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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 15:209–218.

MÁRTA FONT

Ungarn und die Kiewer Rus’ um 1000

 

Die Nachbarin Ungarns im Nordosten war die Kiewer Rus’. Kiew am Ufer des Flusses Dnjepr war das Zentrum des frühen Staatsgebietes, das sich in diesem Raum als erstes etablierte. Die Kontinuität ist aber nur teilweise vorhanden. Einerseits, weil die heutige Gliederung der Ostslawen zur Zeit der Errichtung der Kiewer Rus noch nicht existierte, anderseits, weil außer den Ostslawen die Waräg-Russen, kleinere baltische und finnische Gruppen und im Süden die Steppennomaden zu den staatsbildenden Ethnien der Rus’ gehörten.

Der Beginn der Staatlichkeit ist in der ungarischen Geschichtsschreibung mit dem Jahr 1000, der Krönung vom Hl. Stephan I. verbunden, obwohl niemand daran Zweifel hegt, dass die ersten Schritte der Organisierung des Staates Großfürst Géza tat, in dem er zu Ostern 973 Gesandte zu Kaiser Otto nach Quedlinburg schickte. Anschließend hat er die christliche Bekehrungsmission gefördert, und die vom Westen gekommenen Missionare unterstützt.1

In den Siedlungsgebieten der Ostslawen hat sich dies anders gestaltet. Die Slawen waren nicht mobile Nomaden, sondern eine bereits angesiedelte Bevölkerung, die sich mit Landwirtschaft beschäftigte; ihre einzelnen Gruppen fielen von Zeit zu Zeit den benachbarten Nomaden zum Opfer: Sie wurden weggeschleppt, als Sklaven angestellt oder verkauft. Zur Entstehung des Staates mangelte es in dieser Landwirtschaftsbevölkerung an der „Komponente”, die die Differenzierung des Staates beschleunigt, die Vermögensunterschiede erheblich erhöht und dadurch die Institutionalisierung der Stammesrahmen fördert. Für die noch nicht differenzierten Ostslawen des 9.–10. Jahrhunderts gewährleisteten die zur Mobilisierung der Gesellschaft erforderlichen Impulse nicht nur die von der Steppe aufgetauchten Nomaden sondern auch die vom Norden gekommenen Normannen-Waräger.2

Die spontane Migration der Slawen wurde von den einzelnen Wellen der Völkerwanderung bedeutend verstärkt, namentlich hat der Drang der Hunnen und der Awaren nach Westen dazu beigetragen, dass die Slawen sich relativ schnell verstreut haben bzw. das war eine der Begleiterscheinungen der Völkerwanderung. Was die Ostslawen anbelangt, ist zu betonen, dass die Nomaden der Steppe mit ihnen ständig südlich benachbart waren: Nach den Awaren die Onoguren, die Chasaren, die Ungarn, die Petschenegen, und schließlich nach der Jahrtausendwende die Kumanen und die Mongolen. Meines Erachtens haben die vom Norden kommenden Normannen, die Waräger der altrussischen Quellen an der Differenzierung der Urgesellschaft der Ostslawen bedeutenderen Anteil, als die Nomaden der Steppe. Ihre Rolle könnte aus dem Grunde wichtiger gewesen sein, weil sie sie einerseits besteuert hatten, andererseits aber ihre Siedlungen unter den slawischen Wohnorten auftauchten, was die slawische Stammesschicht unmittelbar berührte. Die Gefolgschaften der Fürsten haben sowohl die warägischen als auch die slawischen Elemente aufgenommen, so wurden die Gefolgschaften zum Mittel der Assimilation. Für die warägische und slawische Führungsschicht schuf die Gefährdung seitens der Chasaren einen gemeinsamen Interessenkreis. Die Slawen sind wegen der Tributzahlung, die Waräger aber wegen der Gefährdung ihrer Handelsinteressen gegen die Chasaren aufgestanden. Die Kontrolle der Wasserstraßen war für die Waräger eine grundlegende Frage, sie hatten ja dazu die Mittel: die bewaffnete Gefolgschaft. Die Waräger, die mit ihrer Anzahl den Slawen unterlegen waren, haben durch ihren Einfluss auf sie die Entstehung einer neueren, mobilen politischen Formation ermöglicht.3

