Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 15:49–74.
PÁL ENGEL
Die Gründung des christlichen Königreichs
Bis zur Zeit der ungarischen Streifzüge hatte sich die christliche Zivilisation, wenn wir sie auch am weitesten verstehen, nicht weiter als bis zur Elbe und bis zur unteren Donau ausgedehnt. Jenseits dieser Ströme lag dann das Gebiet der barbarischen Völkerschaften, die, was ihre Religion anbelangt, Heiden waren, und die auch über keine stabile politische Organisation verfügten. Die wichtigste und überraschendste Entwicklung der Jahrzehnte um die Jahrtausendwende war die, dass sich das christliche Europa plötzlich erweitert hatte. Die skandinavischen Völker, die Tschechen, die Polen, die Russen und die Ungarn schlugen unabhängig voneinander, doch beinahe zur gleichen Zeit den Weg ein, auf dem sie sich aus barbarischen Völkern zu Ländern nach christlichem Vorbild organisierten. Bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts war der größte Teil des heutigen Europa sowohl von religiösem als auch von politischem Standpunkt aus bereits Bestandteil der christlichen Gemeinschaft.
Fürst Geisa
Die Umgestaltung folgte, obzwar die lokalen Anstöße unterschiedlich sein konnten, überall identischen Mustern. Ein Angehöriger der fürstlichen Familie errang mit Gewalt die Alleinherrschaft, setzte die Bekehrung seiner Untertanen durch und legalisierte seine Herrschaft in irgendeiner Form, im allgemeinen mit Hilfe des Ansehens der Kirche, mit der Annahme des Titels des Königs. Als Ergebnis davon hatte sich überall ein grundlegend neues und, wie es sich später herausstellte, dauerhaftes politisches System, die christliche Monarchie herausgebildet. Die Annahme des Christentums, obzwar sie manchmal auch von der persönlichen Überzeugung diktiert worden sein konnte, war offensichtlich kein Selbstzweck, sondern das Mittel zur Schaffung eines neuen Herrschaftssystems. Deshalb gesellten sich zu ihr meistens auch solche Maßnahmen, die sich die Festigung des Systems zum Ziele gesetzt hatten, die aber nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Annahme der neuen Religion standen. In der ungarischen Geschichtsschreibung wird der gesamte Umgestaltungsprozess als „Staatsgründung” bezeichnet, von einem gewissen Standpunkt aus anachronistisch, weil dieses politische System, das damals entstanden war, noch Jahrhunderte hindurch weit davon entfernt war, als Staat bezeichnet werden zu können.
Die große Veränderung konnte nur selten von einer einzigen Generation durchgeführt werden. In Ungarn ist der Anfang dieses Vorgangs seit der Herrschaft von Fürst Geisa (972–997) bekannt, sein Abschluss aber war das Werk seines Sohnes István (Stephan) (997–1038). Da Stephan es war, der den Titel des Königs angenommen hatte, hatte sein Name später, vor allem nach seiner Heiligsprechung, den Namen seines Vaters verdunkelt, und alle Neuerungen, die mit der Veränderung zusammenhingen, wurden mit ihm verknüpft. Wahrscheinlich ist aber, dass ein Teil dieser aus der Zeit von Geisa stammt.
Die grundlegende Veränderung der politischen Ordnung war vermutlich die Folge der Niederlage auf dem Lechfeld im Jahre 955. Doch wir kennen die Details der Veränderung genauso wenig, wie wir auch das System nicht kennen, das sie hinweggefegt hat. Auf jeden Fall hatten die Ungarn im Jahre 973 nur mehr einen Fürsten, nämlich Geisa, einen Urenkel von Árpád. Kein einziger der zahlreichen anderen Nachfahren des Begründers des Landes wurde mehr erwähnt, wofür die einfachste Erklärung gewesen sein konnte, dass irgendwann vor 973 alle ausgerottet worden waren. Die umfangreichste Säuberung war vermutlich das Werk von Geisa, der von den Chroniken als gewaltsamer, „roher” Herrscher beschrieben wurde, dessen „Hände mit Menschenblut verunreinigt waren”.1 Aus der umfangreichen Dynastie war Koppány, der Sohn des „Kahlen” Zerinds, der einzige Überlebende, der zurzeit Geisa als „Fürst von Somogy” einen Teil des heutigen Transdanubiens regierte. Er war gewiss aus dem Grund davongekommen, weil er ein naher Verwandter, vielleicht ein Cousin von Geisa war. Das Prinzip des Seniorats war aber nicht mehr gültig, und Geisa bestimmte nicht Koppány, sondern seinen eigenen Sohn, Vajk, zu seinem Nachfolger.
Das Hauptziel Geisas war, seine frisch errungene Macht zu festigen, deshalb strebte er nach Frieden mit allen Nachbarn, vor allem mit dem Deutsch-Römischen Kaiserreich. Bereits zu Ostern 973 entsandte er eine Delegation zu Otto I. nach Quedlinburg, verzichtete auf jene Gebiete Bayerns und Mährens, die bis dahin von den Ungarn besetzt gehalten wurden. Später wurde er zwar in einen Konflikt mit dem Cousin Ottos, mit Heinrich II., Herzog von Bayern, verwickelt, doch im Jahre 996 schloss er mit dessen Sohn, dem späteren Kaiser Heinrich II. Frieden, indem er seinen Sohn Vajk mit dessen Schwester Gisela verheiratete. Spätestens zu jener Zeit verzichtete er auch auf Wien und Umgebung, und seitdem stellten ganz bis zur neuesten Zeit – abgesehen von einer kurzen Unterbrechung – die Morava und die Leitha die Westgrenze Ungarns dar.
Geisa unternahm auch die ersten, entscheidenden Schritte hin zur Annahme des Christentums. Otto ließ wahrscheinlich auf die Bitte Geisas hin bereits im Jahre 972 den Mönch Bruno (Brunwald) aus Sankt Gallen zum „Bischof der Ungarn” weihen und entsandte ihn nach Ungarn. Geisa ließ sich mit vielen Tausenden „edleren” Ungarn taufen und „gelobte, alle seine Untertanen zum Träger des christlichen Namens zu machen”.2 Dieses Gelöbnis hielt er auch, er unternahm auch viel „für die Unterdrückung der heidnischen Zeremonien” und schlug die „Aufständischen” mit fester Hand nieder;3 er selbst wurde aber nicht wirklich Christ, sondern huldigte auch weiterhin den heidnischen Bräuchen seiner Ahnen. In allem schien ihm auch seine Frau Sarolt, die Tochter des Fürsten von Siebenbürgen, eine würdige Gefährtin gewesen zu sein, die nicht viel von dem Christentum nach griechischem Ritus ihres Vaters bewahrt hatte, sondern eher für ihre männliche Ungestümheit und ihre Rücksichtslosigkeit bekannt war.
Sankt Stephan
Im Jahre 997 wurde Vajk, der seit seiner Taufe den Namen Stephan (István) trug, der Nachfolger Geisas. Bei seiner Thronbesteigung hatte er den Anzeichen nach eine stabile fürstliche Macht geerbt, und leicht siegte er über die anfänglichen Hindernisse. Dennoch standen noch die eigentliche organisatorische Arbeit, die bedingungslose Durchsetzung seiner Macht auf dem Territorium des ganzen Landes und der Ausbau der Organisation der katholischen Kirche bevor. Irgendwann um diese Zeit ist auch jenes neue politische System zustande gekommen, auf dem von nun an die Herrschaft der Árpaden ganz bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts beruhen sollte. Welchen Anteil an deren Ausbau Geisa und welchen Stephan hatte, ist nicht bekannt; die formale Begründung des christlichen Königreiches und seiner Organisation war aber auf jeden Fall das Werk Stephans, deshalb wurde er im Jahre 1083 von der Kirche nicht ohne Grund in die Reihe ihrer Heiligen erhoben und lebte auch im Bewusstsein der Nachwelt als Gründer des Königreichs Ungarn fort.
Der erste Akt seiner Herrschaft war die Vereinigung der Provinzen des Árpadenhauses. Dazu bot ihm das Auftreten seines älteren Verwandten Koppány den Anlass, der aufgrund des Prinzips des Seniorats den Thron des Fürsten – und wahrscheinlich aufgrund des heidnischen Brauches des Levirats – auch die Hand der Witwe von Geisa für sich forderte. Stephan besiegte im Jahre 998 Koppány in der Schlacht bei Veszprém, ließ seinen Leichnam vierteilen und Teile seines Körpers zum Zeichen seiner festen Macht am Tor von Veszprém, Győr und Esztergom festnageln. Den vierten Teil des Leichnams schickte er seinem Onkel Gyula zu, der mit dem Heidentum nicht gebrochen hatte, sozusagen als Botschaft, dass seine Herrschaft nicht mehr lange dauern wird. Sie dauerte auch nicht mehr lange, Stephan vereinigte im Jahre 1003 sein Land, Siebenbürgen, mit Ungarn und vertraute es einem besonderen Statthalter an. Dem Gyula gewährte er aber Gnade, und seine Nachfahren finden wir später in den Reihen der ungarischen vornehmen Persönlichkeiten.
Die Herrschaft Stephans erstreckte sich von diesem Zeitpunkt an auf das ganze Reich der Árpaden. Zur Legitimierung seiner Macht unternahm er den entscheidendsten, in seiner Wirkung bleibendsten Schritt seiner Herrschaft: Zu Weihnachten des Jahres 1000 oder am Neujahrstag des Jahres 1001 ließ er sich in Esztergom feierlich zum König krönen. Seine Herrschaft rechnete er von der Zeit an, er nahm den Titel „König der Ungarn/Magyaren/” (rex Ungrorum) an. Das ungarische Wort király („König”), das slawischen Ursprungs ist, war aus dem Namen Karls des Großen entstanden und drückte so auf würdige Weise die besondere Macht Stephans aus. Die Königin wurde anfangs, es ist nicht bekannt wie lange, mit einem iranischen Wort als asszony „Frau, Dame” bezeichnet. Wahrscheinlich war dies der frühere Titel der Gemahlin des Fürsten, und daraus wurde auch der Name für die heilige Jungfrau Maria boldogasszony „die glückliche Frau” gebildet. Auch der Titel úr „Herr” ging nicht verloren, doch im Weiteren stand er den Prinzen der königlichen Familie zu.
Die auch heute erhaltene Heilige Krone ist nicht mit der Krone Stephans identisch. Sie war irgendwann in der Árpadenzeit aus zwei Diademen zusammengestellt worden. Der untere Teil ist byzantinischen Ursprungs, seinen Darstellungen und seinen griechischen Aufschriften nach hatte sie König Geisa I. (1074–1077) von Kaiser Michael VII. (1071–1078) bekommen. Auch der obere Teil kann auf das 11. Jahrhundert datiert werden, doch sind seine Aufschriften in lateinischer Sprache geschrieben, sie stammen vermutlich aus Italien. Nach der allgemeinen Auffassung ist die Zusammenfügung der beiden Teile irgendwann in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erfolgt, die erste sichere Erwähnung aber ist erst aus späterer Zeit bekannt.
