäre.

Es kann weiterhin einen altbekannten „Konsens” zwischen Politik und Gesellschaft wahrgenommen werden. Obwohl illegale Machenschaften in Regierungskreisen und eindeutig auf die Privatinteressen der Machtelite zurückzuführende politische Entscheidungen geschehen, verhält sich die öffentliche Meinung in diesen Angelegenheiten auffallend passiv. Es ist unschwer zu erkennen, dass dieses Verhalten bei vielen Menschen als Ermutigung zur Missachtung geschriebener und moralischer Normen verstanden wird. Dadurch verfestigen sich die bereits unter dem Kádárismus entstandenen anomischen Formen dominierender Lebensstrategien.

Die Tatsache, dass eine „chronische” soziale Anomie in der Demokratie weiterlebt, widerspiegelt sich auch in den Meinungsumfrageergebnissen. Die hohe gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter Devianzformen bzw. die Diskrepanz zwischen der nominell vorhandenen normativen Rigorosität und dem niedrigen Geltungsgrad vieler dieser Normen deuten unmissverständlich auf anomische Normeninkonsistenz.

Nach der demokratischen Wende blüht ein „Wildkapitalismus” auf der makrosozialen Ebene mit all seinen antisozialen, desintegrativen Aspekten, auf der Mikroebene etablieren sich jedoch neben den traditionellen primären Beziehungsgeflechten Initiativen, die mit der Herausbildung von neuen, sozialintegrativen Werten und Normen unter den pluralistischen Verhältnissen angefangen haben. Auch die dazu gehörenden sozialen Institutionen werden langsam aufgebaut. Dominant bleiben allerdings die egoistisch/individualisierten Tendenzen und Einstellungen bzw. gewisse antisoziale Verhaltensweisen, als Indikatoren für die Strukturschwächen der Gesellschaft.

Die Überwindung der Anomie im Sinne von Durkheim wäre durch die Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Integration möglich, wenn die gut funktionierende normative Ordnung der Gesellschaft organisch hergestellt werden könnte. Bis heute sind noch in der ungarischen Gesellschaft die für den Kádárismus typischen normativen Mischlagen dominierend. Eine paradoxe, aber scheinbar stabile Konstellation ist in dieser Situation, dass in der Gesellschaft zu der Zeit der intendierten Verfestigung von Strukturen demokratisch regulierter bzw. selbstregulierender Systeme an den anomischen Formen der Denk- und Handlungsweisen festgehalten wird.

 

Anmerkungen

1

Vgl. in Bezug auf die ersten Reaktionen und Analogien: Holtmann 1991; Misztal 1992, 1993; Szelényi u.a. 1993; Symposium - Eastern Europe 1995

2

Vgl. Balla 1994, 1995; Merkel 1994; Clausen 1994

3

Im Überblick: Reissig 1994; Kollmorgen 1994

4

Vgl. Przeworski 1990

5

Vgl. Waldrauch 1994: 441ff.

6

Ash 1992

7

L. Bruszt führte für diesen Vorgang den populär gewordenen Terminus „ausgehandelte Revolution” ein. (Bruszt 1990)

8

Im internationalen Vergleich: Steenberg 1992; Gabanyi 1997

9

In dieser Hinsicht weisen die ostmitteleuropäischen Gesellschaften ähnliche Symptome auf: Korbonski 1992

10

Vgl. Havel 1991

11

Die Forschungsergebnisse eines der ersten (politikwissenschaftlichen) internationalen Projektes zeigen sehr prägnant die Notwendigkeit dieser Distinktion: Gerlich/Plasser/Ulram 1992.

12

Vgl. v.a. Waldmann 1995a

13

Aus modernisierungstheoretischer Sicht bieten gute Überblicke über die einschlägigen Transformationsprozesse in Osteuropa bzw. in Ungarn: Müller 1992, 1995; Andorka 1995a

14

Besonders kritisch über die effektive Verkoppelung der beiden Prozesse: Weintraub 1992

15

Segert/Machos 1995: 45

16

Vgl. über die Hintergründe und Auswirkungen der verschiedenen wirtschaftspolitischen Strategien: Juchler 1994

17

Über die ersten gesellschaftlichen Reaktionen in Ungarn: Bánfalvy 1991

18

MHP 1993 (vgl. Fn. 90)

19

Vgl. Nagy I. 1992

20

Über diese gesellschaftliche Perzeption statt vieler: Györi 1990; Szalai 1990; Ferge 1991, 1992

21

Koenen 1992; Lengyel 1993; Kurtán 1994

22

Vgl. Csepeli/Örkény 1991

23

Simon 1992, 1995

24

Vgl. Kreutz o.J.: 575ff. (Analyse der Ereignisse aufgrund teilnehmender Beobachtung)

25

Glatz 1995: 790f.