Wie bereits erwähnt wurde, können die Anfänge der ungarischen Staatlichkeit am Ende des 10. Jahrhunderts an den Großfürsten Géza geknüpft werden. Die frühere Geschichtsschreibung datiert die Staatlichkeit der Kiewer Rus’ auf früher, sie wird wohl mit dem Fürsten Oleg verbunden, der 882 von Nowgorod auf dem Dnjepr kommend Kiew eroberte, und sich auch im Süden behauptete.4 Andere, wie z. B. G. Stökl sind der Meinung, dass Oleg nichts anderes tat, als die Wasserstraße des Dnieper unter seine Kontrolle zu ziehen,5 die auch laut der Povest’ vremennyh let („Erzählung der vergangenen Jahre” – im weiteren: PVL) in dieser Richtung führte. Darüber hinaus hat er nur die Region besteuert, was auch die anderen Steppennomaden im Süden trieben. Die Tätigkeit der nach ihm kommenden Fürsten konzentrierte sich auf die Vermehrung der Tributzahler, d. h., sie haben die ostslawischen Stämme unterworfen, die in der Region den Chasaren Tribut zahlten, wodurch die Grenzen ihrer Machtsphäre verbreitet wurden. Die ersten Spuren der Staatsbildung sind zu Wladimirs Zeiten (978–1015) zu beobachten, die meines Erachtens ebenso mit der Christianisierung in Zusammenhang stehen, wie beim ungarischen Stammesverband.

Die organisierte Bekehrung hatte auf beiden Seiten Vorereignisse. Unter den Ungarn gibt es Spuren der byzantinischen Mission von der Mitte des 10. Jahrhunderts.6 953 wurde in Byzanz der Mönch namens Hierotheos zum Bischof von Turkien eingeweiht. Sein Tätigkeitsfeld war in Siebenbürgen, auf den Siedlungsgebieten des Gyula. Vor seiner Einweihung wurde der Gyula in Byzanz getauft. In diesem Stamm kann man noch außer der Bekehrung des Stammeshauptes und seiner Familie mit der Taufe der Gefolgschaft rechnen. Von einer seiner Töchter weiß man gewiss, dass sie bereits eine Christin war. Sie wurde nämlich die Frau von Géza, dem Haupt der Arpaden, und war zumal die Mutter von König Stephan, deshalb berichten die zeitgenössischen Quellen über sie ausführlicher.7 Man kennt die politischen Folgen des Auftauchens von Hierotheos: der Gyula hat keinen Raubfeldzug gegen Byzanz geführt. Über die kirchlichen Aspekte seiner Tätigkeit haben wir nur mittelbare Angaben: der Schutzheilige des Bistums Siebenbürgen wurde der Heilige Michael. Die byzantinische Bekehrung war vor der Einsiedlung der Ungarn von der mährischen Mission präsent. Mit der Erscheinung der Ungarn wurde die byzantinische Mission vorübergehend in den Hintergrund gedrängt, aber zu Mitte des 10. Jahrhunderts war sie auch da wiederbelebt. Aufgrund des Werks von Konstantinos Porphyrogennetos, des De administrando imperio haben sich 948 Termatschu, der dem Geschlecht der Arpaden angehörte, sowohl Bultschu, der Dritte in der Hierarchie des ungarischen Stammverbandes (kharkhas oder horka) war, in Byzanz bekehrt. Termatschu und Bultschu erwarben sich auch den ehrenden Titel, sie wurden Freund des Kaisers.8

