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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 15:9–35.

FERENC GLATZ

Regionale Geschichtsbetrachtung in Ostmitteleuropa

Die Ungarn und ihre Nachbarn in der Zeit der Staatsgründung

 

„Die Ungarn und ihre Nachbarn in der Zeit der Staatsgründung”, unter diesem Titel wurde am 8.-9. Dezember 2000 von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und dem Europa Institut Budapest eine internationale Konferenz abgehalten. Dies war die größte wissenschaftliche Veranstaltung des Millenniums. Ihr Ziel war es, die ungarische Landnahme in den historischen ostmitteleuropäischen Rahmen einzufügen. Ihr Ziel war es, die sich entfaltende regionale Betrachtungsweise in der Historiographie des Raumes zu festigen. Ihr Ziel war es, die ungarische öffentliche Meinung damit vertraut zu machen, die ungarische Geschichte (und die Gegenwart sowie die Zukunft) in regionale Zusammenhänge einzubetten, damit sie die nationale Geschichte (die Gegenwart und die Zukunft) besser versteht.

Nachstehend werden die Vorträge der Konferenz abgedruckt. (In einigen Fällen in gekürzter Form. In vollem Umfang werden die Vorträge in ungarischer Sprache im Jahrgang 2001 der Zeitschrift „Történelmi Szemle” [Historische Rundschau] veröffentlicht, in deutscher Sprache werden sie im Band 15 der Jahrbuchserie „Begegnungen” des Europa Instituts erscheinen.)

 

I.
Staatsgründungen zur gleichen Zeit

Beständig gewordene Siedlungsgebiete

Die ersten Staaten des ostmitteleuropäischen Raumes sind annähernd zur gleichen Zeit entstanden.

Als die Ungarn um die Wende des 9.–10. Jahrhunderts im Karpatenbecken ankamen, lebten ihre späteren (heutigen) Nachbarn im Grunde genommen schon dort in ihren ständigen (heutigen) Siedlungsgebieten. Schreiten wir von Norden nach Süden, von der Ostsee bis an die Adria bzw. auf dem bis an den Unterlauf der Donau reichenden Gebiet voran: die polnischen Stämme (in sie eingekeilt die Preußen bzw. die Litauer); südwestlich von ihnen folgten die Tschechen und dann am nordwestlichen Rand der Karpaten die Mähren. An den westlichen Hängen der Karpaten siedelten dann Deutschsprachige (auf dem Gebiet der heutigen Steiermark) und Slawen (die Karantaner und die Slowenen), zwischen den südwestlichen Karpaten und der Adria die Kroaten, südlich-südöstlich vom Zusammenfluss der Donau und der Theiß die Bulgaren (und vermutlich die Vorfahren der heutigen Rumänen, die Vlachi). Östlich von den Karpaten, im Süden der heutigen Ukraine waren die unter der Oberhoheit der Petschenegen lebenden halbnomadischen Völker, im Nordosten von den Karpaten bis zur Ostsee die Völker der Kiewer Rus’ zu finden.

Zur gleichen Zeit, im 10. Jahrhundert, entstehen dann die ersten festen Staatsgebilde dieser Völker: es bildet sich ein fürstliches Zentrum heraus, das die ethnisch-sprachlich verwandten Völker organisiert und die auf dem Territorium Lebenden zur einheitlichen Steuerpflicht bringt. Außerdem steht hinter jeder einzelnen dieser Staatsorganisationen die sich verbreitende christliche Kirche, die aufgrund der Zehn Gebote die neue Eigentums- und Familienordnung und den identischen Gottesglauben (Monotheismus) verkündet. Die christliche Kirche organisiert und verbreitet sich von zwei Zentren aus, nach zwei Riten: im Westen das kirchliche Zentrum von Rom (in den polnischen, tschechischen, mährischen, kroatischen und ungarischen Siedlungsgebieten), im Osten das kirchliche Zentrum von Byzanz (in den bulgarischen, serbischen Siedlungsgebieten, in dem Gebiet der Rus’ und zum Teil Ungarns). Die zwei unterschiedlichen Lebensprinzipien führen dann zur großen Kirchenspaltung, zum Schisma des Jahres 1054.

Kirche und Staatsorganisation

Mit der Verbreitung des Christentums schreitet dann der Ausbau der Organisation der beiden christlichen Zentren in den noch heidnischen Gebieten voran. Die Entwicklung des Christentums, der Kirchenorganisation und der Staatsorganisation neuen Typs verläuft also parallel zueinander. Wiederum vom Norden nach Süden voranschreitend: bei den Polen ist es der erste, von den Stämmen gemeinsam anerkannte Fürst Mieszko (966), der das römische Christentum annimmt, dann gründet Bolesław Hrabry zwischen 992-1000 ein selbständiges Herzogtum und ein selbständiges Erzbistum (das Erzbistum von Gniezno/ Gnesen). Die heidnischen Tschechen erheben sich gegen ihren Herzog Wenzel, der das Christentum zur Staatsreligion machen wollte; dann unter deutsche Oberhoheit gelangt nehmen sie die neue Religion an (Boleslav 950 bzw. 975); die Mähren verfügen schon über einen Staat, der von den Ungarn zerschlagen wird (906); auf dem Gebiet des heutigen Österreichs wird als Ergebnis der deutschen Staatsorganisation Kärnten zum Herzogtum (976), dann gelangten die Babenberger als Markgrafen an die Spitze der Ostmark und begannen ihr Land Österreich (Ostarrichi) zu nennen (996). An der Adria lebten die Kroaten schon seit dem 9. Jahrhundert unter dem römischen Christentum, im Jahre 924 hatten sie schon einen christlichen König.

Südlich vom Unterlauf der Donau ist schon im 9. Jahrhundert das zu einer Großmacht werdende Bulgarische Reich zu finden. Der gut organisierte bulgarische Staat, an dessen Spitze der Kagan schon im Jahre 865 das byzantinische Christentum annimmt. Die Bulgaren leben in ständigen Kriegen mit den Serben, doch vor allem mit Byzanz, dann mit der Kiewer Rus’.