Der Hintergrund der Krönung ist eine der am meisten diskutierten Fragen der frühen ungarischen Geschichte. Obzwar um 1000 in Ungarn die Erinnerung lebendig war, dass Stephan die Krone über Abt Astrik vom Papst erhalten hatte, scheint diesem die zeitgenössische und glaubwürdige Nachricht von Thietmar, Bischof von Merseburg, zu widersprechen, nach dem Stephan „von Kaiser Ottos III. Gnaden und auf seine Anregung” „die Krone und den Segen”4 erhalten hatte. Dies wird manchmal so gedeutet, dass er dadurch zum Vasallen Ottos geworden wäre, und dafür würde sprechen, dass er als Symbol der Macht nicht die Krone, sondern die königliche Lanze (lancea regis) verwendete, die angeblich noch sein Vater von Otto III. erhalten hatte. Tatsächlich ist die Lanze sowohl auf seinen Münzen, als auch auf dem ihn darstellenden, 1031 gefertigten Krönungsmantel zu sehen, doch sind die beiden Anschauungen miteinander vereinbar. Um das Jahr 1000 weilte der Kaiser in Rom und arbeitete mit Papst Sylvester II., seinem Verbündeten an der Wiederherstellung des Römischen Imperiums zusammen. Es besteht kein Recht, in Zweifel zu ziehen, dass die Krone vom Papst stammt, doch liegt es auf der Hand, dass mit ihrer Entsendung auch Otto einverstanden war. In ihre Politik passt vollkommen die Bekleidung Stephans mit dem Titel des Königs und dadurch die Einbeziehung Ungarns in das christliche Imperium hinein, ohne dass dies für Stephan ein wirkliches Abhängigkeitsverhältnis bedeutet hätte. Dafür aber, unabhängig davon, was sich die Zeitgenossen auch hinter den Symbolen vorgestellt hatten, gibt es in der Politik keine Spur.
Auch Stephan setzte die Politik seines Vaters fort, indem er bemüht war, zu seinen stärksten Nachbarn ein gutes Verhältnis herauszugestalten. Basileios II. von Byzanz half er 1018 bei dem Sieg über die Bulgaren, mit seinem Schwager Heinrich II. (1002–1024) lebte er in Freundschaft. Beim Aussterben der Dynastie der Salier trat er jedoch für seinen Sohn mit einem Erbfolgeanspruch auf, indem er für ihn einen Teil des Herzogtums Bayern forderte. Deshalb wurde er mit dem neuen Kaiser Konrad II. in einen Krieg verwickelt. Konrad fiel 1030 in Ungarn ein, doch musste er eine Niederlage hinnehmen und war gezwungen, auf Wien und Umgebung zu verzichten.
Das wahre Problem bedeutete für Stephan die Frage der Thronfolge, da sein letzter Sohn Emmerich (Imre), der von heiligem Leben zeugte, bei einem Jagdunfall ums Leben kam. Logisch wäre es gewesen, wenn der Thronfolger Vazul, der Sohn des Bruders seines Vaters Geisa namens Mihály (Michael) geworden wäre. Er wurde aber vom König nicht für geeignet zum Herrschen gehalten. Statt seiner benannte er seinen Cousin Peter aus der weiblichen Linie zu seinem Nachfolger, der ein Sohn des vertriebenen Dogen von Venedig, Otto von Orseolo war. Vazul wurde geblendet und seine drei Söhne flohen nach Polen. Stephan verstarb am 15. August 1038, im Alter von ungefähr sechzig Jahren, und mit Herzog Emmerich zusammen wurde er in der von ihm gestifteten Basilika von Székesfehérvár zur letzten Ruhe gebettet.
Die Nachfolger von Sankt Stephan
Bis zu den Anjous (1308–1382) war Peter von Orseolo der einzige ungarische König fremder Herkunft, und man kann sich nicht wundern, dass die ungarischen Herren ihn nicht akzeptierten. Sie nahmen es ihm übel, dass er die Witwe Stephans ihres Erbes beraubte und unter Bewachung stellte, und dass er sich mit „brüllenden Deutschen” und „schwatzenden Italienern” umgab.5 Im Herbst 1041 wurde er vertrieben und Aba, mit dem christlichen Namen Samuel (1041–1044), Führer eines vornehmen ungarischen Stammes (angeblich der Kawaren) wurde zum König gewählt. Aba war ein Verwandter (sororius) Stephans in der weiblichen Linie, sein Schwager oder vielleicht sein Cousin, und ebenfalls überzeugter Anhänger des Christentums, doch war er gewalttätig und schonungslos, so dass unter seiner Herrschaft sich bald niemand mehr sicher fühlte. Im Jahre 1042 verwüstete er als Rache dafür, dass Kaiser Heinrich III. den vertriebenen Peter von Orseolo in Schutz genommen hatte, Österreich. 1043, als der Kaiser ganz bis an die Stadt Győr (Raab) vordrang, war er gezwungen, um Frieden anzusuchen und auf die von Stephan erworbenen Gebiete Bayerns zu verzichten. 1044 erschien Heinrich aufs neue, um Peter zur Macht zu verhelfen, und da wurde er von der Mehrheit der hohen Herren, der Magnaten schon mit Freuden begrüßt. Aba verlor am 5. Juli bei Ménfő bei der Stadt Győr die Schlacht, auf der Flucht wurde er gefangen genommen und hingerichtet. Von seinen Verwandten wurde er „in seinem eigenen Kloster” in Abasár bei Gyöngyös bestattet,6 später wurde sein Leichnam vielleicht in die zeitgenössische Kirche umgebettet, die auch gegenwärtig in Feldebrő bei Eger steht.
Nach dem Sturz von Aba übernahm wieder Peter die Herrschaft, und von der Zeit an versuchte er, sie in erster Linie auf die Unterstützung durch den Kaiser zu fundieren. 1045 lud er den Kaiser nach Székesfehérvár ein, und dort überreichte der Kaiser ihm zu Pfingsten, am 26. Mai, feierlich die Königlanze, wodurch er sein Land zum Vasallen des Reiches erklärte. Er soll auch die bayerischen Gesetze eingeführt haben. Diese Schritte Peters empörten nicht nur die Anhänger des schlummernden Heidentums sondern auch die der neuen Ordnung. Die christlichen Herren und hohen Geistlichen, die sich vom Geschlecht der Árpaden die Abhilfe erhofften, riefen 1046 die Söhne Vazuls aus Polen zurück. Die Heiden waren jedoch der Auffassung, dass die Wende im Land auch die Rückkehr der alten Ordnung bedeutete, und sie begannen im ganzen Land mit der Abschlachtung der Priester und der Mönche. Damals verlor auch Gellért, Bischof von Csanád, der einstige Erzieher des Herzogs Emmerich sein Leben, der venezianischer Herkunft war und im Jahre 1083 heiliggesprochen wurde, der am Fuß des nach ihm benannten Gellértberges an der Pester Donaufurt mit zwei anderen Bischöfen zusammen erschlagen wurde.
Das Königreich Stephans erwies sich aber als fest und überlebte die Krise. Die Mehrheit der hohen Herren wollte auch weiterhin einen Christen zum König, deshalb wurde von den Söhnen Vazuls unter Hintansetzung des für seine heidnischen Sympathien bekannten Leventes der jüngere, András (Andreas), zum König gewählt. In seiner Person kam wiederum die Dynastie der Árpaden an die Macht und behielt auch diese ganz bis zu ihrem Aussterben im Jahre 1301. Andreas I. (1046–1060) benutzte die Bewegung der Heiden nur dazu, um seinen Rivalen zu besiegen, danach jedoch gab er die Wiederherstellung der christlichen Staatsordnung bekannt und zwang die Heiden blitzschnell zum Gehorsam. Peter von Orseolo, der seinen Anhängern in der Nähe von Székesfehérvár in die Hände fiel, ließ er blenden und entmannen, woran dieser kurz darauf starb.
Heinrich III. verzichtete nicht leicht auf seine feudale Oberhoheit, die er über Peter erworben hatte. 1051 drang er tief in das Land ein, war aber gezwungen, ohne Schlacht umzukehren, weil die Ungarn ihn von seinen Nachschubwegen getrennt hatten. Der Feldzug kam einer Niederlage gleich, die Überlieferung vertrat in der Folgezeit die Auffassung, dass das Gebirge Vértes („mit Harnischen versehen”) seinen Namen von den durch die sich zurückziehenden Deutschen weggeworfenen Harnischen erhalten hatte. 1052 versuchte Heinrich Pressburg (Pozsony) einzunehmen, doch auch da erlitt er eine Niederlage. András bewahrte seine Unabhängigkeit und söhnte sich erst Jahre später mit dem Reich aus, als die Angelegenheiten in Ungarn sich so entwickelten, dass er eine Unterstützung von außen brauchte.
Die Probleme wurden nicht zum ersten und nicht zum letzten Male in der Geschichte der Árpaden von der Frage der Thronfolge ausgelöst. Die Restauration der Dynastie konnte auch so aufgefasst werden, dass sie die Rückkehr zur alten Ordnung der Erbfolge des Senioritats bedeutete. In dieser galt aber – nach dem frühen Tod des Heiden Levente –, Béla (Adalbert), der dritte Sohn Vazuls als Erbe des Königreichs, der kurz nach dem Thronwechsel ebenfalls nach Ungarn zurückkehrte und von seinem Bruder mit dem Titel des Herzogs das östliche Drittel des Landes zur Verwaltung erhielt.
Die Einrichtung des Herzogtums (ducatus), die bis 1107 bestand, bedeutete die territorielle Teilung der Regierung des Landes zwischen dem König und seinem nächsten Verwandten. Die Vorgeschichte hiervon ist wahrscheinlich in den nicht näher bekannten dynastischen Teilungen des 10. Jahrhunderts zu suchen. Unter Geisa war Koppány der dux von Somogy, d. h. einer kleinen Provinz Transdanubiens. Stephan hatte den Thronfolger Peter zum „Führer seiner Heerscharen”, d. h. zum Herzog ernannt, obzwar in Bezug darauf, ob dieser damit auch Ländereien erhielt, keine Angaben zur Verfügung stehen. Seit Andreas I. haben wir relativ genaue Informationen über die Funktion dieser Einrichtung. Der jeweilige Herzog regierte den östlich der Theiß gelegenen Landesteil und die Umgebung der Stadt Nyitra, das Zentrum seiner Macht scheint in der Landschaft Bihar gelegen zu haben. In seiner Provinz übte er die Rechte des Herrschers aus, so konnte er auch Geld prägen lassen, nur auf einem Gebiet, in der Außenpolitik nämlich, war er nicht souverän.