Im Westlichen Karpatenbecken war die von den Ungarn dort gefundene slawische Bevölkerung bereits im 9. Jahrhundert christlich; darauf weisen die Conversio Baiuvariorum et Caranthanorum hin.9 Der Passauer Bischof kämpfte um die kirchliche Gerichtsbarkeit mit dem Erzbischof zu Salzburg im 10. Jahrhundert, der für seinen Sieg selbst Urkundenfälschung einsetzte. Das Rivalisieren der beiden Diözesen endete nach der Gründung der selbstständigen ungarischen Diözese im Jahre 1000. Gézas Gesandte nach Quedlinburg im Jahre 973 und die danach eintreffenden Missionen verursachten die Schwächung der früheren byzantinischen Bekehrung. Die westliche Mission10 kam von Sankt Gallen, unter der Führung von Bruno, der selbst Géza und seine Familie taufte. Über Brunos Tätigkeit sind nur sehr schwache Spuren zu finden, teils deshalb, weil seine Person mit dem späteren Bischof gleichen Namens verwechselt wurde, teils aber aus dem Grunde, weil ihm nach kurzer Zeit die Missionare, Pilgrims des Bischofs von Passau, folgten. In den 90er Jahren des 10. Jahrhunderts ist auch der Prager Hl. Adalbert nach Ungarn gekommen. Später haben seine Jünglinge, besonders der Erzbischof Anastas, Adalberts Rolle zu Kosten der anderen vergrößert. In Pannonien haben die vom Westen kommenden Missionare auch einen örtlichen Kult gefunden, den des in Savaria (Steinamanger) geborenen Heiligen Martins, auf dem man während der Bekehrung basieren konnte. Der Großfürst Géza konnte oder wollte mit dem Heidnischen nicht endgültig abrechnen. „Ich bin genug reich, zwei Herren zu dienen” – ließ ihn der Chronist, der Merseburger Thietmar sagen. Der Großfürst Géza vertritt den Übergang aus dem Alten ins Neue. Während seiner Herrschaft wurde nämlich die erste Steinkirche in Gran errichtet, deren Schutzheiliger der inzwischen Märtyrer gewordene Hl. Adalbert wurde. Géza hat seinen Sohn, Stephan in christlichem Geiste erziehen lassen, und es kann mit ihm eine berühmte Kirchenstiftung, die der Abtei zu Martinsberg in Verbindung gebracht werden.11

Die ersten Spuren der Christianisierung der Kiewer Rus’12 stammen aus einem Brief des Photios aus 866/67. Er hat die östlichen Patriarchen im Frühling 867 nach Konstantinopel zum Konzil einberufen. In diesem Brief werden die Erfolge der Mission unter den Russen und Bulgaren erwähnt. L. Müller meint, dass die byzantinische Bekehrung unter den Russen gleichzeitig mit der mährischen begann, und der Überfall der Russen auf Byzanz fasst er als terminus post quem auf. Das sei die erste Bekehrung der Russen, wie es Vlasto und Müller meinen.13 Meines Erachtens soll da lieber Vodoff recht gegeben werden, dessen Ansichten nach dies nicht die Bekehrung der slawisch-warägischen Gruppe, sondern einer am Schwarzen Meer ansässigen warägischen Gruppe bedeutet haben soll.14 Diesen Standpunkt unterstützt, dass um 860 Byzanz seine unmittelbaren Nachbarn, die Mähren, Bulgaren und Chasaren annähern wollte. In diese Reihe gehören die warägischen Gruppen am Schwarzen Meer auch, über die ein arabischer Chronist überlieferte, dass ihr Land eine Insel im Meer sei.15 Ein anderes Indiz dafür, dass die Kiewer Rus’ als Stammesverband vor 882 nicht bestand, und Byzanz sich mit fernen, kleinen ethnischen Gruppen nicht abgab.

An die Kiewer christlichen Traditionen knüpft sich die Überlieferung, die über die Taufe der Fürstin Olga berichtet. Olga war in Byzanz (947 oder 957), worüber Konstantinos Porphyrogennetos in seinem Werk De Ceremoniis schreibt. Olga konnte eventuell bereits als Christin in die Stadt angekommen sein, weil ihr dem Kaiser gemäß besondere Aufmerksamkeit beigemessen wurde.16 Zwischen dem Kaiser und der Fürstin soll eine Art Konflikt entstanden sein, das die PVL sehr bunt fabelhaft vorträgt, und gibt den Grund in der Ablehnung des Heiratsangebots des Kaisers an. Was die Tatsache angeht, davon erfahren wir vom Continuator Reginonis: Nach ihrer Rückkehr nach Kiew hat Olga Gesandte zu Kaiser Otto geschickt.17 Darauf hat 959 der Erzbischof zu Hamburg Libutius, den Mönch des Klosters des Heiligen Alban zum Bischof von Rus’ ernannt. Libutius ist noch vor seinem Aufbruch verstorben. Statt ihm wurde ein Mönch namens Adalbert hin gesandt, der tatsächlich bis Kiew gelangte aber nach einem kurzen dortigen Aufenthalt zurückkehrte. Es ist nicht bekannt, ob seine Reise ein Ergebnis nach sich gezogen hätte. Es ist allerdings bemerkenswert, dass Kiew in den Interessenkreis der westlichen Kirche fiel.