 

II.
Die Zone des Aufeinanderprallens der westlichen und östlichen Kulturen

Das Aufeinandertreffen der Kulturen geht in der Weltgeschichte auf eine unterschiedliche Art und Weise vor sich. Im Raum von Ostmitteleuropa stieß die eurasische Kultur der Reiter und Nomaden mehrmals mit den Kulturen der sesshaft gewordenen westeuropäischen Bauern zusammen. Die ersten Zusammenstöße trugen vom 1. Jahrhundert n. Chr. an die Römer entlang des an der Donau ausgebauten Limes bzw. im heutigen Siebenbürgen aus. Dann folgten die Hunnen (5. Jahrhundert), dann die Awaren (7.-9. Jahrhundert), dann im 10. Jahrhundert die Ungarn, im 13. Jahrhundert die Tataren, dann erschienen hier im 14. Jahrhundert die Türken.

Die vergleichende und zusammenfassende Darstellung der Gründe des Unterschieds zwischen den östlichen und westlichen Kulturen und der Zusammenstöße lässt noch auf sich warten. Es wird die Aufgabe der vergleichenden und synthetisierenden „Europa-Geschichten” sein, die jetzt in den 90er Jahren wieder zu entstehen beginnen, diesen Vergleich vorzunehmen. (Der beste Vergleich ist im ausgezeichneten Band von Pál Engel, „A magyarok Európában” [Die Ungarn in Europa] Band I [Budapest, 2001] zu finden.) Es ist bekannt, dass die Unterschiede zwischen den natürlichen Verhältnissen, die noch in jener Zeit die Lebensformen der Menschen grundlegend determinierten.

Eurasische Reiter-Nomaden

Die Geschichte der Steppenvölker von der letzten Eiszeit, vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zum 15. Jahrhundert n. Chr. ist in der Geschichtsschreibung der Welt ziemlich unvollständig behandelt. Das Bestehen der uns hier interessierenden Kultur der Reiter und Nomaden wird von der Geschichtsschreibung auf das 1. Jahrtausend v. Chr. bis 1500 n. Chr. gelegt. Klimatische Veränderungen und die das Territorium des Irans verlassenden iranischen Völker bestimmen die Geschichte dieser rund 2500 Jahre auf der Steppe. Die aus dem Iran stammende Pferdezucht und die Eisenbearbeitung sind in dieser Lebensform entscheidend. Die wichtigste Quelle der Nahrungsgüter ist die nomadische Viehhaltung (vor allem von Pferden und Schafen), das Vieh wird von einer Weide auf die andere getrieben. Ihr alltägliches Lebenselement ist der Kampf mit den benachbarten Völkern um die Weiden. Von der wandernden Lebensform wird die Gemeinschaftsorganisation bestimmt. Die Bevölkerung lebt in einer sich auf blutsmäßig-verwandtschaftlicher Grundlage organisierenden Gesellschaftsordnung, wo die Familien Geschlechter und die Geschlechter Stämme bilden. Vor allem leben sie in Zelten, in Jurten, den bedeutenden Teil ihres Lebens verbringen sie zu Pferd. Ihre Götter (Göttervorstellungen) hängen mit der Natur zusammen. Sie sind außerordentlich gute Kämpfer, harte Menschen, die ständig mit der Witterung und der Natur im Kampf stehen. Ihre Kampftechnik ist sehr effizient: sie sind unübertreffbare Reiter, die während des Reitens außerordentlich gut Pfeile abschießen. Sie haben erfindungsreiche, die natürlichen Gegebenheiten – die von den Flüssen, Tälern, Wäldern gebotenen Kampfumstände – gut ausnutzende Anführer.

Von der chinesischen Großen Mauer ganz bis zum Unterlauf der Donau, bzw. bis zu den Karpaten beherrscht diese Kultur die Steppe. Die verschiedenen nomadischen Völker bedrohten sowohl die sesshaften Gesellschaften in China (an der östlichen Grenze der Steppe) wie auch die entlang der Donau siedelnden (in den westlichen Grenzgebieten der Steppe). Von den Chinesen wurde gegen sie die Große Mauer und von den Römern der Limes gebaut. Wenn sich auf der Steppe eine Volksbewegung in Gang setzte, wenn sich ein stärkerer Nomadenstamm herausbildete, wenn neue Reiche gegründet wurden, wurden andere an das Randgebiet gedrängt, und dann erschienen in den „zivilisierten” Gebieten die „Barbaren”. Hunnen, Sarmaten, später mongolische Tataren und Petschenegen fielen bis zum Jahr 1500 n. Chr. sowohl in die chinesischen, als auch in die ostmitteleuropäischen slawischen, römischen Gebiete ein. (Bis im ostmitteleuropäischen Raum feste Staatsgebilde entstanden: im 10. Jahrhundert das polnische, ungarische und bulgarische Reich, und bis dann der russische Fürst im Jahre 1502 die berühmte Goldene Horde der Tataren zerschlug, doch bestehen Fürstentümer der Tataren bis 1783.)

Die Ungarn lebten ganz bis zum 9. Jahrhundert als ein kleines Volk in der Reihe dieser Steppenvölker. Und die Wellen der Steppenvölker stoßen sie in das Karpatenbecken hinein.

Sie werden vom den sesshaften, zivilisierten (d. h. in Städten wohnenden) Völkern Barbaren genannt. Leider ist die Geschichtsschreibung der im 19.-20. Jahrhundert auf der Steppe entstandenen Weltreiche, Russlands und der Sowjetunion, in den Grundlagen europazentrisch geblieben und hat sich nicht entsprechend mit der Geschichte der Steppenvölker beschäftigt. Wie auch die Erschließung der die Steppenkultur bestimmenden iranischen bzw. tatarisch-mongolischen Kulturen im 20. Jahrhundert, in der Periode der professionellen Geschichtsschreibung, keine entsprechende Unterstützung erhalten hat und diese wunderbaren Kulturen der Geschichtsschreibung der Welt nicht ausreichend genug zugänglich machen konnte. Wie es auch ein Versäumnis der modernen ungarischen Geschichtsschreibung ist, die Zurückgebliebenheit des Studiums der iranischen Kulturelemente belassen zu haben, welche Elemente übrigens anderthalb Jahrtausende hindurch den Lebensrahmen der Vorfahren der Ungarn vor der Landnahmezeit bestimmt hatten. Und genauso erfolgt die Erforschung der türkischen Elemente verspätet. Die Steppenkultur der Nomaden wurde im westlichen Randgebiet mit dem Römischen Imperium gerade an der Donau bzw. in Siebenbürgen konfrontiert, als die hunnischen Heerscharen Attilas bis nach Italien vordrangen, und später, als die Ungarn Italien, Hispanien und die deutschen Lande (zwischen 900-955) erreichten.