König Andreas arbeitete anfangs ungestört mit Herzog Béla zusammen, doch wurde um 1053 sein Sohn Salamon geboren, und seither war er bemüht, ihm den Thron zu sichern. Noch zu seinen Lebzeiten ließ er ihn zum König krönen und 1058 verlobte er ihn mit Judit, der minderjährigen Tochter des vor kurzem verstorbenen Kaisers Heinrich III. Er versuchte auch seinen jüngeren Bruder dazu zu bringen, auf sein Erbfolgerecht zu verzichten. Der Überlieferung nach lud er ihn zu einem Treffen nach Tiszavárkony, an der Grenze ihrer Landesteile gelegen, ein und ließ ihm die Symbole der königlichen und herzoglichen Würde, die Krone und das Schwert, vorlegen, machte ihm das Angebot, zwischen ihnen zu wählen. Da dem Herzog bekannt geworden war, dass die Entscheidung für die Krone ihn das Leben kosten würde, begnügte er sich mit dem Schwert, floh aber nach Polen und kehrte 1060 mit Truppen nach Ungarn zurück. András unterlag in der Schlacht und erlag bald seinen dort erhaltenen Verletzungen. Er wurde in der von ihm gestifteten Benediktinerabtei in Tihany beigesetzt, wo in der damaligen Krypta ein dort gefundener Grabstein aus rotem Marmor auch heute noch an ihn erinnert. Salamon wurde von seinen Anhängern nach Deutschland in Sicherheit gebracht, während Béla (Adalbert) am 6. Dezember zum König gekrönt wurde.
Die kurze Zeit der Herrschaft Bélas I. (1060–1063) wurde durch das offene Auftreten der Heiden denkwürdig gemacht. Im Jahre 1061 trat eine riesige Menge von Gemeinen in Székesfehérvár, wo Béla einen Gesetztag abhielt, mit verblüffenden Forderungen auf: sie verlangten vom König die Ermächtigung zur Steinigung, zum Pfählen und im Allgemeinen zum Ermorden sämtlicher Priester. Béla erbat sich eine Bedenkzeit von drei Tagen, innerhalb dieser Zeit versammelte er seine Truppen und ließ die Versammlung zerstreuen.
Der Sieg des Christentums war hiermit schon endgültig gesichert.
Im Jahre 1063 startete Kaiser Heinrich IV. eine groß angelegte Offensive, um seinem Schwager und Schützling Salamon zur Macht zu verhelfen. Béla war angeblich bereit, freiwillig abzudanken, wenn er seine Herzogswürde zurückerhält, doch fiel er am Vorabend der Schlacht (am 11. September) einem Unfall zum Opfer. Seine Söhne Geisa, László und Lampert flohen nach Polen und Salamon konnte ungestört den Thron einnehmen (1063–1074). Bald versöhnte er sich mit seinen Cousins, überließ Geisa die herzogliche Provinz seines Vaters, und danach herrschten die Verwandten eine Zeitlang wirklich im Einvernehmen. Im Jahre 1068 wehrten sie gemeinsam bei Kerlés, in der Nähe von Dés in Siebenbürgen, einen Einfall des Stammes der Petschenegen ab, und im Jahre 1071 belagerten sie gemeinsam Nándorfehérvár (Belgrad) gegen die Byzantiner, die der Unterstützung der Petschenegen verdächtigt wurden. Der fällig gewordene Bruderkampf wurde angeblich durch die hier gemachte Beute ausgelöst. Geisa und seine Brüder riefen diesmal tschechische Truppen zur Unterstützung, während Salomon von deutschen Truppen unterstützt wurde. Der König unterlag am 14. März 1074 unweit von Pest bei Mogyoród in einer Schlacht und floh in den Westen. Sein Schwager Heinrich IV. unternahm alles, um ihm zurück auf den Thron zu verhelfen und drang ganz bis nach Vác auf das Territorium des Landes vor, doch konnte er schließlich nur die Burg Pozsony und Moson für seinen Schützling halten. Der übrige Teil des Landes unterwarf sich dem neuen König, der die Würde des Herzogs auf seinen Bruder László übertrug.
Da Salamon seine Schatzkammer mit sich genommen hatte, wandte sich Geisa I. (1074-1077) an den Heiligen Stuhl wegen einer neuen Krone, doch hielt Papst Gregor VII. anfangs den vertriebenen König für den gesetzmäßigen Herrscher, später verlangte er aber von Geisa, für seine Anerkennung die feudale Oberhoheit des Papstes anzuerkennen. Stattdessen schloss Geisa Frieden mit Byzanz und ließ sich mit der von Kaiser Michael VII. erhaltenen Krone krönen, die in der Folgezeit Bestandteil der Heiligen Krone wurde. Als er am 25. April 1077 verstarb, blieben nur seine minderjährigen Söhne nach ihm zurück, und ohne Widerspruch nahm sein jüngerer Bruder László (Ladislaus) seinen Platz ein.
László (Ladislaus) der Heilige
König Ladislaus I. (1077–1095) ist neben Stephan die andere bekannteste Gestalt der frühen ungarischen Geschichte. Nicht so sehr mit seinen Taten ragte er über das Dunkel der ersten Jahrhunderte heraus, wissen wir doch letzten Endes über ihn nicht viel mehr als über Stephan, sondern eher mit seinem Nachleben. Wahrscheinlich spielte er eine große Rolle bei der endgültigen Stabilisierung des Christentums, seine Bedeutung kann aber nicht an der seines großen Vorgängers gemessen werden. Seine Bekanntheit jedoch, zumindest für die Nachwelt, lag weit über der Stephans, obwohl uns der wahre Grund hierfür nicht bekannt ist. 1192 wurde auch er als großzügiger Förderer der Kirche heiliggesprochen, und er war im späten Mittelalter der am häufigsten erwähnte ungarische Heilige. Stephan blieb als frommer, doch strenger Greis, Schöpfer und wichtigster Ursprung der Rechtsordnung in der Erinnerung erhalten. Ladislaus jedoch als junger und heldenhafter Held. Von seinen frommen Taten war nur wenig die Rede, doch seine größte Heldentat, sein Sieg über den kumanischen Helden in einem Zweikampf und die Befreiung des geraubten ungarischen Mädchens, ist auch nach Jahrhunderten in Dorfkirchen in den entlegensten ungarischen Gemeinden auf Fresken dargestellt. Für den Hof und für die Elite verkörperte er später den ungarischen Ritter als solchen, obzwar er offensichtlich nur wenig mit dem sich erst im 12. Jahrhundert herausbildenden christlichen Ritterideal zu tun gehabt haben konnte. Es bildete sich der Brauch heraus, dass jeder Herrscher nach der Krönung an das Grab des Königs Ladislaus pilgert, König Karl (Károly) I. (1308–1342) ließ seinen zweiten, früh verstorbenen Sohn auf seinen Namen taufen, sein Nachfolger, Ludwig der Große (Nagy Lajos) (1342–1382), ließ sein Abbild auf seine Münzen prägen, ein König Sigmund (Zsigmond) von Luxemburg (1387–1437) ließ sich neben ihm bestatten.
Die ersten Jahre der Regierung von Ladislaus waren von der Regelung der Angelegenheit Salamons erfüllt. Es gelang ihm, den vertriebenen König dazu zu bringen, auf seine Rechte zu verzichten und in das Reich zurückzukehren. Doch war er dann gezwungen, ihn einzukerkern, weil er zu intrigieren begann. In Visegrád hielt er ihn in Haft, wo später lange Zeit hindurch ein im 13. Jahrhundert erbauter und auch heute noch existierender Turm als sein Kerker erwähnt wurde. Als König Stephan heiliggesprochen wurde, ließ er ihn frei, worauf Salamon sich zu den Petschenegen an den Unterlauf der Donau zurückzog. Mit ihrer Hilfe fiel er einmal mit Waffengewalt in Ungarn ein, 1087 an ihrer Seite im Kampf gegen Byzanz beschloss er irgendwo auf dem Balkan sein abenteuerliches Leben. Um seine Gestalt bildeten sich später Legenden heraus, manche wollten wissen, dass er irgendwo als Einsiedler starb und sein angebliches Grab wird auch heute noch auf der Halbinsel Istrien im kroatischen Pula gezeigt.
Wie vorsichtig Ladislaus (László) auch mit seinem größten Widersacher umgegangen war, so unerbittlich trat er gegen alle auf, die die neue Ordnung des Königreichs gefährdeten. Alle seine Bemühungen zielten darauf ab, die von Stephan begründete Einrichtung zu festigen. In diesem Interesse erließ er seine durch die Strenge bekannt gewordenen Gesetze und deshalb erwirkte er bei Papst Gregor VII. die Heiligsprechung von Stephan, von Herzog Emmerich und dem Märtyrer Bischof Gellért. Sein Schritt entbehrte nicht der Großzügigkeit, wenn man daran denkt, dass der von Stephan geblendete Vazul sein eigener Großvater war. Die Person Stephans verkörperte aber all das, was damals in Ungarn neu und erhaltenswert war. Die Exhumierung des Körpers des Königs aus dem Grab in Székesfehérvár erfolgte am 20. August 1083. Seine Rechte wurde nicht gefunden, doch bald kam sie vollkommen erhalten zum Vorschein, seitdem ist sie als Heilige Rechte Gegenstand eines eigenen Kults und ihr zu Ehren wurde bei Nagyvárad (Großwardein) eine Abtei gegründet. In der Türkenzeit kam die Rechte in Dalmatien, bei Kaufleuten aus Ragusa zum Vorschein, heute wird sie in Budapest aufbewahrt.
Die Tat von Ladislaus mit bleibendster Bedeutung war die Eroberung des südwestlichen Nachbarn, von Kroatien, dadurch wurde in der ungarischen Außenpolitik zugleich eine neue Epoche eröffnet. Das im 10. Jahrhundert gegründete kleine Königreich Kroatien lag zwischen dem Kapela-Gebirge und der Adria, sein Zentrum war das an der Küste gelegene Biograd, sein mittelalterlicher ungarischer Name lautete Tengerfehérvár („Weißenburg am Meer”). Seine Untertanen gehörten der lateinischen Kirche an, im Gegensatz zu den die identische Sprache sprechenden Serben, die damals unter byzantinischer Herrschaft lebten und sich zur Orthodoxie mit slawischem Ritus bekannten. König Dmitar Zvonimir, der nicht aus dem kroatischen Königshaus stammte, sondern durch die Wahl König geworden war, erhielt von Gregor VII. im Jahre 1075 die Krone und erklärte dafür als Erwiderung sein Reich zum Vasallen des Heiligen Stuhls. Nach seinem Tod erhob der ungarische König Anspruch auf das Erbe unter dem Recht seiner Schwester, die die Witwe Zvonimirs war, und 1091 ergriff er ohne Widerstand auch Besitz von diesem Land. An seine Spitze stellte er mit dem Titel des Königs seinen Cousin Álmos, und als der Feudalherr des Landes, Papst Urban II., das beanstandete, ging er zu dessen Gegner, zu Kaiser Heinrich IV. über.