Zurzeit Wladimirs18 mussten wieder die ersten Schritte hinsichtlich der Bekehrung getan werden. Wladimir wurde dem Kaiserhof verwandt, dessen Voraussetzung die persönliche Taufe gewesen sein soll. Er hat entschlossener Maßnahmen getroffen als seine Vorgänger: z. B. Massentaufen in den größeren Siedlungen, Aufbau der sog. Zehntenkirche sowie die Überlassung der Zehnten der fürstlichen Einnahmen der Kirche, usw. Wladimir war der erste, der Kirchen bauen ließ und für sie auch die finanzielle Versorgung schuf. Man kann vermuten, dass Wladimir samt seiner Familie und der Gefolgschaft „Scheinchrist” oder Halbheide blieb. Seine heidnischen Gewohnheiten und die Polygamie hat er jedenfalls aufrechterhalten. Den Namen Wasilij, den er in der Taufe erhielt, hat er nicht ausschließlich gebraucht. Er hat in den Jahren nach der Jahrtausendwende der Tätigkeit des Brunos von Querfurt grünes Licht gegeben, d.h., er verschloss sich vor den westlichen Missionaren ebenso nicht.19 Schließlich ergibt sich für mich das Ergebnis, dass die Kirchenorganisierung Wladimirs im Wesentlichen der von Géza entspricht. Wladimir ist ebenso der Mensch des Überganges, wie Géza in Ungarn.

Der Aufbau der Kirchenorganisation erfolgte nicht gesondert, sondern parallel zu den weltlichen Institutionen. Ich halte für einen wesentlichen Unterschied, dass nach der Krönung von Stephan in Ungarn die Bekehrungsmission und die Kirchenhierarchie qualitativ umgestaltet wurde. Die Krönung hat die kirchliche Bestätigung zur weltlichen Machtausübung des Herrschers garantiert, sie hat ihn vom Kreise der Stammesbindungen ausgehoben und Dei gratia hat seine Taten bewilligt. Die römische Kirche hat sie auch in Gesten ausgedrückt (vgl. dazu die Legitimationskraft der Kronensendung und der Krönung, durch die der Herrscher den anderen Vornehmen überlegen wurde).20 In der Kiewer Rus’ könnte nach der Übernahme der byzantinischen Praxis ebenso erwartet werden, dass der Großfürst sowohl in weltlichen, als auch in kirchlichen Angelegenheiten frei handeln kann. Teils ist dies nicht erfolgt, weil die Kiewer Kirche nicht autokephal war, sondern dem Patriarchen zu Konstantinopel untergeordnet wurde. Dem Patriarchen oblag auch die Ernennung der Bischöfe, die Mehrheit der Bischöfe der Rus’ war vor dem Mongolensturm griechischer Abstammung.

Der Mangel der Krone bzw. der Krönung hatte – meiner Meinung nach – innenpolitische Folgen. Es gab keine Zeremonie, die die Macht der Kiewer Fürsten als Dei gratia aufgefasst hätte. Die Maßnahmen der Kiewer Fürsten wurden mit kirchlichen Mitteln, mit der Legitimation nicht unterstützt. Der Akt des Fürstenwerdens ist die Inthronisierung, die gemäß den Letopisen so erfolgte: „Er zog nach Kiew, ging in die Kirche der Hl. Sophia hinein und besetzte den Thron seines Vaters und Großvaters.”21

Die Einheit der weltlichen Verwaltung wurde das königliche Komitat (comitatus).22 An der Spitze der Komitate stand der comes, der vom König bestellte Amtsträger. Von den ersten comites kennen wir nicht viele, aber von den uns Bekannten weiß man, dass sie homines novi auf dem Königshof waren, d. h. Fremde, oder seine Verwandten, die ganz und gar seine Führungsrolle hinnahmen. Zum ersten Beispiel sollen die mit Gizella angekommenen Hont und Pázmány, fürs zweite Aba Sámuel, Doboka und Csanád genannt werden. Man kann auch mit Personen niedrigerer Herkunft rechnen, wie z. B. der bis dahin unbekannte Comes Szolnok. Der Sitz des comes befand sich in den Burgen, um die herum milites, bzw. iobagiones castri angesiedelt worden sind, und die von den vulgares und servi (Gemeinen und Sklawen) bedient worden sind. Die grenznahen Burgen erhielten eine Sonderrolle, in diesen dienten Wächter (speculatores) und Schützen (sagittarii). Aus den Zeiten von Stephan kennt man keine Quellen, die uns die Pläne des Königs und seiner Ratgeber näher brächten.