Westeuropäische sesshafte Völker

Der Steppenkultur stand die sesshafte und dem Territorium nach organisierte Gesellschaft gegenüber (Gemeinde, bzw. Grafschaft, Herzogtum). Die Angelegenheiten der Gemeinschaft werden meistens von Stadtbewohnern, von den auf repräsentativer Grundlage gewählten Vertretern abgewickelt. Die domestizierte Viehhaltung und ein Getreideanbau – zwar nicht befriedigend, aber doch systematisch – versorgen die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln. Ihre Lebensform beruht auf der friedlichen Produktion und dem Handwerk. Ihr Leben wird von schriftlichen Gesetzen geregelt, die von den Römern im 5. Jahrhundert v. Chr. niedergeschrieben wurden -, diese bestimmen das Verhältnis zwischen Arm und Reich, zwischen Vorstehern und Geleiteten, sie legen die Pflichten des Individuums und die Grundlagen der Verteidigung der Stadt fest.

Die überliefernde Kraft der Schriftlichkeit macht die Anhäufung von Kenntnissen möglich, die aufgestiegene führende Schicht überlässt die Kenntnisse der Nachwelt oder formuliert diese den Lesern und dem Publikum der Theater in historischen Werke, in Dramen oder Gedichten. Von ihnen werden die zeitweise einfallenden Steppenvölker als Barbaren bezeichnet, wie auch von den Griechen alle Völker, die keine schriftliche Kultur hatten, als Barbaren bezeichnet wurden. (Die Literatur steht immer noch registrierbar auf der Grundlage der Bewertungen der mittelalterlichen christlichen Chronikschreiber und der späteren westeuropäischen Geschichtsschreiber, die in ihren Bewertungen den christlichen Lebensprinzipien folgten: sie stellen die Konfrontation zwischen der Kultur der östlichen barbarischen Nomaden [Heiden] und der westlichen zivilisierten griechisch-römisch-fränkisch-germanischen [christlichen] Kultur dar.)

Das Festhalten der Grundrisse des realen Bildes und die reale Bewertung haben begonnen, hoffentlich werden sich die vergleichenden Untersuchungen in der Zukunft intensivieren. Wenn nichts anderes, dann wird die Osterweiterung der Europäischen Union und die wirtschaftliche Globalisierung der Geschichtsschreibung in diese Richtung Anregungen liefern. Und vermutlich werden sich auch die auf dem Territorium der ehemaligen östlichen Kulturen existierenden Staaten, die politischen Systeme Russlands, beziehungsweise der GUS-Staaten, des Irans und Chinas konsolidieren. Die uns hiernach die uralten Erinnerungen ihres heutigen Siedlungsgebietes erschließen werden und diese dann im Vergleich mit den anderen Kulturen der Welt (mit uns) untersuchen werden.

Wie sich auch die historische Bewertung des Zusammenstoßes zwischen den östlichen Steppenkulturen und der westlichen Welt entwickelt haben mag, kann es als Tatsache aufgefasst werden, dass die ungarische Landnahme und Staatsgründung ein Kapitel in diesen Zusammenstößen darstellt.

 

III.
Die Ungarn

Die ungarische Landnahme

Die Ungarn, die Magyaren ließen sich im Jahre 830, auf der Wanderung von der Steppe in westlicher Richtung, im Zwischenstromland, in Etelköz, im östlichen Raum der Karpaten nieder. Ihr Bewegungsradius breitete sich von hier aus in westlicher Richtung auf das Karpatenbecken, im Süden ganz bis zum Unterlauf der Donau aus. Hier ist von den bekannten Kampf- und Handelsradien der Völker der Reiternomaden die Rede. (Diese werden bestimmt von den Jahreszeiten, von den zu Pferd aufzusuchenden Gebieten, von den aus der stammesmäßig nationalen Organisation resultierenden Anforderungen der Betreuung der Nachfahren.) So finden wir dann nach 830, in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts die Ungarn immer wieder in den östlichen bzw. nördlichen Grenzgebieten des Siedlungsgebietes der westeuropäischen und östlich-byzantinischen christlichen Kulturen. Es ist bekannt, dass von 861 an die schriftlichen (ungarischen) Quellen darüber schreiben, dass die Ungarn in erster Linie als angeworbene Verbündete in den fränkisch-slawischen Zusammenstößen kämpfen und genauso treten sie auch im Süden an der Unteren Donau in den griechisch-bulgarischen Konfrontationen auf, wenn man will als „Söldner”. Eine Folge dieser Bewegung der Ungarn (861–955) ist die ungarische Landnahme. 895-896 befanden sie sich auf der Flucht vor den starken Petschenegen, die damals große Gebiete östlich der Karpaten beherrschten. Sie kamen in das Karpatenbecken gezogen, von dem sie vermutlich durch die früheren Kämpfe gute Informationen hatten. Sie blieben hier und vernichteten die einzelne Teile des Karpatenbeckens beherrschenden kleinen slawischen sowie fränkischen Herzogtümer.

Die Ungarn trafen um die Wende des 9.-10. Jahrhunderts im einzigen „leeren” Gebiet dieses Raumes, nennen wir den Raum Ostmitteleuropa, im Karpatenbecken ein. Gerade zu der Zeit, in der sich im Dreieck zwischen der Ostsee, der Adria und dem Mittelmeer die Grenzen der Siedlungsgebiete gefestigt hatten.

Die im Karpatenbecken ankommenden ungarischen Stämme gerieten genauso in das Dreieck der Ausbreitung der deutsch-byzantisch-slawischen (bulgarisch-russischen) Reiche wie die Völker der Polen, Tschechen, Kärntner, Slowenen, Mähren, Kroaten, Serben, Vlachi bzw. ihrer Staaten. Der Unterschied bestand darin, dass das Karpatenbecken den Ungarn einerseits eine ausgezeichnete Deckung bot, andererseits dass sie über ausgezeichnet ausgebildete Heerscharen verfügten. Ihre von der Steppe mitgebrachte starke militärische Organisation ermöglichte es ihnen, dass sie als Verbündete der sich in diesem Raum ausbreitenden Großmächte gegen ihre Nachbarn auch selbst als Angreifer auftreten konnten. So nahmen sie bis zur Gründung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (962) an den Zusammenstößen der gegeneinander kämpfenden Deutschen (Bayern, Sachsen) im Norden, und später dann im Süden an den bulgarischen, byzantinisch-russischen Zusammenstößen teil. (Dies wird von der ungarischen Geschichtsschreibung als Zeit der ungarischen Abenteuerstreifzüge bezeichnet.)