Bei der Eroberung von Kroatien wurde Slawonien zum organischen Bestandteil Ungarns, das zwischen beiden lag, sich von der Drau bis zum Kapela-Gebirge erstreckte. Dieses Gebiet verleibte Ladislaus während seines Kroatienfeldzuges oder kurz darauf ein, und zum Zeichen dafür gründete er in Zagreb, im Zentrum des Landes, das neunte ungarische Bistum. Was die frühere Rechtsstellung Slawoniens war, ist unbekannt. Wie es auch sein Name zeigt, hielt es Ungarn für ein von Slawen bevölkertes Gebiet, also für eine Provinz, die in der engeren Bedeutung des Wortes nicht zu seinem Gebiet gehört. Einer Quelle aus dem 13. Jahrhundert nach gehörte es zum Königreich Kroatien, dem widerspricht aber gewissermaßen sein späteres Verhältnis zu Ungarn. Gegenüber dem eigentlichen Kroatien, das immer ein besonderes Land (regnum) blieb, erhielt Slawonien innerhalb des Königreichs eine Situation wie Siebenbürgen, mit anderen Worten: es wurde für einen Bestandteil des Landes und innerhalb dessen für eine besondere Einheit mit spezifischer Rechtsstellung gehalten. Auch seine Kirchenverwaltung entsprach diesem Verhältnis. Es bildete eine eigene Kirchenprovinz, doch war der Bischof von Zagreb wie auch der Bischof von Siebenbürgen Suffragan des Erzbischofs von Kalocsa, im Gegensatz zu den kroatischen Bischöfen, die zu den Erzdiözesen von Zara und Spalato gehörten. Aller Wahrscheinlichkeit nach rührt auch die archaische Steuer, die marturina seiner Bevölkerung aus dieser besonderen Eigenständigkeit her. Wie dies auch ihre Bezeichnung zeigt, war dies ursprünglich ein Marderfell, das pro Haushalt an den König entrichtet wurde, doch wurde dies schon von König Koloman (Kálmán) (1095–1116) in eine Geldsteuer umgewandelt. Einer ähnlichen Pelzsteuer begegnet man überall in Osteuropa, wo nomadische Fürsten slawische Waldbewohner besteuerten. Deshalb war die marturina ursprünglich aller Wahrscheinlichkeit die spezifische Steuerform des hier lebenden slawischen Ethnikums, die sie ihren ungarischen Herren schuldig war. Im Grunde genommen kann also vermutet werden, dass zwischen Kroatien und Slawonien sich auch schon vor 1091 eine scharfe Trennlinie erstreckte, und dass Slawonien, bevor es in das Königreich Ungarn eingegliedert worden war, in irgendeiner lockeren Form eher von diesem als vom Königreich Kroatien abhängig gewesen war.
König Koloman (Kálmán)
Ladislaus wie auch Stephan hatte keinen Thronerben im Mannesstamm. Von seinen am Leben gebliebenen Neffen bestimmte er den jüngeren, Álmos, zu seinem Nachfolger, weil dieser besser dem Königsideal der Zeit entsprach. Nach seinem Tod (am 29. Juli 1095) wurde dennoch der ältere Bruder, der gebildete Kálmán von unvorteilhaftem Äußeren, König. Wenn man seinen Zeitgenossen Glauben schenken darf, war Koloman „halb blind, verwachsen, er hinkte und stotterte”,7 deshalb war er ursprünglich zum Priester bestimmt, und bestieg vom Bischofsstuhl den Thron. Dem zeitgenössischen polnischen Chronikschreiber zufolge war er aber „der gebildetste in der Wissenschaft des Schreibens” unter allen Herrschern seiner Zeit,8 und später blieb an ihm in Ungarn der Übername „der Schriftgelehrte” haften. Sein Bruder, den er mit dem Herzogtum zu entschädigen suchte, war nicht imstande, sich mit seiner Hintansetzung abzufinden. Von 1098 an erhob er sich mit deutscher und polnischer Unterstützung fünfmal gegen seinen Bruder, schließlich war er bereit, sogar zum Vasallen von Kaiser Heinrich V. zu werden, wenn dieser ihm auf den Thron verhilft. Koloman verzieh ihm anfangs, schließlich aber verlor er die Geduld und um das Jahr 1113 ließ er ihn und seinen kleinen Jungen Béla blenden. Mit dem Untergang von Álmos hörte die Institution des Amtes des Herzogs zu bestehen auf. Das Mutterland wurde nicht mehr auf die alte Art und Weise aufgeteilt, den jüngeren Angehörigen wurde in der Folgezeit meistens die Regierung von Kroatien und Dalmatien, im 13. Jahrhundert manchmal von Siebenbürgen anvertraut.
Auf den Anfang der Herrschaft von Koloman fiel der Durchzug des ersten Kreuzfahrerheeres. Seitdem Stephan im Jahre 1018 sein Land vor den Wallfahrern geöffnet und in Jerusalem ein Gästehaus gegründet hatte, war Ungarn eine häufige und beliebte Route der in das Heilige Land ziehenden Kreuzfahrer. Im Laufe des Jahres 1096 trafen von Mai bis September in mehreren Wellen Scharen unter der Führung von Walter „Sans-avoir”, Peter Pierre von Amiens und Gottfried von Bouillon ein. Und obzwar nur die Scharen des letzteren wirklich diszipliniert waren, durchquerten sie das Land ohne größere Konflikte. Gottfried wurde vom König persönlich in Sopron empfangen, und er begleitete ihn auf dem linken Donauufer ganz bis nach Zimony, der gegenüber von Nándorfehrvár (Belgrad) gelegenen Grenzfestung, wärend er seinen Bruder Balduin, den späteren König von Jerusalem, als Geisel bei sich behielt. Einigen Scharen, die zu plündern versuchten, gelang es nicht, die Grenze zu überschreiten. Die Marodeure des Franzosen namens Foucher wurden vom König bei Nyitra, die Scharen des deutschen Priesters Gottschalk bei Székesfehérvár zerstreut, Emich von Leiningen schlug er persönlich an der Grenze bei Moson zurück. Inwiefern es bekannt ist, schlossen sich den Kreuzfahrern keine Ungarn an. Der erste namentlich bekannte Kreuzfahrer war Álmos, der ein paar Jahre danach, um 1107 zwischen zwei Aufständen Zeit zur langen Reise fand.
Koloman war es, der die Eroberung von Ladislaus, Kroatien, endgültig an die ungarische Krone angliederte. 1097 besiegte er König Peter, der als Gegenkandidat auftrat, und ließ sich 1102 in Biograd zum König krönen. Zur gleichen Zeit schloss er einen Vertrag (pacta conventa) mit den Führern der kroatischen Geschlechter, in dem er ihre Autonomie und ihre besonderen Vorrechte anerkannte. Das Dokument hierüber ist zwar eine Fälschung aus dem 14. Jahrhundert, ihr Inhalt konnte aber der Realität entsprochen haben. Der Herrscher Kroatiens war seither der jeweilige ungarische König, doch wurde das Land nicht zum Teil Ungarns, sondern stand nur in Personalunion. Obzwar seit Koloman kein ungarischer König mehr zum König von Kroatien gekrönt worden war, gelangte die Eigenständigkeit des kroatischen Königreiches (regnum) einerseits im Titel des Königs zum Ausdruck, wovon noch die Rede sein wird, andererseits darin, dass seine Herrschaft hier nicht von Gespanen vertreten wurde wie im Mutterland, sondern durch einen mit dem Kompetenzbereich eines Vizekönigs bekleideten Statthalter, den Banus. Sowohl der Banus als auch seine Begleiter waren im allgemeinen Ungarn, im Übrigen war aber die ungarische Herrschaft weniger auffallend. Der kroatische Adel lebte auch im Weiteren nach seinen eigenen Gesetzen und Bräuchen, sogar ins Feld zu rücken war er nur innerhalb der Grenzen seines Landes verpflichtet. Es kam vor, dass ungarische Herren Besitzschenkungen auf kroatischem Boden erhielten, doch im späten Mittelalter kam das Umgekehrte schon häufiger vor. Gewiss ist es dieser spezifischen Situation zuzuschreiben, dass man bis zur Neuzeit kaum den Anzeichen des kroatischen Seperatismus begegnen kann.
Koloman hatte seiner nächsten Eroberung, Dalmatien, eine ähnliche Rechtsstellung zugedacht; doch wurde diese nicht so dauerhaft zu einer ungarischen Besitzung wie das Königreich Kroatien. Der Begriff Dalmatien allein hatte einen ziemlich spezifischen Gehalt. Früher war eine umfassende Verwaltungseinheit des Römischen Reiches so genannt worden, zu jener Zeit wurden aber hierunter eher nur die mediterranen Flecken der felsigen Adriaküste verstanden, in erster Linie die dortigen mit Mauern befestigten Städte von italienischem Charakter und zum größten Teil noch mit lateinischer Sprache: Zara, Trogir, Sibenik und Split, sowie die zahlreichen Inseln, die sich in ihrer Nähe die Küste entlang aneinander reihten. Dalmatien bildete also kein zusammenhängendes Territorium, dennoch wurde es von den im Landesinneren liegenden öden Gebieten, vom eigentlichen Kroatien sowohl durch sein Klima und seine Vegetation als auch durch seine Kultur unterschieden. Eine besondere Einheit war es auch in politischer Hinsicht, weil die dalmatinischen Städte nicht dem König von Kroatien unterstellt waren, sondern sie waren im Rahmen des byzantinischen Reiches verblieben. Ihr Status innerhalb dessen erinnerte am meisten an den von Venedig: in Wirklichkeit genossen sie eine Autonomie, städtische Oligarchen regierten sie, an ihrer Spitze mit dem Erzbischof oder mit dem Bischof. Die Oberhoheit von Byzanz wurde immer mehr nur nominell, zur gleichen Zeit interessierte sich für sie immer mehr auch die Republik Venedig, die zu jener Zeit mit dem Ausbau ihres mediterranen Reiches begann.
Koloman marschierte 1105 in Dalmatien ein und errang rasche Erfolge. Kaiser Alexios Komnenos, der wenig früher für seinen Sohn, den späteren Johannes II., um Piroska, die Tochter von Ladislaus dem Heiligen angehalten hatte, war nicht gegen diese Aktion, für die sich Koloman später damit erkenntlich zeigte, dass er ihm mit einem Heer gegen seinen normannischen Widersacher Bohemund zu Hilfe eilte. Der König zwang Zara nach kurzer Belagerung zur Kapitulation, worauf auch die anderen Städte seine Herrschaft anerkannten. Die Bedingungen waren relativ günstig. Als Zeichen seiner Herrschaft verlangte Koloman zwei Drittel der Zolleinnahmen, doch ließ er die Autonomie der Städte unberührt und bestätigte im Jahre 1108 ihre Privilegien.