In der Kiewer Rus’ sieht man bei der Organisierung der weltlichen Macht wesentliche Abweichungen. Die Großfürsten von Kiew haben die einzelnen Teile der Rus’ hinsichtlich der Besteuerung gesondert behandelt. Die Kiewer Großfürsten, die sich auf den Stamm der Poljanen und die warägische Gefolgschaft lehnten, haben ihre Macht über den Ostslawen durch die Besteuerung ausgeübt. Von Oleg bis Wladimir sieht man darüber hinaus keine Vereinigungsversuche. Diese Art der Machtausübung war nicht stabil, die zu einzelnen Anlässen angeworbenen Kämpfer haben sich mit einem Anteil aus der Beute abgefunden. Die in den Kämpfen erworbene Beute und der Fall der abgeschleppten–verkauften Sklaven weist darauf hin, dass die Fürsten der Rus’ ebenso verfuhren, wie die Steppenvölker und verfügten über die gleichen Einnahmen wie die Chasaren oder die Petschenegen. Deshalb konnten die Durchreisenden den Herrscher mit Recht Kagan nennen.

Die Keime der Staatsorganisierung machten sich zu Wladimirs Zeiten bemerkbar, dass er eine Art Kohäsion seiner Länder zu errichten versuchte. Beinahe aus allen ihm untergeordneten Stämmen hat er sich Frauen geholt, er versuchte andererseits die heidnischen Kulte umzugestalten. Auf dem Kiewer Berg hat er die mehrere Traditionen verkörpernden Götterformen aufgestellt, aber er konnte sich nicht behaupten. Die Führung der reichsgroßen Rus’ war aber keine einfache Aufgabe. Gleichzeitig zu kämpfen und das Land zu regieren ließ sich schwer lösen. Statt der Mitglieder der Gefolgschaft war es viel zweckmäßiger, die Aufgabe der Besteuerung seinen Söhnen anzuvertrauen. Die Route Kiew–Nowgorod hat er wegen ihrer Wichtigkeit lange unter der eigenen Kontrolle gehalten. Die Tätigkeit der Söhne von Wladimir kann leider nicht verfolgt werden. Es ist nur bekannt, dass er mit Jaroslaw, dem späteren Fürsten Konflikte hatte, weil er ihm als Statthalter Nowgorods die Steuern nicht zuschicken wollte.

Im Falle Wladimirs weiß man nicht, ob er hinsichtlich der Thronnachfolge bestimmte Pläne gehabt hätte. In den Stammesgesellschaften verbindet der Seniorat die herrschende Dynastie ebenso: Dem verstorbenen Fürsten soll der älteste Verwandte folgen. Das System muss offenbar komplizierter gewesen sein, da während des Bestehens der Polygamie auch damit gerechnet werden musste, dass die Frauen nicht gleichen Ranges waren, d. h. ihre Söhne auch nicht. Die prinzipielle Reihenfolge gestaltete sich immer nach den tatsächlichen (militärischen) Verhältnissen. Später spielten die Fürstenversammlungen eine ähnliche Rolle, wo man Kompromisse abzuschließen versuchte. Während der Verhandlungen der Fürsten bedeutete der Seniorat immer einen Appellationsgrund, der den Betroffenen zum Herrschen berechtigte. Die Reihenfolge des Seniorats war später nicht mehr leicht zu bestimmen, wurde sehr kompliziert, die Fürsten wollten nicht abwarten, bis sie „an die Reihe kamen”, also die Geltendmachung des Seniorats, d. h. jeder konnte einmal zum Großfürsten werden bzw. die Verhinderung dessen war ebenso im Interesse der Fürsten. Jeder, dessen Vater Fürst war, war ebenso Fürst. Damit schuf sich der Betroffene das Recht, einmal Großfürst zu werden, und andererseits stand ihm ein Anteil aus dem Vermögen der Dynastie zu.