Typographie des Staates der Ungarn

Wie bei den benachbarten Völkern wird von der Mitte des 10. Jahrhunderts an die zentrale Gebietsorganisationskraft, die Macht des Fürsten immer stärker, an der westlichen Grenze des Karpatenbeckens beginnt das römische, in der östlichen Hälfte das byzantinische Christentum zu missionieren. Der energische Géza (972-997), dann Stephan (István) (997-1038) gründen zur gleichen Zeit mit den polnischen und Kiewer Fürsten das christliche Königreich Ungarn. Das dann, wie die anderen auch, bemüht ist, sein Siedlungsgebiet abzustecken, wenn es sein muss, gegen die benachbarte Großmacht zu verteidigen, und wenn es möglich ist, die schwächeren Nachbarn seiner Macht zu unterstellen. (Kroatien, Holitsch bzw. die Gebiete am Unterlauf der Donau – im 11.-13. Jahrhundert).

Die Gründung des Staates bewahrte nicht nur das Ungartum vor dem Untergang und dem Aufgehen in der Kultur der größeren Völker in der Umgebung, sondern auch die mit ihm in einer Verwaltungseinheit lebenden anderen, ähnlich kleinen Völker. Am Rand des westeuropäischen Kulturkreises brachte es eine so feste Verwaltungseinheit zustande, die in den darauf folgenden Jahrhunderten die von Osten vordringenden Völker aufhielt. Diese hielt sie auf oder sie wurde gerade zum Schauplatz der Konfrontationen. (Eine solche Rolle spielte später im Norden der polnische Staat, östlich von Ungarn der rumänische, im Süden der serbische und der kroatische Staat.) Diese kontinuierliche Konfrontation der Kulturen brachte in der Geschichte der Ungarn viele Nachteile. (Ständige Kämpfe und die mit diesen einhergehenden materiellen und bevölkerungsmäßigen Zerstörungen.) Doch hatte diese zur gleichen Zeit auch Vorteile: sie gestaltete in diesem Volk die Technik des Zusammenstoßes der unterschiedlichen Kulturen und des Zusammenlebens heraus.

Die Erforderlichkeit des Vergleichs

Die Geschichte der Ungarn und des ungarischen Staates kann nur in Kenntnis der Geschichte der ostmitteleuropäischen Völker bewertet werden – dies ist eine leicht absehbare Wahrheit nach dem vorstehend Gesagten. Wie die Geschichte aller Völker dieses Raumes nur in einem solchen regionalen Vergleich zu verstehen ist. (Hier sei auf die Ausführung dessen verzichtet, was unsere Vergleiche mit der zeitgenössischen Geschichte der nordeuropäischen kleinen Völker – den Völkern Dänemarks, Schwedens, Norwegens, ja sogar Englands – aufweisen.) Das nördliche und östliche Randgebiet des Zentrums der europäischen Kultur, des Frankenreiches, weist zahlreiche Ähnlichkeiten auf: die Ausbreitung des Christentums und der (Staatsorganisations-, Verwaltungs- und Organisations-) Praxis des westlichen (römischen) Typs erfolgte gleichzeitig in nord-östlicher Richtung; der Organisationsradius der christlichen Kultur wächst und breitet sich aus. Die Anpassung, der Widerstand der im Randgebiet lebenden (zumeist) heidnischen kleinen Völker weist auch ähnliche Züge auf. – Doch kann die Erörterung dieser Frage schon das Thema einer nächsten Unternehmung sein, das erste Kapitel der vergleichenden Geschichte der kleinen europäischen Völker.

*

Nachstehend möchte ich eine Debatte über einige, die frühe Geschichte der Staatsgebilde dieses Raumes determinierenden und sich bis heute auswirkenden gemeinsamen Themen anregen. Sozusagen als Einführung in einen beginnenden Meinungsaustausch. Welcher Meinungsaustausch die regionale Geschichtsbetrachtung, deren fachliche Begründung und ihren alltäglichen politischen Nutzen zum Thema haben kann.

 

IV.
Regionale Ähnlichkeiten

Die Expansion der Großmächte

Die dynamische Expansion der Großmächte spielt in der Organisation eines jeden ostmitteleuropäischen kleinen Volkes zu einem Staat und in der Annahme des Christentums eine herausragende Rolle. Westlich und nördlich von den Karpaten expandieren die deutschen Herrscher (das Ostfränkische Reich) in östlicher Richtung, und als sie im Jahre 962 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation begründeten, gehörten auch die heutigen tschechischen und österreichischen Gebiete dazu. Die deutsche Expansion ist determinierend auch bei der Entstehung des polnischen Staates. Die Ostexpansion des Deutschen Reiches bewegt die miteinander kämpfenden polnischen Stämme zur Vereinigung, zur Schaffung der selbständigen Verwaltungs- und Herrschaftsorganisation, des Königreichs.

Östlich und südlich des Karpatenbeckens führt das Kaiserreich Byzanz Eroberungsfeldzüge gegen die bulgarisch-serbischen Gebiete. Im Nordosten erzielt der Herrscher der von den Normannen organisierten Kiewer Rus’, Swjatoslaw (961-972), Eroberungen: er zerschlägt die großen Steppenreiche, das Kaganat der Chasaren und im Süden, auf dem Balkan, auch für eine kurze Zeit Bulgarien. Sein Sohn Wladimir (972-1015) nimmt das byzantinische Christentum an und macht es gewaltsam zur Staatsreligion.

Neuer Glaube, neue Gemeinschaftsorganisation

Die Entstehung des Kranzes der ostmitteleuropäischen Staaten im 10.-11. Jahrhundert ist Bestandteil der Verbreitung der christlichen Kultur.