26

Der Spiegel 23. Mai 1994 (Nr. 21/1994)

27

Zitiert von A. Baring in: FAZ 28. Februar 1996 (Nr. 50): 9

28

Vgl. FAZ-Bericht vom 25. Januar 1993 (Nr. 20)

29

Über die „Psychologie” der MSZP vgl. Marosán 1994

30

Winderl 1994a, 1994b; Kolankiewicz 1994 – Eine distanzierte Haltung gegenüber der Zirkulation der post-kommunistischen Eliten vertreten: Szelényi/Szelényi 1993

31

Allgemein über die sich wandelnden politische Kultur in Osteuropa vgl. weiter: Kéri 1993; Beyme 1994

32

Experteninterview mit dem Politologen B. Pokol am 4. September 1995 (Pokol unterstrich die Dominanz der regierungsnahen linksliberalen Journalisten in den Medien.)

33

Kulcsár 1993

34

Auf die hemmende Wirkung der laxen Regelungen besonders in dem ökonomischen Bereich wird hingewiesen: Tarr 1993; Stalev 1993; Papanek/Reviczky 1998

35

In einer populären Radiosendung wurde etwa die Frage diskutiert, ob es in Ungarn Rechtssicherheit gibt. Verschiedene Anomalien wurden dabei von den Gebieten des Zivil- und Strafrechts dargestellt. Im Wesentlichen wurde festgestellt, dass Gerichtsbeschlüsse oft nicht umgesetzt werden können, weil es an eindeutigen Durchführungsbestimmungen mangelt und die verschiedenen Instanzen widersprüchlich handeln. Diese Situationen verleiten die Benachteiligten „zwangsläufig” zu illegalen Aktionen und zur Selbstjustiz. (Kossuth Rádió, Budapest; die Sendung wurde am 11. August 1998 ausgestrahlt.)

36

Z.B. Zalai Hírlap 5. April 1995 (Nr. 80); Népszava 10. Dezember 1997 (Nr. 288); Magyar Nemzet 7. Februar 1998 (Nr. 32)

37

Vgl. das ähnliche Phänomen in Argentinien: Waldmann 1995b: 225f.

38

Vgl. Gyõri 1990

39

Ausgewählte Presseberichte über Vandalismus und Sachbeschädigung auf öffentlichen Plätzen: Magyar Nemzet 5. November 1997 (Nr. 258); Zalai Hírlap 22. November 1997 (Nr. 274); Zalai Hírlap 9. Dezember 1997 (Nr. 288); Zalai Hírlap 22. Januar 1998 (Nr. 18)

40

Ausgewähltes Pressematerial: Zalai Hírlap 16. Dezember 1997 (Nr. 293); Magyar Nemzet 9. April 1998 (Nr. 84); Magyar Nemzet 11. April 1998 (Nr. 86)

41

Harcsa/Kovách/Szelényi 1995

42

Magyar Nemzet 2. März 1998 (Nr. 51)

43

Aufgrund einer internationalen Studie über die Verbreitung der Korruption wird die Situation in Ungarn als „mittelmäßig” eingestuft. (Magyar Nemzet 29. Januar 1999 [Nr. 24])

44

Z.B. Zollbeamten lassen sich gern bestechen; falls es trotz ihrer Erwartung nicht erfolgt, lassen sie als „Rache” die Zollabfertigung stillegen. (Gespräch mit dem Jungunternehmer T.O., Budapest 30. April 1996)

45

Zalai Hírlap 25. Februar 1998 (Nr. 47)

46

Népszava 24. Januar 1998 (Nr. 20)

47

Zalai Hírlap 28. August 1996 (Nr. 200): 6

48

Ein österreichisches Meinungsforschungsinstitut führte 1997 eine Untersuchung durch, wobei auch die Einkommensverhältnisse in vier post-kommunistischen Ländern (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) thematisiert wurden. Ergebnis: die Ungarn haben über das niedrigste durchschnittliche Einkommen berichtet, was aufgrund makroökonomischer Statistiken einfach als unrealistisch einzustufen ist. (Világgazdaság 29. Januar 1998 [Nr. 24])

49

Magyar Nemzet 31. August 1996 (Nr. 203)

50

Lengyel 1992: 249ff.