Dieser Anteil verwirklichte sich nicht in Form von Grund und Boden, sondern durch Überlassung der Einkommen aus einem Gebiet. Dieses Territorium nennen die Annalen wolost’.23 Die wolost’ ist noch kein Fürstentum, aber nicht einmal ein Grundbesitz. Ihre Beibehaltung ist vorübergehend, theoretisch kann jeder über sie verfügen, der gemäß dem Seniorat über dem Betroffenen steht. Die wolost’ besitzenden Fürsten haben auch eigene Einkommen gehabt, von dem sie ihre Gefolgschaft unterhielten. Wer sich keine wolost’ erwerben konnte, wurde deklassiert, und war aus dem Kreis der wichtigeren Dynastiemitglieder ausgefallen: Er wurde ein sog. kniaz-izgoj, und trotz seiner Abstammung konnte er bloß zum Gefolgschaftsmitglied werden. Wenn ein Krieg begann, mussten zu Befehl des Großfürsten die wolost’ habenden Fürsten „samt den Leuten ihrer Länder” in den Krieg ziehen. Man weiß nicht, inwiefern der Großfürst seine eigene Rechtsmacht überließ, aber ein Anteil der Sachen sicher, weil man nicht alle Angelegenheiten vor den Fürsten bringen durfte.

Als Synonyme der wolost’ wird der Begriff „udel” gebraucht. Der Wortgebrauch differenziert zeitlich, die wolost’ entspricht einem früheren Sprachzustand. Zwischen der wolost’ und dem Fürstentum sehe ich den Unterschied darin, dass ein Fürstentum aus mehreren wolost’ bestand bzw. so groß war, dass aus ihm mehrere wolost’ gebildet werden konnten. Obwohl über die wolost’ auch ein Fürst verfügte, ist sie nicht Fürstentum, sondern eine niedrigere Kategorie. Über Teilfürstentum spricht man aber erst nach dem Losreißen von Kiew, und wenn der Großfürst seinen Willen in einem gegebenen Gebiet nicht mehr geltend machen konnte.

Um die Jahrtausendwende waren Ungarn und die Kiewer Rus’ zwar Nachbarn, aber die Beziehungen waren geringfügig, die wir aufgrund der Quellen feststellen können. Die Angabe der PVL wird des Öfteren zitiert, aufgrund deren Fürst Wladimir „mit dem Heiligen Stephan (...) im Frieden lebte”. Das ist ein Hinweis darauf, dass 1015 drei Personen ungarischer Abstammung zur Gefolgschaft des ermordeten Fürsten Boris gehörten: Der mit ihm ermordete György, Moses, der Begründer des Kiewer Höhlenklosters geworden ist, und sein Bruder Jefrem. König Stephan siedelte warägisch-russische Krieger an der westlichen Grenze an, mit ihrer Führung beauftragte er Herzog Emmerich, der den Titel dux Ruizorum dieser Tatsache verdankte, und was in den Hildesheimer Annalen belegt ist. Um diese Zeit hätte Stephans Verwandter László Szár seine Frau de Ruscia (aus der Rus’) bringen können, und der Sohn des Fürsten Wladimir, namens Swjatoslaw hatte vielleicht eine ungarische Frau. Jener suchte 1015, zur Zeit der inneren Spannungen nach Ungarn den Fluchtweg.24

 

Literatur

* Über das Thema „Kiewer Rus’ um 1100” in ungarischer Sprache s.: Márta FONT, A Kijevi Rusz, in: Európa és Magyarország Szent István korában. Szerk. KRISTÓ Gyula és MAKK Ferenc [Die Kiewer Rus’, in: Europa und Ungarn zur Zeit Stephans hl. Red. Von Gyula KRISTÓ und Ferenc MAKK], Szeged 2000, S. 255–272.; über Ungarn und Kiewer Rus’ in dem 10–11. Jahrhundert ausführlicher vgl.: Márta FONT, Mittelalterliche Herrschaftsbildung in Ungarn und in der Kiewer Rus’ im Vergleich, in: Ungarn-Jahrbuch, Bd. 24 (1998–99), München 2000, S. 1–18.