Heute wird von unserem Beruf schon folgende Beobachtung akzeptiert: die Verbreitung sowohl des westlichen als auch des byzantinischen Christentums war die Verbreitung nicht nur einer Glaubenswelt, sondern auch von Lebensformen. Eine neue Lebensbetrachtung und eine mit der neuen Lebensbetrachtung verbundene Arbeitskultur, eine neue Berührungskultur und eine neue gesellschaftliche Brauchkultur griffen um sich. Die Zehn Gebote und die Grundelemente des jüdisch-christlichen Kulturkreises, die mit dem Alten Testament verbundenen neutestamentlichen Lehren behandelten nur zu einem geringen Teil das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, die Beziehungen zwischen dieser Welt und der Transzendenz. Die Zehn Gebote fixierten in erster Linie die neuen Grundgesetze des alltäglichen Lebens der Menschen. Sie sanktionierten das Privateigentum, dehnten es von den alltäglichen Gebrauchsgegenständen (Werkzeug, Waffen, Pferden usw.) auf die gesamte Welt des Menschen und der Gegenstände aus. Es wird die Einehe, die Erbschaft sanktioniert, was das Verhältnis zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern bestimmt und verändert. Der obligatorische Ruhetag, der obligatorische Gottesdienst, dessen Vorschriften, das gemeinsame Singen, das Verhältnis zwischen Priester und Gläubigen, schaltet neue Begegnungspunkte und Themen in die Berührung zwischen Individuum und Individuum ein. Heute sind dies schon schwer rekonstruierbare Veränderungen.

Neue Gesellschaftsorganisation

Das Christentum ist eng mit dem Umsichgreifen der griechisch-römischen Gemeinschaftsorganisationsprinzipien des Römischen Reiches verbunden. Doch bedeutet die Ausbreitung dieser neuen Prinzipien nicht einfach nur die Verbreitung der Thesen der Gesetzbücher auf den XII Tafeln aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., sondern auch die Umgestaltung der alltäglichen Lebensverhältnisse des Individuums und der Gemeinschaft. Es wurde die Auswahl der Leiter, der Vorsteher der Gemeinschaft festgelegt, in strenge Gesetze wurde der alltägliche Lebensrahmen gefasst: die Besteuerung des Individuums (es wurden die Taxen fixiert), im Interesse der „Gemeinschaft” wurde verfügt, dass die Interessen der Gemeinschaft von besonderen professionalisierten Beamten abgewickelt werden müssen (Funktionen der Verteidigung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, des Schutzes der Natur, der Produktionsorganisation). Das Leben eines jeden Mitgliedes der Gemeinschaft wird in eine einheitliche, klar überschaubare, von Gesetzen (und vom Glauben und von der Kirche) geregelte Ordnung gefasst. Gegenseitige Verpflichtungen wurden zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft und zwischen den unterschiedlichen Kollektiven festgelegt (Ritter, Priester, Wirtschaftsbeamte, Bauern, Handwerker usw.) Die Tätigkeit zur Verteidigung, beim Militär, bei der Gebietsorganisation der Herren (Ritter) war genauso eine Verpflichtung wie die seelsorgerliche, kulturell-politische Tätigkeit der Priester. Wie der Ritter „Pflichten” hatte, genauso musste auch der Priester Leistungen erbringen, wie der Bauer den Zehnten oder den Neunten entrichten musste, oder der Handwerker, der Fischer seine Abgaben in Naturalien entrichten oder in Geld seine Steuern zahlen musste. In dieser Lebensordnung des 10.-11. Jahrhunderts, in der neuen Verwaltungsordnung sind die Grundprinzipien der griechisch-römischen Gesetze, der auf ihnen basierenden fränkischen und germanischen Verwaltungs- und Gemeindeordnung verschmolzen. Der verwaltete Mensch kann nicht lesen, doch weiß er, dass statt des bisherigen Gewohnheitsrechts irgendwo auch ein schriftliches Recht existiert, über das auch der Beamte Rechenschaft ablegen muss. Jahrhundertelang leben in der Berührungskultur das Gewohnheitsrecht und das geschriebene Recht noch zusammen nebeneinander. Doch vermutlich war von Anfang an klar: die neue Ordnung bot dem Individuum eine Sicherheit, sie machte die individuellen Lebensstrategien berechenbar und steigerte dadurch die Leistungsfähigkeit des Individuums. Die jüdisch-christlichen Glaubensprinzipien und die gemeinschaftserhaltende Kraft griechisch-römischen Ursprungs sowie die Verwaltungsordnung fränkisch-germanischen Ursprungs steigerten vermutlich die Sicherheit der Fortpflanzung und des Erbens, zugleich sorgte sie für mehr Sicherheit im nördlich-östlichen Randgebiet Europas vor den Einfällen der Steppennomaden. Und stellte sicher, dass die brachliegenden Felder, die Wälder und Gewässer genutzt werden können. Das heißt: im Verhältnis zwischen Mensch und Natur wurde beschleunigt, dass der Mensch mit seiner Technik allmählich die Überhand gewinnt, was dann nach einigen Jahrhunderten zu den Segnungen der industriell-technischen Revolutionen und zur heutigen Gefahr der Zerstörung der Natur führen wird.

Die Herausbildung des europäischen Kulturkreises

Die neue Ordnung hat die in diesem Raum lebenden Gesellschaften gegen den Zerfall gerüstet und bereitete sie auf die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung des darauf folgenden Jahrtausends vor. (Das Christentum und die neuen Prinzipien der Gebietsorganisation breiten sich genauso im nördlichen Grenzgebiet des Frankenreiches wie auch auf den heutigen Gebieten Dänemarks und Skandinaviens aus. Besonders interessant ist der Vergleich mit der britischen Inselwelt, wo die kontinentale Ausbreitung des 11. Jahrhunderts [1066] auf den heutigen englischen Gebieten auf das alte angelsächsische Recht, auf seine Gesetze, und genauso auf frühere christliche und Wikingerelemente aufbauen konnte.)

Als Ergebnis der Verbreitung der christlichen Religion und der darauf aufbauenden kirchlichen Struktur, sowie der römisch-germanischen Prinzipien der Gebietsorganisation beginnt die ostmitteleuropäische (doch genauso die nord- und westeuropäische) Region zu einem europäischen Kulturkreis zu verschmelzen. Dieser Kulturkreis erwies sich mit seiner jüdisch-christlichen Glaubenswelt, mit seinen griechisch-römisch-fränkisch-germanischen gemeinschaftsorganisierenden und Verwaltungsgrundprinzipien in den vergangenen tausend Jahren als effizienter die in den anderen Gebieten entstehenden Kulturen.