Seit der Eroberung der Küste bezeichnete sich Koloman, abweichend von seinen Vorgängern, die „Könige der Ungarn/Magyaren oder Pannonier” waren, als „König von Ungarn, Dalmatien und Kroatien” (1108).9 Diese Veränderung im Titel widerspiegelte zwei wichtige Veränderungen in der Betrachtungsweise. Einerseits die, dass als Gegenstand der königlichen Oberhoheit die Vorstellung des gens der heidnischen Zeit von der Vorstellung des regnum abgelöst wird, das heißt, dass die Herrschaft über die Personen einen territorialen Charakter anzunehmen begann. Andererseits, und das ist nicht weniger wichtig, dass auch die Territorien selbst sich zu institutionalisieren begannen. Die eroberten Gebiete lösten sich weder tatsächlich, noch begrifflich im Königreich Ungarn auf, sondern sie wurden auch weiterhin als besondere Länder aufgefasst, die von der Person des Herrschers – später aber von seiner Krone – zu einer politischen Einheit verbunden wurden. Das „regnum Hungariae” begann sich also sowohl inhaltlich als auch territorial klar zu umreißen. Diese Tatsache war deshalb von großer Bedeutung, weil letzten Endes hierauf später wie auch in den anderen lateinischen Ländern Europas die politische Stabilität der Institution des Königreichs beruhte. Seine Bedeutung ist dann richtig einzuschätzen, wenn wir in Betracht ziehen, dass die damaligen Bildungen mit Staatscharakter des Balkans gerade wegen des Mangels an der Vorstellung des regnum, d. h. infolge des verwaschenen, undefinierten Charakters des Rahmens der politischen Organisation bis zum Ende vergänglich gemacht wurden.
Die Eroberung Kroatiens und Dalmatiens bedeutete in der ungarischen Außenpolitik eine neue Epoche, die Epoche der Expansion, die von dieser Zeit an drei Jahrhunderte hindurch andauerte. Im 11. Jahrhundert musste Ungarn, wie ersichtlich war, nicht nur einmal gegen die Eroberungsbestrebungen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation auftreten, wenn diese auch nur selten tatsächlich die Unabhängigkeit des Landes gefährdeten. Außerdem war Ungarn auch den Einfällen der benachbarten Steppenvölker, der Petschenegen, der Uzen und der Kumanen ausgesetzt. Im Jahre 1091 war es aber zum letzten Mal zu einem Einfall aus dem Osten gekommen, und von da an war Ungarn bis zum Einfall der Mongolen nicht Zielpunkt von ausländischen Invasionen. Ganz im Gegenteil, mit der Herrschaft von Ladislaus und Koloman hatte das Zeitalter der ungarischen Expansion begonnen, die bis zum ersten osmanisch-türkischen Einfall im Jahre 1390 dauerte. In dieser Zeit war Ungarn die führende Macht Mitteleuropas, was bedeutete, dass es sich kaum vor fremden Angriffen fürchten musste, es aber selbst pausenlos seine Nachbarn behelligte. Das Streben nach Expansion ist ein Charakterzug der Epoche, obzwar sich dies nicht so sehr in tatsächlichen Eroberungen äußerte, als eher in pausenlosen Kriegen, nominellen Annexionen und in der kontinuierlichen Erweiterung des Umfanges des Titels des Königs. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts bezeichneten die Árpaden sich schon als Könige von nicht weniger als acht benachbarten Ländern, und diese blieben ganz bis 1918 nominelle Bestandteile der ungarischen Krone.
Die christliche Monarchie
Die auffallendste Entwicklung des 11. Jahrhunderts war die Einführung der christlichen Religion und ihrer Institutionen und der auf dieser aufbauenden christlichen Monarchie. Beide hingen eng miteinander zusammen. Ohne eine feste stabile königliche Macht war diese neue Ordnung nicht aufrechtzuhalten, dem König selbst jedoch verhalf gerade die christliche Lehre zu einem Ansehen, das ihn hoch über die heidnischen Fürsten erhob, und seine irdische Macht über jede Frage erhaben gestaltete. Die neue, schon „von Gottes Gnaden” ausgeübte Macht war nicht nur stabiler als die der Vorgänger, sondern sie hatte auch einen anderen Charakter. Aus der Religion konnte der christliche König für sich ein Ansehen ableiten, an das seine Vorgänger nicht einmal denken konnten, dieses schickte es sich aber, zur Aufrechterhaltung des Friedens und zur Festigung des christlichen Glaubens zu verwenden. Das Königtum bedeutete demnach notwendigerweise eine Institution, die in vielem vom Gewohnten abwich. Die kollektive Sakralität der Dynastie, auf der die Einrichtung des 10. Jahrhunderts vermutlich beruhte, wurde jetzt von der alleinigen Autorität des christlichen Königs abgelöst, gegen die es keine Berufung gab.
Die Grundprinzipien der neuen Ordnung und des richtigen Regierens wurden in einem Stephan zugeschriebenen kleinen Werk unter dem Titel „Libellus de institutione morum” zusammengefasst. Das an die Königsspiegel der Karolinger erinnernde, in seiner Redaktion, in seinem Stil und in seiner Auffassung originelle Werk enthält die „seelischen Ermahnungen” Stephans an seinen Sohn, den Thronfolger, deshalb wird es im allgemeinen kurz „Ermahnungen” genannt. Ein gebildeter ungarischer hoher Geistlicher, vielleicht Erzbischof Astrik, konnte sie um 1015 verfasst haben, doch hatte aller Gewissheit nach auch der König in den Inhalt eingegriffen. Von ihm konnte man wissen, dass er sich im Laufe der Erziehung, als erster in seinem Volk, auch gewisse Kenntnisse in der ars grammatica angeeignet hatte. Der zentrale Gedanke des Werkes war natürlich die Praktizierung der christlichen Tugenden, doch wurden vor allem zwei Anforderungen hervorgehoben, deren Wichtigkeit vom „damals noch schwachen und sich gerade entfaltenden” Zustand des Königreichs Ungarn begründet wurde: einerseits die Aufnahme der „Gäste”, das heißt, der aus dem Ausland kommenden Ritter und Priester, „weil das einsprachige und nach einem Brauch lebende Land schwach und zerbrechlich” ist (nam unius lingue uniusque moris regnum imbecille est et fragile), andererseits die Achtung der alten Bräuche. Sonst wird es nämlich schwer sein, deine königliche Macht in diesem Gebiet zu erhalten, – fügte der König wahrscheinlich aus gutem Grund hinzu.10
In den Ermahnungen gelangte der doppelte, der sakrale und weltliche Charakter der frühen königlichen Macht zum Ausdruck. Der gut bekannten Auffassung des 10. Jahrhunderts nach ist der christliche König (rex) nicht nur der weltliche Herrscher sondern auch der religiöse Leiter (sacerdos) seines Volkes. Obwohl in den Ermahnungen die Wendung rex et sacerdos so nicht enthalten ist, zeugt die gesamte Struktur des Werkes davon, dass Stephan sich seine Aufgabe als Herrscher in dieser doppelten Qualität vorstellte. Den Ausbau der Kirchenorganisation des Königreiches hielt er genauso für seine Aufgabe, wie die Leitung der Politik, und in seiner Gesetzgebung widmete er den kirchlichen und weltlichen Angelegenheiten gleichermaßen seine Aufmerksamkeit.
Über den Prozess der Gründung des Königreiches kann man sich in erster Linie aufgrund der Gesetze des 11. Jahrhunderts ein Bild machen. Von Stephan selbst stammen zwei Gesetzbücher, mit insgesamt 56 (35 bzw. 21) Artikeln. Unter dem Namen von Ladislaus I. sind ebenfalls zwei Gesetzbücher bekannt, das so genannte „zweite” und „dritte” Buch, diese enthalten insgesamt 47 (18 und 29) Artikel. Das dritte Gesetz in ihrer Reihe ist älter, und ist der Meinung von mehreren Historikern nach nicht unter der Herrschaft von Ladislaus, sondern früher, vielleicht unter Salomon (1063–1074) entstanden. Aus der Zeit der Herrschaft von Koloman ist ein Buch erhalten, doch ist dies mit seinen 84 Artikeln viel umfangreicher als alle übrigen. Die Informationen dieser fünf Gesetzbücher werden durch die Beschlusssammlungen von zwei Synoden, der Synode von Szabolcs (1092) und der von Esztergom (um 1100) ergänzt. (Erstere Sammlung wurde früher als „erstes” Gesetzbuch von Ladislaus erwähnt.) In diesen sind Verfügungen in Bezug aufs Weltliche genauso zu finden, wie auch die Gesetze Rechtsnormen mit ausgesprochen kirchlicher Beziehung enthalten.
Urkunden aus dieser frühen Zeit sind nur wenige erhalten, in erster Linie natürlich von den Herrschern. Die früheste datierte ist die Urkunde Stephans aus dem Jahre 1002 über die Bestätigung der Rechte der Abtei von Pannonhalma, die aber nur als interpolierte Fälschung aus dem 12. Jahrhundert erhalten ist. Für früher als diese Urkunde wird jene undatierte Urkunde von Stephan gehalten (dies ist übrigens die einzige in Ungarn in griechischer Sprache), die zu Gunsten des Nonnenklosters bei Veszprém verfügt, und die in einer Transkription von König Koloman aus dem Jahre 1109 erhalten geblieben ist. Die erste Urkunde, von der auch das Original erhalten ist, ist die Urkunde von König Andreas I. aus dem Jahre 1055 über die Gründung des Benediktinerklosters in Tihany. Eine Interessantheit dieser ist, dass in der Beschreibung der Grenzen der dem Kloster geschenkten Besitztümer die ältesten Textteile in ungarischer Sprache zu finden sind (z. B. Feheruaaru rea meneh hodu utu rea, in heutigem Ungarisch: a Fehérvárra menő hadiútra „auf die nach Fehérvár führende Heerstraße”).11 Die ersten Urkunden, die nicht von einem Herrscher stammen, haben die Klostergründungen des Gespans Ottó von Zselicszentjakab (1061) und des Gespans Péter von Százd (um 1067) schriftlich festgehalten.
Die Organisation der Macht
Bei der Schaffung des neuen Systems wurde Stephan von fremden Rittern unterstützt, die überwiegend in der Begleitung seiner Gemahlin Gisela aus deutschen Landen an seinen Hof kamen. Die Hilfe war so bedeutend, dass in der Schlacht gegen Koppány die Zeitgenossen geradezu den Kampf von „Deutschen” und „Ungarn” erblickten.12 Unter den Ankömmlingen war ein bekanntes Geschwisterpaar, Hont und Pázmány, zu finden, die der Überlieferung nach vor der Schlacht Stephan das Schwert umgürteten, sowie der schwäbische Ritter Vecelin, der angeblich Koppány umgebracht hatte. Alle erhielten sie eine bedeutende Rolle zugewiesen in der Regierung des Landes, ihre Nachkommen zählten dann zu den vornehmsten Adligen der Árpadenzeit. Dennoch darf der Einfluss der Fremden nicht übertrieben werden. Zweifelsohne baute die Herrschaft Stephans in erster Linie auf die Unterstützung der eingeborenen Vornehmen auf, die Geisa und Stephan auf ihre Seite zu stellen vermochten. Ihre Zahl konnte bedeutend gewesen sein, weil die Mehrheit der ungarischen Vornehmen des 13. Jahrhunderts, wahrscheinlich mit Recht, ihre Abstammung von solchen Personen herleitete, die an der Landnahme und an den Feldzügen des 10. Jahrhunderts teilgenommen hatten. Ihr hervorragendster Vertreter war Aba, den – oder dessen Vater – sogar Stephan für vornehm genug hielt, um ihm seine Schwester zur Frau zu geben.