 

Anmerkungen

1

In der ungarischen Geschichtsschreibung wurde die Frage schon ausführlich betrachtet. Aus der zahlreichen Literatur s. Tamás von BOGYAY, Stephanus rex, Wien– München 1975, 8–13.; György GYÖRFFY, István király és műve [König Stephan und sein Werk], Budapest 2000, S. 67–109.; DERS., König Stephan der Heilige, Budapest 1988.; Gyula KRISTÓ, A Kárpát-medence és a magyarság régmúltja (1301-ig) [Der Karpathen-Becken und die Vergangenheit des Ungarntums bis zum Jahre 1301], Szeged 1993, S. 102–120.; DERS., Die Árpadendynastie. Die Geschichte Ungarns vom 895 bis 1301, Budapest 1993, S. 55–62.; László KOSZTA, A kereszténység kezdetei és az egyházszervezet kialakulása Magyarországon, in: Az államalapító. (Szerk.) KRISTÓ Gyula [Die Anfänge des Christentums und die Entstehung der Kirchenorganisation in Ungarn, in: Der Staatsgründer. Red. Von Gyula KRISTÓ], Budapest 1988, S. 153–207.

2

Aus der zahlreichen Literatur s.: A. V. NASONOV, Russkaia zemlja i obrazovanie territorii drevnerusskogo gosudarstva, Moskwa 1951.; G. VERNADSKY, The origins of Russia, Oxford 1959.; I. BOBA, Nomads, Slavs and Nothmen, The Hague 1967.; H. RÜSS, Das Reich von Kiev, in: Handbuch der Geschichte Russlands, I., Stuttgart 1981, S. 200–429.; C. GOEHRKE, Frühzeit des Ostlaventums, Darmstadt 1992.; TVOROGOV, 1994.; Márta FONT, Oroszország, Ukrajna, Rusz. Fejezetek a keleti szlávok korai történetéből [Russland, Ukraine, Rus’. Kapitel aus der frühen Geschichte der Ostslawen], Budapest 1998.; S. FRANKLIN–J. SHEPARD, The Emergence of Rus’ 750–1200, London–New York 1996.

3

I. BOBA, Nomads (wie oben Anm. 2.) S. 39–68.; O. PRITSAK, The origin of Rus’, Harvard Univ. 1981.

4

Die Meinungen von RIBAKOV, Kiewskaja Rus’ i russkie knja žestwa, Moskau 1982, S. 290. und P. P. TOLOČKO, Drevnjaja Rus’, Kiew 1987, S. 21–24. sind nach PLDR 39. formuliert.

5

G. STÖKL, Russische Geschichte, Stuttgart 1990, S. 42–43.; S. FRANKLIN–J. SHEPARD, The Emergence (wie oben Anm. 2.), S. 71–111.

6

Über die byzantinische Mission bei den Ungarn s.: J. P. RIPOCHE, Bizánc vagy Róma? Magyarország választási kérdései a középkorban [Byzanz oder Rom? Die Wahlfragen Ungarns in dem Mittelalter], in: Századok, 111 (1977), S. 79–92.; Imre H. TÓTH, Adalékok a korai magyar–szláv egyházi és kulturális kapcsolatok kérdéséhez, in: Fejezetek a korai magyar történelemből, I. [Angaben zu den Fragen der frühen ungarischen und slawischen kirchlichen und kulturellen Beziehungen, in: Kapitel aus der frühen ungarischen Geschichte I.], Budapest, 1981, S. 55–71.; Márta FONT, On the question of European regions from eleventh through the thirteenth centuries, in: Specimina Nova ex Instituto Historico Universitatis Quinqueecclesiensis de Iano Pannonio nominatae, 1992, Pécs (1994), S. 171–178..; Ferenc MAKK, Magyar külpolitika 896–1196 [Ungarische Außenpolitik], Szeged 1996. S. 15–16.; I. BAÁN, „Turkia metropólitája”. Kísérlet a Szent István-kori magyarországi egyházszervezet rekonstrukciójához, in: Az orthodoxia története Magyarországon a XVIII. század végéig [„Der Metropolit von Turkia”. Ein Versuch über die Rekonstruktion der Kirchenorganisation in Ungarn zu Zeit Stephans hl., in: Die Geschichte der Orthodoxie in Ungarn bis zum Ende des 18. Jahrhunderts], Szeged 1995, S. 19–26.; DERS., „Turkia metropolitája” [„Der Metropolit von Turkia”], in: Századok, 129 (1995) S. 1167–1170.

7

Szabolcs de VAJAY, Großfürst Géza von Ungarn. Familie und Verwandtschaft, in: Südostforschungen, 21 (1962) S. 45–101.; DERS., Géza nagyfejedelem és családja, in: Székesfehérvár évszázadai [Der Großfürst und seine Familie, in: Die Jahrhunderte der Stadt Stuhlweißenburg], Bd. I., Székesfehérvár, S. 63–100.; Gyula KRISTÓ, Levedi törzsszövetségétől Szent István államáig [Vom Stammesbund von Levedi bis zum Staat Stephans hl.], Budapest 1980, S. 468–471.