Christentum, Heidentum: eine gemischte Kultur

Wir sprechen von regionalen Identitäten und Ähnlichkeiten in der Entwicklung. Es muss aber auch das Aufeinandertreffen der alten und neuen Lebensordnungen behandelt werden. Die europäische Geschichtsschreibung, falls man hierüber verallgemeinert sprechen kann, merkt häufig hierauf, dass die heidnisch- christlichen, die nomadischen und sesshaft gewordenen Lebensformen nach der Übernahme des Christentums und der Gründung des Staates neuen Typs viele Jahrhunderte hindurch zusammenlebten.

Infolge der Missionierungen – und vor allem der Missionierungen mit staatlicher Kraft – verbreiteten sich die christlichen Kulturelemente und die westeuropäischen Prinzipien der Gemeinschaftsorganisation auch in den Randgebieten allgemein. Doch müssen zwei Umstände berücksichtigt werden: 1) das westliche Christentum gestaltet sich im neuen östlichen Milieu selbst um; 2) eine besondere Kulturvermischung bildet sich heraus.

Das Christentum selbst veränderte sich dadurch, dass es die Kultur des Denkens der bekehrten Völker in sich aufnahm. Mit christlicher Symbolik, in lateinisch-christlicher Versform spricht zweihundert Jahre nach der Gründung des ungarischen Staates das erste ungarisch auf uns gebliebene lyrische Gedicht, die Altungarische Marienklage zu uns. Doch ist es nicht schwer, im Gedicht den aufbrechenden balladenähnlichen gedanklichen Rhythmus der Pusztavölker zu erkennen. Wie auch in den ungarischen Kirchenliedern auf wunderbare Weise die alte Pentatonik fortlebt.

Auch von der Staats- und Gesellschaftsorganisation griechisch-römischen Ursprungs wurden zahlreiche aus den alten nomadischen Lebensformen überkommene Lebenselemente, manchmal auch Herrschaftsgrundprinzipien in sich aufgenommen. Für eine derartige halte ich meinerseits unter anderem in der Geschichte der ungarischen Staatsführung das dauerhafte Wirken der ethnischen, religiösen Toleranz. Ein Grundprinzip der nomadischen Reichsformationen ist: je mehr unterschiedliche Völker zu deinem Reich gehören, desto stärker und reicher bist du, von ihnen brauchst du nur erwarten, dass sie am Krieg teilnehmen und die Steuern bezahlen. Doch nimm ihnen weder ihre Religion, noch ihre Sprache. Das Fortleben dieses Prinzips glaube ich im „geschriebenen Testament” unseres ersten Königs, Stephans, zu entdecken. Wenn er von der Wertschätzung der Fremden spricht, trifft sich dieses alte heidnische Prinzip auf eine spezifische Weise mit dem christlichen Universalismus. Die Anwendung des Grundprinzips erläutert es, weshalb der erste ungarische König seinen Hof auf so natürliche Weise vor den westlichen Rittern geöffnet hat. Die wunderbare Toleranz der Nomaden erwies sich als äußerst utilitäres Herrschaftsgrundprinzip.

Es muss zur Kenntnis genommen werden: die Kultur der in den Randgebieten lebenden Völker wurde nicht einfach ausgetauscht, wie im Körper des Kranken das kranke Blut ausgewechselt wird. Auch die Kultur der die westlichen Lebensformen mit sich hierherbringenden Ritter und Siedler wurde umgeformt. Sogar der streng universell geregelte Rahmen des kirchlichen und Ordenslebens, das die Befehle aus Rom erhielt, verändert sich in Anpassung an die lokalen Verhältnisse. Die Kultur der Völker dieses Raumes ist eine wunderbare Legierung. Vor allem bis zur Zeit der industriellen Revolution im 19. und 20. Jahrhundert.

Vollwertige Kulturen

Unsere Geschichtsschreibungen stellen diesen vermischten Charakter unserer Kulturen nur wenig dar. Um etwas über die Ungarn zu sagen: das Ungartum brachte zahlreiche Elemente der iranischen Kultur von der Steppe (doch gilt dies auch für die mir bekannten Bulgaren), die Verhaltensweisen der Reitervölker mit sich. Wie auch wirklich individuell im Falle der Ungarn und der Bulgaren das Aufeinanderrutschen der kulturellen Elemente der Sprache und der Brauchordnung ist. Im Falle der Ungarn geht es um das Zusammenleben des mehrere Jahrtausende alten Grundmaterials der finnisch-ugrischen Sprache und der darauf gelagerten Wortschatz- und Gewohnheitsformen der Steppenvölker (der iranischen Bulgaren, der Türkvölker). Dasselbe geschieht auch bei den Bulgaren, wo die iranisch-türkische Brauchordnung in vielem fortlebt, während sie die slawische Sprache annehmen.

Die Frage von „Wert” und „Zurückgebliebenheit” lebt in uns, wenn wir das Verhältnis zwischen christlich-heidnischen, griechisch-römischen oder halbnomadischen Stammesverwaltungssystemen behandeln. Genauer gesagt: häufig behandeln wir verschämt die Fragestellung erst bei den geselligen Unterhaltungen nach den Konferenzen. Unserer Meinung nach war hier nicht von der Konfrontation von Kulturen „niederen” oder „höheren” Wertes die Rede, sondern von der Begegnung von zwei vollwertigen, sich sehr voneinander unterscheidenden Lebensformen. Der nomadischen, in erster Linie Vieh haltenden und ständig Feldzüge führenden Lebensform entsprach die Stammesorganisation und die heidnische Glaubenswelt vollkommen. Doch der sesshaft gewordenen und Ackerbau betreibenden, Getreide produzierenden und Viehhaltung betreibenden Lebensform, der Produktionskultur entsprach die neue Organisation – mit christlichen Grundprinzipien und mit der römischen Verwaltungsordnung – besser.

Im Werturteil des Geschichtsschreibers kann es nur eine einzige Norm geben: die Anforderung des Am-Leben-Bleibens und der verbesserten Reproduktion des nur einmal lebbaren Lebens des Menschen. Zur Reproduktion der Lebensbedingungen, zur besseren Verwertung der Natur, zur Sicherstellung der zur Vermehrung erforderlichen Nahrungsgüterproduktion haben sich jetzt die von Mitteleuropa ausströmenden gemeinschaftsorganisierenden Prinzipien als angemessen erwiesen.

Im ostmitteleuropäischen Raum hat im 9.-10. Jahrhundert die Konfrontation, die Begegnung dieser Kulturen begonnen und dauert seit tausend Jahren unter veränderlichen Umständen ganz bis heute an.