Die führenden Persönlichkeiten des Landes, sowohl die fremden als auch die ungarischen Herren, führten den Titel Gespan (ispán), der das ganze Mittelalter hindurch meistens mit dem Wort comes widergegeben wurde. Das Wort ispán stammt aus dem südslawischen Wort zupan, und bezeichnete ursprünglich den Kopf eines ganzen Geschlechts bzw. den Vorsteher eines Bezirks (zupa), in Ungarn bedeutete es vom Zeitalter Stephans an den Würdenträger, der vom König an die Spitze eines Bezirks oder einer Burg gestellt worden war. Vom 11. Jahrhundert an waren die Gespane die wichtigsten Würdenträger des Königreichs. In ihrer Gesamtheit bildeten sie den „Orden der Gespane” (ordo comitum), der in den Ermahnungen neben den Bischöfen als wichtigste Stütze des Herrschers bezeichnet wurde. Die kirchlichen und weltlichen höchsten Würdenträger, also die Bischöfe und die Gespane zusammen, bildeten den königlichen Rat, auf dessen Einvernehmen und Genehmigung sich Stephan selbst mehrmals in seinen Gesetzen berief. Sein angesehenstes Mitglied war von Anfang an der an der Spitze des königlichen Hofes stehende nádorispán (comes palatinus, später in ungarischer Sprache kurz als nádor bzw. lateinisch als palatinus [Statthalter, Reichsverweser] bezeichnet), welche Würde unter Stephan von Aba getragen wurde.
Die neue königliche Macht ruhte auf einer Reihe von ganz neuen Befestigungen. Obzwar nach Anonymus die ungarischen Landnehmer mehrere Dutzend Burgen eingenommen bzw. selbst erbaut hatten, beweist die Archäologie, dass vor dem letzten Viertel des 10. Jahrhunderts keine derartigen Festungen bestanden hatten, dass die ersten von Geisa und Stephan angelegt worden waren. Esztergom, Székesfehérvár und Veszprém, die zum Sitz des Königs oder der Königin bestimmt waren, wurden aus Steinen erbaut, mancherorts wurden die Ruinen einiger spätrömischer Kastelle verwendet, doch waren die im 11.–12. Jahrhundert üblichen königlichen Burgen Plankenburgen mit Gerüsten aus Holzbalken, die durch Erdwälle befestigt wurden, auf denen häufig später dann Mauern aus Steinen angelegt wurden. Im Allgemeinen fassten diese eine Fläche von 2–3 ha ein, die riesige Burg von Sopron aber, die auf den Ruinen des römischen Scarbantia angelegt wurde, und die den Eingang der wichtigsten Landstraße von Westen her bewachte, hatte eine Ausdehnung von 8,7 ha.
Diese Burgen, die bis zum 12. Jahrhundert in lateinischer Sprache als civitas oder urbs bezeichnet wurden, wurden danach als castrum bezeichnet, befanden sich alle in der Hand des Königs und dienten der Verwaltung als lokale Zentren. Zu den meisten, vielleicht zu jeder von ihnen, gehörte von Anfang an je ein Bezirk (parochia, provincia), der als Komitat der Burg (in ungarischer Sprache: megye, vármegye „Burgkomitat”) bezeichnet wurde. Die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes slawischer Herkunft war „Grenze”, deshalb ist es wahrscheinlich, dass die Komitate von Anfang an durch gut definierte Grenzen voneinander getrennt waren. Deshalb konnten sie auch der Kirchenorganisation zugrunde liegen. Der königlichen Urkunde aus dem Jahre 1009 zufolge erstreckte sich die Zuständigkeit der Diözese Veszprém auf vier Burgen (civitas), darunter sind sicher die Bezirke, d. h. die Komitate der vier Burgen zu verstehen.
Die Burgen waren mit ihren Komitaten zusammen von Anfang an den Gespanen anvertraut. Die Beziehung zwischen Gespan und Burg war so eng, dass viele Burgen nach ihrem ersten Gespan benannt wurden. Der Ursprung der meisten gegenwärtigen Komitate geht auf jene zurück, die Stephan begründet hatte, und sogar ihre Grenzen waren nicht selten ganz bis zum 20. Jahrhundert unverändert geblieben. Die Komitate Hont und Abaúj, die nach den Zeitgenossen Stephans dux Hont und nach Aba benannt wurden, wurden erst durch den Frieden von Trianon zweigeteilt, und die bei Ungarn verbliebenen Teile blieben ganz bis 1950 als Verwaltungseinheiten bestehen.
Die Zahl der von Stephan begründeten Burgen und Komitate konnte ungefähr 40 bis 45 ausgemacht haben; doch ist anzunehmen, dass ein Gespan auf dem Weg seiner Stellvertreter mehrere Komitate verwaltete. Es ist kaum annehmbar, dass sich die Macht des Gespans Hont nur auf das winzige Komitat Hont erstreckt hätte, von Aba kann noch weniger angenommen werden, dass er nur sein eigenes Komitat regiert hätte. In unseren Quellen erscheinen die Gespane als Machtfaktoren, die den gleichen Rang mit den Bischöfen hatten, eben deshalb muss angenommen werden, dass sich die Provinz eines Gespans in Bezug auf ihre Ausdehnung nicht sehr von der einen Kirchenprovinz, einer Diözese unterschieden haben konnte. Das erklärt, dass die Gespane nicht selten unter dem Namen „Fürst” (princeps oder dux) erwähnt werden.
Darüber, wie die Herrschaftsorganisation des Königreiches ausgebaut wurde, berichtet die Legende des Heiligen Gellért, in der die Gründung des Bistums Csanád erzählt wird. Wie wir erfahren, hatte in Csanád, das damals noch Marosvár hieß, früher ein Vornehmer (princeps) namens Ajtony regiert, dessen Provinz von den Flüssen Körös bis an die untere Donau reichte. Ajtony war zwar Christ, doch hatte er nicht den römischen, sondern den byzantinischen Ritus angenommen. An seinem Sitz hatte er ein griechisches Kloster gegründet, und ansonsten war er „nur unvollkommen im christlichen Glauben”, da er sieben Frauen hatte.13 Er hatte große Herden von wilden Pferden, zahlreiche Rinder und außerdem auch viele Recken, auf deren Kraft vertrauend widersetzte er sich Stephan und erhob Zoll nach dem Salz des Königs, das aus Siebenbürgen auf dem Fluss Maros transportiert wurde. Deshalb bezeichnete der König ihn im Jahre 1030 als Feind und entsandte seinen Heerführer Csanád gegen ihn, der der Legende zufolge noch als Heide von Ajtony zu ihm übergegangen war. Nach Anonymus war er aber der Neffe (nepos) von Stephan. Ajtony fiel in der Schlacht und auf seinen Posten trat Csanád „als princeps des Königs und des Hauses Ajtony”14. In Marosvár, das seither Csanád genannt wird, wurde ein Bistum gegründet, an dessen Spitze der König den im Bakonywald als Einsiedler lebenden Italiener Gellért berief. Aus der Provinz des Ajtony wurde die Kirchenprovinz des Bistums Csanád.
Ajtony wird in der modernen Geschichtsschreibung meistens als ein dem siebenbürgischem Gyula ähnlicher halb unabhängiger Fürst dargestellt, was jedoch wahrscheinlich unzutreffend ist. Über seine Person ist den Chroniken im Gegensatz zu Koppány und Gyula nichts bekannt, was darauf verweist, dass der Sieg über ihn in seiner Zeit nicht als besonders bedeutende Angelegenheit galt. Übrigens kann man sich nur schwer vorstellen, dass Stephan im Herzen seines Reiches mehrere Jahrzehnte hindurch die Herrschaft eines unabhängigen Fürsten geduldet hätte. Ajtony konnte in Wirklichkeit der Vertreter der heidnischen Aristokratie gewesen sein, der „sein Land” zwar als Erbe, doch als Gespan des Königs regierte. Seine Situation kann man sich der des Aba ähnlich vorstellen, nur mit dem Unterschied, dass er nicht fähig war, Herr seines heidnischen Habitus zu werden, deshalb war dann die Zeit gekommen, als er abgesetzt werden musste.
Die neue ungarische Kirche
Die ausgebaute Kirchenorganisation hatte die Aufgabe, die Herrschaft des Christentums zu sichern. Für die Nachfahren der Teilnehmer an den ungarischen Streifzügen bedeutete aller Wahrscheinlichkeit nach dies eine der größten Erschütterungen. Die Einführung der kirchlichen Hierarchie und der Gesetzgebung war damit verbunden, dass die heidnischen Vornehmen sich die Macht mit neuen Gefährten, mit den Bischöfen teilen mussten, die heidnischen Krieger und Gemeinschaften mussten neue Herren akzeptieren, die nicht nur den Überlieferungen nach fremde Gedanken verkündeten, diese ihnen sogar aufzwangen, sondern, was noch schlimmer war, all das taten sie in einer fremden Sprache, da sie selbst auch Fremde waren. Die namentlich bekannten Priester waren Deutsche, Italiener oder Franzosen, der erste hohe geistliche ungarischer Herkunft, der uns bekannt ist, war Mór, Bischof von Pécs, der kurz vor seinem Tod noch von Stephan ernannt worden war.
Obzwar einigen Historikern nach das erste Bistum, das von Veszprém, noch von Geisa geschaffen worden war, ist der Ausbau der Kirchenorganisation das Verdienst Stephans. Wie über ihn geschrieben wurde, hat er zehn Kirchendistrikte, Diözesen gegründet, an der Spitze mit zwei Erzbischöfen. Das Erzbistum Esztergom war dem Heiligen Adalbert geweiht, der im Jahre 895 auch am Hofe Geisas weilte, und der der Überlieferung nach der Pate Stephans war. Der Erzbischof von Esztergom galt von Anfang an als ranghöchster geistlicher der ungarischen Kirche, und als wichtigstes Vorrecht stand ihm die Krönung des Königs zu. Anfangs waren ihm fünf Suffragane unterstellt: der von Eger, Pécs, Veszprém, Győr und Vác, und es ist uns bekannt, dass die Grenzen ihrer Diözesen, zumindest in Transdanubien, im Jahre 1009 gezogen worden sind. Um 1100 stiftete Koloman noch ein sechstes Bistum in Nyitra. Das zweite Erzbistum wurde in Kalocsa gegründet, doch wurde sein Sitz unter Ladislaus dem Heiligen nach Bács verlegt. Seine ersten Suffragane waren die Bischöfe von Csanád, Siebenbürgen und Bihar, letzterer wurde von 1100 an nach seinem Sitz Nagyvárad (Großwardein) Bischof von Nagyvárad genannt, der Bischof von Siebenbürgen, dessen Sitz Gyulafehérvár ist, behielt seine ursprüngliche Bezeichnung bei. Suffragan von Kalocsa wurde auch das Bistum Zagreb, das wie zu sehen war um 1090 von Ladislaus I. gegründet wurde, außerdem die im 13. Jahrhundert gegründeten Missionsbistümer, das von Szerém und das von Bosnien. Seitdem standen an der Spitze der ungarischen Kirche 14 hohe Geistlichen, doch gliederte sie sich nur in 12 Diözesen, weil die beiden Missionsbischöfe, ihre Besitztümer abgerechnet, keine territoriale Kompetenz hatten.