8

Gyula MORAVCSIK (Hg.), Az Árpád-kori magyar történet bizánci forrásai [Die byzantinischen Quellen der ungarischen Geschichte der Árpadenzeit], Budapest 1988, S. 30–51.

9

Conversio Baiuvariorum et Caranthanorum, in: MHK, S. 301–313.; Ágnes CS. SÓS, Slawische Bevölkerung Ungarns im 9. Jahrhundert, München 1973

10

Péter VÁCZY, Magyarország kereszténysége a honfoglalás korában. In: Emlékkönyv Szent István király halálának 900. évfordulóján. I. Budapest 1938, S. 213–265.; L. KOSZTA, A kereszténység (wie oben Anm. 1.), S. 163–166.

11

Gy. GYÖRFFY, István király (wie oben Anm. 1.), S. 67–133.; L. KOSZTA, A kereszténység (wie oben Anm. 1.), S.; Gyula KRISTÓ, Die Árpadendynastie (wie oben Anm. 1.) S. 75–78.

12

L. MÜLLER, Helden und Heilige aus russischer Frühzeit, München 1984.; DERS., Die Taufe Russlands, München 1987.; Millenium Russiae Christianae (Hg. von G. BIRKFELLNER), Köln–Weimar–Wien 1993.; G. STÖKL, Russische Geschichte (wie oben Anm. 5.), S. 54–68.; M. FONT, Oroszország (wie oben Anm. 2.) S. 31–41.

13

A. P. VLASTO, The entry of the Slavs into Christendom, Cambridge 1970, S. 242–243.; L. MÜLLER, Die Taufe (wie oben Anm. 12.), S. 57–66.

14

V. VODOFF, Naissance de la chretienté russe, Paris 1988, S. 30–46.

15

Gardízí, s. in: A. P. NOVOSEŁTZEW, Wostočnie istočniki o wostočnich slawjanach I Rusi VI–IX vv, in: Drevnerusskoe gosudarstvo I jego meždunarodnoe značenie, Moskwa 1965, S. 399.

16

G. STÖKL, Russische Geschichte (wie oben Anm. 5.), S. 56–57.; A. V. NASARENKO, Kogda ze knjaginja Olga esdila v Konstantinipol’?, in: Viasantijskij vremennik, 50 (1987) S. 66–83.

17

MGH SS T. I. S. 624–625., 628. (Continuator Reginonis); T. III. S. 63. (Lambertus Hersfeldensis)

18

A. POPPE, Państwo i kościół na Rusi w XI. wieku, Warszawa 1968.; D. OBOLENSKY, Cherson and the conversion of Rus’, in: BMGS, 1989, S. 241–256.

19

MGH SS T. V. S. 333. (Brunonis Liber de bello Saxonico); T. VI. 665. (Annalista Saxo)

20

Gy. GÖRFFY, 1977, S. 148–162.; György SZÉKELY, Koronaküldések és királykreálások a 10–11. századi Európában [Kronensendungen und Königskreieren in Europa im 10–11. Jahrhundert], in: Századok, 118 (1984), S. 907–947.; Gyula KRISTÓ, Die Árpadendynastie (wie oben Anm. 1.), S. 62–64.

21

Márta FONT, Korona és/vagy kard. Az uralkodáshoz való jog elismer(tet)ése Közép- és Kelet-Európában [Die Krone und/oder Schwert. Die Anerkennung/das Anerkennen lassen für die Regierung in Mittel- und Ost-Europa]

22

Gyula KRISTÓ, A vármegyék kialakulása [Die Entstehung der Komitate], Budapest 1988.

23

Márta FONT, A kijevi (nagy)fejedelmi hatalom jellegéről [Über den Charakter der [groß]fürstlichen Macht in Kiew], in: Aetas, (1999), Nr. 3. S. 31–32.

24

Márta FONT, Magyarok a Poveszty vremennih let-ben, in: Tanulmányok Barta Gábor emlékére. Szerk. LENGVÁRI I. [Ungarn in der Povest’ vremenih let, in: Studien zur Erinnerung von Gábor Barta. Red. Von I. LENGVÁRI], Pécs 1996, S. 49.