Eine anders organisierte Region

Weshalb lohnt es sich, die Aufmerksamkeit auch hierauf zu lenken?

Einerseits deshalb, weil die Ergebnisse der archäologischen, ethnographischen und anthropologischen Detailforschungen im 19. und 20. Jahrhundert die Aufmerksamkeit auf die Kulturvermengung gelenkt haben. (Die sich aus dem schriftlich überlieferten Material der Kirche und der Staatsverwaltung, mit welchem Denkmalmaterial die Geschichtswissenschaft traditionell arbeitet, nicht ergeben.) Wenn wir den Herausforderungen der europäischen Perspektiven nachgeben und uns von einem neuen synthetisierenden Gesichtspunkt aus der Geschichte des Raumes nähern und die Detailstudien der verwandten Wissenschaften (dazu gehören auch die Naturwissenschaften) verwenden, beginnen sich die Unterschiede des mitteleuropäischen Raumes im Vergleich zu den germanischen und fränkischen Siedlungsgebieten wirklich abzuzeichnen. Und auch die Identitäten der einzelnen Völker des Raumes zeigen sich.

Andererseits ist es auch deshalb erforderlich, die regionalen Besonderheiten mit Aufmerksamkeit zu verfolgen, weil wir sonst den Unterschied unseres Raumes in Bezug auf die Anforderungen von heute nicht erläutern können im Vergleich zu den Normen und Anforderungen der westeuropäischen Region. In der ostmitteleuropäischen Region kann man auch heute nicht mechanisch die Rezepte der westeuropäischen politischen Gesellschaftsorganisation anwenden. Ohne die Berücksichtigung der Besonderheiten dieses Raumes gibt es keine erfolgreiche europäische Zusammenarbeit. Die Europäische Union der 18 kann nicht identisch mit der Europäischen Union der 28 sein, sagen wir Historiker und Politiker. Unsere Anforderung in Bezug auf den Unterschied kann nicht mit dem arroganten Maßstab der technischen-zivilisatorischen Entwicklung verstanden werden: hier ist nicht nur von der Konfrontation zwischen „Rückständigkeit – Entwickeltheit” die Rede, sondern von der Integration einer auch gesellschaftlich-kulturell in vielem anders organisierten Region. Und diese auf andere Art und Weise erfolgte Organisiertheit ist in der Geschichte verwurzelt.

Ist diese Anders-Organisiertheit der Index des „Wertes” oder der „Rückständigkeit”? Mögen hierüber die Politiker diskutieren. Wir haben von der Politik aus den Eindruck: die erwähnte Erfolgsgeschichte von ganz Europa hätte sich nicht entfalten können, wenn im 10.-11. Jahrhundert nicht die Erweiterung, die Ausbreitung des „germanisch-fränkischen Zentrums” auf das Randgebiet eingetreten wäre: auf westliche (die heutigen englischen), auf nördliche (die skandinavischen) und auf östlich-südöstliche (überwiegend slawische) Gebiete. Diese Randgebiete waren manchmal Proviant- und Rohstoffreservoire des Zentrums (vom 14. bis zum 20. Jahrhundert), manchmal waren es Produktüberschüsse aufnehmende Märkte (11.-20. Jahrhundert), manchmal stammte von hier der Ersatz der Arbeitskräfte (20. Jahrhundert), manchmal bekam der ganze Kontinent von hier gerade die technischen (18. Jahrhundert England), manchmal die kulturellen Anregungen (19.-20. Jahrhundert). Die tausendjährigen Wechselwirkungen, das Aufeinanderangewiesensein verbergen vor den Denkern unserer Periode die zwei großen Kriege des 20. Jahrhunderts und dann die Zweigeteiltheit Europas. (Zuerst durch das Stärkerwerden Deutschlands – 1933-45, – dann der Sowjetunion – 1945–90.)

Synchronie in der Geschichte, Asynchronie in der Historiographie

Kommt die europäische Geschichtsschreibung ihrer Verpflichtung für die Herausbildung dieser regionalen Betrachtungsweise nach? Dafür, dass das historische Aufeinanderangewiesensein der verschiedenen Regionen Europas klar wird? Dafür, dass die anders organisierten Verhältnisse der verschiedenen Regionen klar werden? Dafür, dass die Identitäten, die gemeinsamen Charakterzüge innerhalb der konkreten Regionen – so auch innerhalb der ostmitteleuropäischen Region – sichtbar werden?

Nein, wir haben den Eindruck gewonnen, dass diese vergleichende ostmitteleuropäische Geschichtsbetrachtung noch immer verspätet ist. Genauer formuliert: die ersten zusammenfassenden Arbeiten mit moderner Betrachtungsweise sind erschienen, doch ist diese den Geschichtsschreibungen dieses Raumes im Grunde genommen fremd.

Eine Synchronie erblicken wir in der sich ereigneten Geschichte, eine Asynchronie in der Geschichtsschreibung! Eine Synchronie, eine enge Verbundenheit ist in der Geschichte der Staatsgründungen nachzuweisen, doch jetzt wollen wir die Synchronie zwischen den Historikern, zwischen den Geschichtsschreibungen herstellen. Unter anderem auch mit dieser Konferenz.

 

V.
Eine neue, regionale Geschichtsbetrachtung

Unser Ziel ist es, die regionale Geschichtsbetrachtung im intellektuellen Leben des Raumes zur Erfüllung zu bringen. Unser Ziel ist es, dass die regionale Geschichtsbetrachtung sowohl die geschichtliche Forschung als auch den Unterricht der Geschichte und die Geschichtsschreibung durchzieht. Alle Forschungen der kleinen Gemeinschaft, der Ortsgeschichte, alle staatsgeschichtlichen, doch genauso die wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlichen Forschungen sollen bereits bei der Stellung der Forschungsziele, bei der bibliographischen Information mit dem von den Staatsgrenzen unabhängigen regionalen Vergleich beginnen. (Hier haben wir jetzt keinen Raum auszuführen, ob die regionale Betrachtungsweise, unserer Auffassung nach, die regionale Behandlung innerhalb des Staates oder die Behandlung die Grenzen überschreitend bedeutet.)