51

Presseberichte: Magyar Nemzet 25. Februar 1998 (Nr. 47); Magyar Nemzet 20. Mai 1998 (Nr. 117); Magyar Nemzet 16. Januar 1999 (Nr. 13)

52

Allgemein informierende Werke: Kolozsi 1992; Münnich/Moksony 1994

53

Die Bezeichnung stammt von Kolozsi (1990).

54

Moksony 1995; vgl. Frank 1995

55

Vgl. István/Benda 1990: 46f. - Diesbezüglich gab es auch konkrete Fälle, wie etwa die Selbstverbrennung eines Budapester Taxifahrers vor dem Parlamentsgebäude, der - laut seines Abschiedsbriefes - wegen seiner finanziellen Sorgen zu dieser Verzweiflungstat „gezwungen” war. (NZZ 2. April 1992)

56

Vgl. Magyar Nemzet 5. März 1998 (Nr. 54) - Interview mit M. Kopp, der Direktorin des Instituts für Verhaltensforschung, Budapest

57

Fekete/Simek 1993; vgl. Népszava 15. November 1997 (Nr. 267)

58

Kopp/Skrabski 1992; Andorka 1994

59

Magyar Nemzet 30. Mai 1998 (Nr. 126)

60

Kopp u.a. 1996: 90ff.; vgl. Kopp/Skrabski o.J. [1996]

61

Vgl. Elekes/Paksi 1996

62

Új Magyarország 21 Oktober 1997 (Nr. 245)

63

Enyedi u.a. 1991; Korinek 1993; Gönczöl 1994; vgl. noch Kube 1993

64

Leitende Polizeibeamte müssen sich diesbezüglich regelmäßig zur Rede und Antwort stellen, was früher nicht üblich war: z.B. Zalai Hírlap 27. April 1998 (Nr. 98); Magyar Nemzet 20. Juli 1998 (Nr. 168); Magyar Nemzet 25. Juli 1998 (Nr. 173); Magyar Nemzet 30. Juli 1998 (Nr. 177)

65

Népszava 13. Dezember 1997 (Nr. 291); Magyar Nemzet 4. April 1998 (Nr. 80)

66

Ausgewählte Presseberichte: Magyar Nemzet 25. März 1998 (Nr. 71); Magyar Nemzet 26. März 1998 (Nr. 72); Magyar Nemzet 7. April 1998 (Nr. 82)

67

Dános 1995

68

Vgl. Sajó 1990a

69

Münnich/Moksony 1994: 17ff.; Jahresbericht 1997 des Obersten Staatsanwaltes, zit. in: Zalai Hírlap 20. Juli 1998 (Nr. 168): 2

70

Ausgewählte Presseberichte: SZ 28/29. August 1993 (Nr. 198); Magyar Nemzet 11. Juli 1998 (Nr. 161); Magyar Nemzet 4. August 1998 (Nr. 181)

71

Z.B. Magyar Nemzet 14. Februar 1998 (Nr. 38) - die Ermordung eines ungarischen Medienmoguls; Magyar Nemzet 9. Mai 1998 (Nr. 108) - Bombenattentat gegen einen „Unternehmer”, mehrere unschuldige Opfer in der Budapester Innenstadt

72

Lehmann 1992; Irk 1995

73

Vgl. Levendel 1992 (Antisemitismus); Oschlies 1992 (Rechtsradikalismus)

74

Lázár 1994; vgl. Marián 1994

75

In den ungarischen Filmen erscheinen die Prostituierten Anfang der neunziger Jahre des Öfteren als Opfer des „wilden” Kapitalismus: Biró 1990; Dániel 1990

76

Demokrata 19. September 1996 (Nr. 96/38)

77

Interview mit dem Sozialexperten T. Pordány am 9. Juni 1995

78

Ausgewählte Presseberichte: Magyar Nemzet 15. Mai 1998 (Nr. 113); Magyar Nemzet 12. September 1998 (Nr. 214); Zalai Hírlap 16. Oktober 1998 (Nr. 243)