Für Domkapitel gibt es vom Ende des 11. Jahrhunderts an Angaben, doch zu Körperschaften, die über ein besonderes eigenes Vermögen verfügen, sind sie erst in den Jahrzehnten nach 1150 geworden, als das Vermögen der Bischofskirche zwischen dem Bischof und dem Domkapitel aufgeteilt wurde. An der Spitze der Kapitel in Ungarn stand ein Propst (praepositus), zu seinen Würden-trägern gehörten der Dompfarrer (custos), der Lektor, der Kantor und der Erzpriester (archidiaconus), deren Zuständigkeit sich im Großen und Ganzen auf ein Komitat erstreckte. Auch die ältesten Co-Kokapitel zählten ihren Ursprung von Stephan her, das vornehmste und reichste von ihnen war das zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria geweihte Kapitel in Székesfehérvár. Hierher verlegte der König aus Esztergom seinen Sitz, bei seinem Tod wurde er in der hiesigen Basilika bestattet, und später wurden auch weitere 14 Könige hier beigesetzt, unter ihnen Ludwig der Große (1342–1382) und Matthias Hunyadi (1458–1490). Seit 1038 wurden hier immer die Könige gekrönt und im Laufe des Mittelalters waren dem Kustos des Kapitels die kostbarsten Schätze des königlichen Hauses zur Bewahrung anvertraut, unter anderem auch die heilige Krone ganz bis zum 15. Jahrhundert, bis sie dann in die Burg von Visegrád verlegt wurden.
Parallel zur Organisierung der Kirche ließ sich in Ungarn der Benediktinerorden nieder. Sein erstes und berühmtestes Kloster begann Geisa noch 996 in Pannonhalma zu Ehren des Heiligen Martins von Tours bauen zu lassen, doch von Stephan wurde er dann mit reichen Stiftungen beschenkt. Ebenfalls Stephan gründete die Abteien in Pécsvárad, Zalavár, Bakonybél und Zobor (bei Nyitra), nach diesen folgten unter seinen ersten Nachfolgern weitere Gründungen in Tihany (1055), Szekszárd (1061), in Garamszentbenedek (1075), in Somogyvár (1091) und anderswo. Dem Vorbild der Herrscher folgten nur bald auch die Vornehmen und das Kloster von Gespan Ottó in Zselicszentjakab (1061) stand in seinem Reichtum nicht viel hinter den königlichen Klöstern zurück.
Im 11.–12. Jahrhundert können wir auch einigen Klöstern nach byzantinischem Ritus begegnen, ein solches konnte auch jenes sein, das Stephan für die dort angesiedelten griechischen Nonnen im Tal bei Veszprém gegründet hatte. Die Slawen mussten eine wichtige Rolle in der Missionierung gespielt haben, weil die Grundbegriffe im Zusammenhang mit dem neuen Glauben (keresztény „Christ”, pogány „Heide”, keresztel „taufen”, bérmál „firmen”, püspök „Bischof”, pap „Priester”, barát „Frater”, szent „heilig”, angyal „Engel”, oltár „Altar”, bálvány „Götze”) mit ihrer Vermittlung in die ungarische Sprache gelangt sind, auch von den sieben Tagen der Woche stammen vier aus einer slawischen Sprache (szerda „Mittwoch”, csütörtök „Donnerstag”, péntek „Freitag”, szombat „Sonnabend”).
Die Existenzsicherheit und das Ansehen der Kirche musste auf jede mögliche Art und Weise gefestigt werden. Die kirchlichen Persönlichkeiten waren auch in Ungarn, wie anderswo ebenso, der Zuständigkeit der weltlichen Gerichtbarkeit entzogen, die kirchlichen Gerichte aber konnten in gewissen Fragen, z. B. in Eheangelegenheiten, auch über Weltliche urteilen. Am Ende des 11. Jahrhunderts drang der Wind der Reformen von Papst Gregor auch bis hierher vor, doch ist verständlich, dass die Probleme hier anders geartet waren, und es nicht ratsam war, die neuen Ideen zu übertreiben. Zwar wurde festgestellt, „niemand möge es wagen, eine Kirche zu kaufen oder zu verkaufen”,15 doch können wir sogar im 13. Jahrhundert noch zahlreichen Spuren der Institution der Privatkirche begegnen. Auch der Zölibat konnte damals noch nicht sofort verordnet werden. Die Synode in der Zeit von König Koloman nahm es „mit Rücksicht auf die Schwäche des Menschen” zur Kenntnis, dass sowohl Bischöfe als auch Priester mit ihren Ehefrauen leben, nur wurde vorgeschrieben, dass sie dies „mit Maß” tun sollen,16 die nochmalige Heirat, das Konkubinat und natürlich die Bigamie wurden verboten.
Eine wichtige Existenzgrundlage der Kirche war der Zehnt. Sein Eintreiben war im Allgemeinen bereits von Stephan angeordnet worden, doch wurde die Art und Weise seiner Eintreibung detailliert erst am Ende des Jahrhunderts geregelt. Zu Beginn, bis zum 14. Jahrhundert, wurde ein Zehntel des Ertrags gefordert, in erster Linie von Wein und Getreide. Das Ansehen der Kirche ruhte aber von Anfang an auf ihren Besitztümern. Ihr Vermögen genoss seit Stephan einen besonderen Schutz, und die Gaben und Donationen, die versprochen wurden, durften nicht widerrufen werden. Die Fundierung der Macht der Kirche bedeutete wie überall in Europa in erster Linie, dass bedeutende Güter in ihren Besitz gelangten. Der Abtei von Pécsvárad verlieh Stephan in 41 Dörfern 1136 Sippen, der Besitz des Klosters von Pannonhalma machte bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts ungefähr 2200 Sippen aus. Der Besitz der Bistümer war, weil sie den größten Teil des Zehnten genossen, im Allgemeinen geringer als dieser, das Bistum Eger hatte z. B. insgesamt zehn Dörfer von seinem Stifter erhalten. Im Laufe des Mittelalters nahm aber, vor allem bis zum 13. Jahrhundert, das Vermögen der meisten Institutionen zu, und manche hohen Geistlichen, wie die beiden Erzbischöfe oder der Bischof von Pécs und Nagyvárad verfügten über riesige Besitztümer.
Die Ausrottung des Heidentums
Die Voraussetzung für die Schaffung der neuen Ordnung war die Beseitigung der Einrichtungen des Heidentums. Damit die Herrschaft des Christentums gefestigt bleibt, musste alles verschwinden, was an die Zeit des Heidentums erinnerte. Dies dauerte rund hundert Jahre, doch gelang es so gründlich, dass von der Überlieferung der früheren Zeiten kaum etwas übrig blieb. Dies bedeutet auch Probleme für die Skizzierung und Umreißung dieser Periode, weil von zahlreichen Einrichtungen des 11.–12. Jahrhunderts sich nur schwer entscheiden lässt, inwiefern es neue Schöpfungen oder Fortsetzungen von Vorgeschehnissen der heidnischen Zeit sind.
In erster Linie war natürlich von der religiösen Bekehrung, der Missionierung die Rede, dennoch wurde die heidnische Zeit nicht allein von besonderen religiösen Erscheinungen vertreten, sondern von vielen anderen Dingen, mit denen sie zusammenhängen und in denen sie sich ausdrücken konnten. Anonymus hielt um 1200 sogar noch das für einen heidnischen Brauch (paganismus), wenn das Heer den Fluss auf Schläuchen überquert.17 Die Annahme des Christentums bedeutete also nicht nur, dass neuen Glaubensprinzipien gefolgt wurde, sondern zugleich auch die Annahme der im Kreise der christlichen Völker gewohnten Lebensweise. Und wer zögerte, diese zu befolgen, brachte ungefähr zum Ausdruck, dass er auch in seiner Seele Heide geblieben war. Der Initiator der Revolte des Jahres 1046, der Vornehme Vata, „widmete sich den Dämonen, ließ sich den Kopf kahl rasieren, und ließ nach heidnischem Brauch nur drei kurze Zöpfe übrig”, seine Anhänger aber „begannen Pferdefleisch zu essen”.18 All das war offensichtlich geeignet, heidnische Gefühle – und was dasselbe bedeutete – die Zugehörigkeit zum heidnischen Volk zum Ausdruck zu bringen.
Heidnischer Glauben und heidnische Bräuche hingen deshalb so eng miteinander zusammen, weil sie die diesseitige und jenseitige Seite desselben ethnischen Identitätsbewusstseins bedeuteten. Alle, die sich als Ungarn bezeichneten, führten dieselbe Lebensweise und bekannten sich zu demselben Glauben und unterschieden sich gerade dadurch am deutlichsten von anderen Völkern. Daraus kann darauf geschlossen werden, dass die typischste Institution des Heidentums der „Stamm” gewesen sein konnte. Wie die sieben Stämme auch funktioniert haben, besteht kaum ein Zweifel daran, dass sie in erster Linie all das der Gesamtheit des heidnischen Ungartums in sich enthielten, was heidnisch und ungarisch war. Wahrscheinlich kann damit erklärt werden, dass die Stammesorganisation im Laufe der Landnahme spurlos verschwunden ist, dass sie von ungarischen Quellen nicht erwähnt wird, und dass sogar die Erinnerung an sie ausgestorben ist. Die gründliche Beseitigung des Stammesbewusstseins musste, ist der obige Gedankengang richtig, im Laufe der Einführung des Christentums unter den ersten Maßnahmen enthalten sein.