79

Vgl. Zalai Hírlap 23. Januar 1998 (Nr. 19); Magyar Nemzet 12. Februar 1998 (Nr. 36)

80

Elekes 1992; Agócs/Agócs 1993/94: 77ff.; vgl. FAZ 29. Dezember 1993 (Nr. 302)

81

Népszava 15. November 1997 (Nr. 267); Magyar Nemzet 25. Februar 1998 (Nr. 47); Zalai Hírlap 18. April 1998 (Nr. 91)

82

Magyar Nemzet 7. Februar 1998 (Nr. 32)

83

Alle Angaben: Zalai Hírlap 8. Oktober 1997 (Nr. 235)

84

Magyar Nemzet 28. Dezember 1998 (Nr. 302)

85

Statt vieler Handbücher: Haack 1991; Hummel 1994; Hemminger 1995

86

Vgl. Ramet 1991: 133ff.

87

Mezei 1994 (mit Auswahlbibliographie über die wichtigsten Sekten und religiösen Sondergruppen in Ungarn)

88

Vgl. Gál 1992; Glauben ohne Kirche 1995

89

Vgl. Waldenfels 1992

90

Die wichtigsten Datenerhebungen sind die Ungarischen Haushalts-Paneluntersuchungen (N = 2.000 Haushalte), die von 1992 bis 1997 vom TÁRKI (Sozialwissenschaftlichen Informatikverein, Budapest) durchgeführt wurden. Diese landesweite, viele gesellschaftliche Themenbereiche umfassende Untersuchungsreihe wurde anhand von Standardfragebogen jährlich verwirklicht und beinhaltete auch anomiebezogene Fragestellungen. (1-6. Welle = MHP 1992-1997)
Wertvolle Erhebungsdaten und direkte Hinweise auf neuere Umfrageergebnisse enthalten d.w. zwei landesweite repräsentative Umfragen, die von G. Felkai und I. Fábri im Laufe des Jahres 1997 durchgeführt wurden und direkte Fragen in Bezug auf Wert- und Norminkonsistenz beinhalten. Die Umfragen wurden im Auftrag des privaten Forschungsinstituts „Jelenkor Társadalomkutató BT” im April 1997 (N = 750) bzw. im Mai 1997 (N = 1.000) durchgeführt. (= Felkai/Fábri 4/1997; Felkai/Fábri 5/1997)
Wir verfügen ebenfalls über Daten einer weiteren unpublizierten Umfrage (N= 1.500), die von A. Kovács im Soziologischen Institut der Budapester ELTE Universität im März 1995 erhoben wurde. (= Kovács 3/1995)
Einige der erwähnten Umfrageergebnisse wurden bereits publiziert in: Felkai 1997.

91

Vgl. z.B. Erdősi 1990; Sajó 1990b

92

Vgl. Glatzer 1984

93

Sajó 1990b (über den Selbstmord und Alkoholismus in den achtziger Jahren)

94

Kovács 3/1995

95

Felkai/Fábri 4/1997

96

Lewada 1992: 336

97

Kovács 3/1995

98

Felkai/Fábri 4/1997 - Diese Meinung ist aufgrund weiterer Daten mit einem starken Privatismus verbunden, mit dem Wunsch nach „stillem, ruhigem Familienleben”. (Felkai 1997: 115)

99

Vgl. Lamnek 1993: 117ff.

100

Vgl. Andorka 1992; Kolosi/Róbert 1992

101

Róbert 1994; Róbert/Fábián 1995; Andorka 1996; Szelényi 1996

102

Vgl. die entsprechenden Angaben bei: Arts/Hermkens/Wijck 1995; Andorka 1995b; Neményi 1996; Andorka 1996

 

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Winderl, Thomas: Elitenwechsel in Osteuropa. Versuch einer Typologie, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1994 (23), H. 4.: 381–393. (1994a)

Winderl, Thomas: Machteliten im Systemwechsel. Über Wandel und Kontinuität osteuropäischer Eliten, in: Südosteuropa 1994 (43), H. 11–12.: 613–627. (1994b)

 

Der Autor ist Tutor der Stipendiaten des Europa Institutes Budapest.