Für die Einhaltung der an die Stelle der heidnischen Riten tretenden christlichen Vorschriften sorgten die neuen Gesetze. Die ersten Gesetze erließ Stephan schon zu Beginn seiner Herrschaft, indem er die Feier des Sonntags, die Einhaltung der Fronfasten, des Freitags und die Beichte vor dem Tod anordnete. Zum Kirchbesuch wurden alle verpflichtet, „ausgenommen jene, die das Feuer bewachen”, und er setzte eine besondere Bestrafung jener in Aussicht, die „während der Messe leise sprechen und andere stören mit dem Erzählen von eitlen Geschichten”.19 Die Alten wurden nur mit dem Vertreiben bestraft, die Jungen und Gemeinen aber „wurden mit Prügeln und dem Kahlscheren des Haares bestraft”. Spätestens in der Zeit von König Ladislaus (1075–1090) wurde das Halten der Fastenzeit vor Ostern Pflicht, obzwar dies einstweilen nach byzantinischem Brauch galt (d. h. vom Sonntag vor dem Fastnachtdienstag an), und genau wurden auch die anderen zu begehenden rund vierzig kirchlichen Feiertage bestimmt. Stephan schrieb in seinem zweiten Gesetzbuch vor, dass „zehn Dörfer gemeinsam eine Kirche bauen sollen und sie mit zwei Sippen und zwei Dienern, mit einem Ross und einer Stute, mit sechs Ochsen, zwei Kühen und dreißig Geflügel ausstatten sollen. Für ihre Kleidung und für die Altardecke sorgt der König, für die Priester und die Bücher der Bischof”.20 Jenen, die weit entfernt wohnten, wurde später erlaubt, dass sie sich vertreten lassen dürfen, d. h. „statt aller soll einer in die Kirche gehen, auf den Stock gestützt, und vor dem Altar soll er drei Laibe Brot und eine Kerze opfern”. Die frühesten Kirchen waren aller Wahrscheinlichkeit aus Holz erbaut, und am Ende des Jahrhunderts werden schon Kirchen erwähnt, die „wegen ihres Alters zusammengestürzt waren”.21
Mit Rücksicht auf die Polygamie und die patriarchalischen Bräuche widmeten die Gesetze der christlichen Ehe und im Allgemeinen dem Schutz der Frauen besondere Aufmerksamkeit. Das war auch erforderlich, denn für den Mord (er musste häufig sein, deshalb musste er streng bestraft werden!), war einerseits unabhängig von der Person des Täters und vom Rang des Opfers, einheitlich 110 Kälber als Strafe an den König, andererseits als Blutgeld an die Verwandten zu entrichten. Der Mord an der Ehefrau wurde betont nicht in diese Kategorie gezählt. Für sie stand nur den Verwandten Entschädigung zu, die je nach dem Status des Mannes 50, 10 oder 5 Kälber ausmachte, die in flagranti bei der Untreue ertappte Frau konnte der Mann noch Jahrhunderte später ungestraft töten. Dies ging aus den Vermehrungs- und Erbbedingungen hervor. Der König sorgte aber für die Waisen, er verbot es, dass die Witwen nach dem nomadischen Brauch gegen ihren Willen zu heiraten gezwungen wurden, und verurteilte die Überlieferung des Frauenraubes. Die Gesetze traten auch gegen jene auf, „die vor ihren Frauen ins Ausland fliehen”, bzw. „die von ihrem Hass gegen ihre Frau dazu bewegt, sich als Sklave zu verkaufen”.22
Die Spuren des Heidentums
Die Glaubenswelt der Heiden wurde im Laufe der Verfolgungen vernichtet, ohne dass sie aufgezeichnet worden wären. Man kann wissen, dass sie eng mit der nomadischen Lebensform zusammenhingen, in ihr erhalten eine wichtige Stelle die an heiligen Stellen dargebrachten Opfer, innerhalb diese der Ahnen- und der Pferdekult. Einzelne Elemente der Glaubenswelt, so ein patriarchalischer Hauptgott (Gottvater), und sein Widerpart, der Teufel, sind wahrscheinlich in die christliche Lehre eingebaut worden. Eine der zentralen Vorstellungen des heidnischen Glaubens, die Sakralität in allgemeiner Bedeutung (vgl. das alte ungarische Wort igy „heilig”), ist ebenfalls verschwunden, bzw. löste sich in christlichen Begriffen auf (vgl. üdvösség „Heil”, egyház „Kirche”, ursprünglich „heiliges Haus”, ünnep „Feiertag”, ursprünglich igy-nap „heiliger Tag”).
Andere wesentliche Faktoren des Heidentums sind zum Teil zu Aberglauben verzerrt worden, zum Teil in Volksmärchen eingegangen leben sie in der Volkstradition weiter und ihre Spuren waren bis zum 20. Jahrhundert in den verschlossenen bäuerlichen ländlichen Gemeinschaften des Karpatenbeckens zu beobachten. Ein solcher war der „bis zum Himmel reichende Baum”, mit der irdischen, unterirdischen und oberirdischen Welt an seinen Zweigen, außerdem die „doppelte Seele”, eine davon wohnte bis zum Augenblick des Todes ständig im Körper, die andere, die „freie Seele”, entfernte sich von Zeit zu Zeit und „kehrte nur zum Schlafen” in ihn zurück. Alle diese religiösen Vorstellungen sind offensichtlich alter Herkunft, weil ihre nächsten Parallelen in der Glaubenswelt der uralischen und der sibirischen Völker anzutreffen sind und eng mit dem Schamanismus zusammenhängen, in dem wir das Wesentliche der Religion der heidnischen Ungarn ahnen vermuten. Der Schaman (ungarisch táltos), war eine über eine übermenschliche Kraft verfügende Person, die von bestimmten körperlichen Zeichen (sechs Finger, ein Zahn über die Zahl hinaus) zur transzendentalen Beziehung prädestiniert war. Der Weg hierhin ist die im Bewusstseinsverlust mündende Ekstase, die von rhythmischer Musik und Tanz ausgelöst wurde, zur Ausübung seiner Berufung diente die Trommel mit Zauberkraft, die er sich oben vom Weltbaum des Lebens geholt hatte, mit der er, wir wissen es auch aus einem bekannten Kinderreim, unter anderem heilen konnte, doch auch dazu war sie geeignet, wahrzusagen oder Regen auszulösen.
Wenn wir die offensichtlichen Schwierigkeiten berücksichtigen, kann gesagt werden, dass das Christentum relativ leicht und rasch gesiegt hat. Seine Vorherrschaft stand nach der Niederschlagung des zweiten Heidenaufstandes (1061) nicht mehr in Frage, obzwar es auch dreißig Jahre später notwendig war, ein Gesetz gegen jene zu erlassen, die „wie Heiden an Brunnen Opfer bringen oder Opfergaben zu Bäumen, Quellen und Steinen bringen”.23 Die Tätigkeit der Hexen, Quacksalber, Zauberer und Propheten wurde schon von Stephan verboten. Bis zum Ende des Jahrhunderts waren diese Sorgen zu Ende. König Koloman konnte es sich schon erlauben, die Verfolgung der Vampire (strigae) einzustellen, „die es nicht gibt”, und er war es auch, der angeordnet hatte, dass „Christen nur auf dem Kirchhof bestattet werden dürfen”.24 Von der Zeit an finden wir wirklich keine traditionellen heidnischen Friedhöfe mehr, auch keine üblichen Grabbeigaben. Die Synode von Esztergom hielt es um das Jahr 1100 schon für ausreichend, jene, die „irgend etwas feiern, das aus heidnischen Bräuchen herrührt”, nur zum Fasten zu verpflichten.25 All das ist das Zeichen dafür, dass das Christentum endgültig Wurzeln geschlagen hatte.
Die frühesten schriftlichen Quellen verraten auch noch viel von den heidnischen Verhältnissen des 10. Jahrhunderts, in erster Linie vermitteln sie aber ein Bild von der großen Umgestaltung, die in der Zeit zwischen Sankt Stephan und Koloman vor sich gegangen war. Die Bedeutung der Epoche kann im Grunde genommen schwer eingeschätzt werden. Jene soziale und politische Ordnung, die damals entstanden war, ist im 13. Jahrhundert zwar zerfallen, deshalb kennen wir sie, wie es zu sehen sein wird, auch heute nur mangelhaft. Das gesamte Werk Stephans war aber bleibend. An seine Person dachte man auch Jahrhunderte später als letzte Quelle aller Rechte, und nicht nur die Adligen, sondern auch alle anderen gesellschaftlichen Schichten führten ihre Vorrechte auf seine Gaben zurück. Charakteristisch hierfür ist, dass im Jahre 1437 die Anführer des siebenbürgischen Bauernkrieges deshalb Botschafter nach Buda schickten, weil sie glaubten, sich jene Urkunde von Sankt Stephan anschauen zu können, in der ihre Freiheiten festgehalten sind. Zahlreiche Werke des ersten Königs, wie z. B. die Komitate und die Kirchendistrikte, leben auch heute noch. Für die Entscheidung mit der größten Tragweite erwies sich zweifelsohne jene Entscheidung, dass er sich bei der Annahme des Christentums an die römische Kirche angeschlossen hatte. Dadurch ist Ungarn bis heute ein Land mit lateinischer Schrift und Kultur geblieben, mit allen jenen kaum schätzbaren kulturellen und politischen Vorteilen, die sich daraus ergaben.
Anmerkungen
1
Emericus SZENTPÉTERY et. al. (ed.), Scriptores rerum Hungaricarum (SRH), Budapestini, 1937–1938 II. S. 379.
2
SRH II. S. 379.
3
SRH II. S. 379.
4
Imperatoris predicti gratia et hortatu ...Waic ... coronam et benedictionem accepit; Thietmar merseburgi püspökThietmarus Merseburgensis: Chronicon, VIII, 3 (IX, 4); Albinus Franciscus GOMBOs (ed.) Catalogus fontium historiae Hungaricae (Gombos), Budapestini, 1937–1938, III. S. 2203.
5
SRH I. S. 323.
6
SRH I. S. 332.
7
SRH I. S. 421.
8
Cum rege Ungarorum Colomanno, super reges universos suo tempore degentes litterali scientia erudito; Chronicae Polonorum usque ad a. 1113 libri tres, II, 29, Gombos I. 490.
9
Georgisu GYÖRFFY et. al. (ed.), Documenta Hungariae antiquissima (DHA) I. (1000–1131), Budapestini, 1992. S. 357.
10
SRH II. S. 625, 626.
11
DHA I. S. 150.
12
Ingruente namque bellorum tempestate, qua inter Theotonicos et Ungaros seditio maxima ex-creverat; DHA I. S. 39.
13
SRH II. S. 489.
14
Quem constituit principem domus regis et domus Achtum; SRH II. S. 492.
15
Synode von Esztergom 43, in: Levente ZÁVODSZKY, A Szent István, Szent László és Kálmán korabeli törvények és zsinati határozatok forrásai. Budapest, 1904. S. 202.
16
Synode von Esztergom 31, in: L. ZÁVODSZKY (wie oben Anm. 15.) S. 201.
17
SRH I. S. 41.
18
SRH I. S. 338.
19
István I:9, I:19, in: L. ZÁVODSZKY (wie oben Anm. 15.) S. 144, 147.
20
István II:1, in: L. ZÁVODSZKY (wie oben Anm. 15.) S. 153.
21
Synode von Szabolcs 11, in: L. ZÁVODSZKY (wie oben Anm. 15.) S. 160, 159.
22
István I:30, Synode von Esztergom 55, in: L. ZÁVODSZKY (wie oben Anm. 15.) S. 150, 204.
23
Synode von Szabolcs 22, in: L. ZÁVODSZKY (wie oben Anm. 15.) S. 161.
24
Kálmán (Könyves) magyar király. Kálmán I:57, 73, in: L. ZÁVODSZKY (wie oben Anm. 15.) S. 191, 192.
25
Synode von Esztergom 7, in: L. ZÁVODSZKY (wie oben Anm. 15.) S. 198.