Wodurch wird diese unsere Bestrebung unterstützt und wodurch wird sie behindert? Sie wird dadurch unterstützt, dass im historischen Denken des Raumes die regionale Betrachtungsweise unabhängig von den Staatsgrenzen im 20. Jahrhundert immer enthalten war. Die allgemeine Akzeptanz dieser Betrachtung wird benachteiligt dadurch, dass im 19. und 20. Jahrhundert – und auch heute – das gesamte Begriffssystem der Geschichtsschreibung und des Geschichtsunterrichts, die Themenbestimmung im Rahmen der Nationalstaaten erfolgt. Ja, sogar auch die sogenannten Studien der Universalgeschichte oder der Weltgeschichte sind am häufigsten in einen nationalstaatlichen Rahmen gepresste Vergleiche.

Die Geschichtsschreibungen dieses Raumes sind, seitdem es eine moderne Geschichtsschreibung gibt, Gefangene der nationalstaatlichen Zielsetzungen. Das kann an Hand von zwei Gründen erläutert werden. Der eine Grund ist: die Übernahme der nationalstaatlichen Ziele durch die moderne europäische Geschichtsschreibung, der zweite Grund: dass in der ostmitteleuropäischen politischen Entwicklung die nationalstaatlichen Gesichtspunkte bis heute stark sind.

Die nationalstaatlichen Zielsetzungen der Geschichtsschreibung

Der erste Grund: Die nationalstaatlichen Zielsetzungen der europäischen Geschichtsschreibung. Es ist bekannt, dass sich in Europa die professionelle Geschichtsschreibung und der Geschichtsunterricht gleichzeitig mit der Entstehung der Nationalstaaten herausgebildet haben. Der Staat des 19. Jahrhunderts als Einheit der territorialen Verwaltung mit ihrer ziselierten Verwaltungsordnung, mit dem neuen bürgerlichen politischen System konnte nur in einer gemeinsamen Sprache, in der sogenannten Staatssprache funktionieren. Doch genauso war die Entwicklung der Staatssprache erforderlich in den industriellen Unternehmen, in der Verwaltung und im Verkehrswesen. Der Staat hielt es für seine Aufgabe, mit Hilfe des staatlichen Schulwesens im Staat die Sprache der Mehrheitsnation herauszubilden und auf ein belletristisches Niveau zu heben und die emotionalen-intellektuellen Fäden der Verbundenheit mit der staatsbürgerlichen Gemeinschaft, vor allem das gemeinsame Überlieferungsmaterial herauszugestalten. Neben der Nationalsprache, der Nationalgeschichte wird dann ein wichtiges Unterrichtsfach im staatlichen Schulwesen die Naturkunde, die in erster Linie die geologischen, Fauna- und Floraverhältnisse des Staatsgebietes enthalten. Und diese die staatsbürgerliche Gemeinschaft festigenden Kenntnisse werden dann von den allgemeinen naturwissenschaftlichen Kenntnissen nur ergänzt (von der späteren Physik, Chemie und Mathematik). Es ist also nichts Besonderes daran, dass von der europäischen Geschichtsschreibung im 19., ja sogar auch im 20. Jahrhundert nationalstaatliche Zielsetzungen befolgt wurden und auch heute befolgt werden.

Die institutionellen Systeme, die Lehrstühle, Institute, Zeitschriften, Vereine der Geschichtswissenschaft, die Themen der Wissenschaftler bewegten sich in erster Linie im nationalstaatlichen Rahmen. Und auch die endgültigen Zielsetzungen der historischen Werke dienten der nationalen und staatlichen Festigung und meistens der Hervorhebung der Ausgezeichnetheit der nationalen Gemeinschaft. Es trifft zwar zu, dass sich von Zeit zu Zeit die europäische Eliteintelligenz über diese nationalstaatlichen Gesichtspunkte heraushebt und universelle menschliche Erscheinungen in den historischen Traditionen und in den zeitgenössischen gesellschaftlichen Prozessen der Gegenwart untersucht. So bilden sich im Grunde genommen die moderne Wirtschaftsgeschichtsschreibung, die moderne Sozialgeschichtsschreibung und die moderne Kulturgeschichtsschreibung heraus. (Die europäische Entwicklung ist kein Zufall in den sogenannten Perioden ohne Krieg zwischen 1880 und 1910.) Doch werden von den nacheinander folgenden europäischen Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts und den alltäglichen Konfrontationen der Staaten immer wieder die traditionellen nationalstaatlichen Gesichtspunkte (und die damit verbundene Politik- und Kriegsgeschichtsschreibung) in den Mittelpunkt gerückt.

Wende in der westlichen Geschichtsschreibung (1963)

Eine Wende bringt in Westeuropa die Ziehung der Lehren des Zweiten Weltkriegs. Die Leiter des deutschen und des französischen Staates, die in der Entfachung der drei europäischen Kriege (1870, 1914, 1939) eine entscheidende Rolle gespielt hatten, einigten sich in Bezug auf den Frieden der Geschichtsschreibung. 1963 kam der auch durch das Wort des Staates sanktionierte Ausgleich zwischen der deutschen und der französischen Geschichtsschreibung zustande, der dann 1970 folgte: die neue Ostpolitik der Deutschen, d. h. ein Aufsehen erregender Bruch mit den seit 100 Jahren andauernden Traditionen der europäischen Machtkriege.

Und dieser neuen deutschen Ostpolitik folgt dann auch in der Geschichtsschreibung die Überprüfung der hundertjährigen Traditionen des Berufes, vor allem die Neubewertung der Geschichte des Krieges, der Rolle des Staates. Und es beginnt – ebenfalls in den 1970er Jahren – als Bestandteil der neuen Kommunikationsrevolution das Studium der vom staatlichen Leben unabhängigen Gemeinschaftsformen: einen neuen Elan erhält die Mikrogeschichte, die Geschichte der Welt der Alltage, die Geschichte der Bildung und nicht zuletzt die Wirtschaftsgeschichte. Bereits aus letzterer – und nicht aus der den Staat untersuchenden Diplomatiegeschichte – wachsen die neuen historischen Werke über globale und regionale Werke heraus. Diese behandeln schon auch die Geschichte der von den Staatsgrenzen unabhängigen Prozesse der Weltwirtschaft oder die Geschichte der Kontinente.

Der Nationalstaat in Ostmitteleuropa

In Ostmitteleuropa kommt es nicht zur Dethronisierung der nationalstaatlichen Gesichtspunkte in der Geschichtsbetrachtung (und im Allgemeinen im politischen Denken). Die Geschichtsschreibungen des Raumes folgen bis 1945 der westeuropäischen Geschichtsschreibung, ja sie verstärken sogar noch ihre nationalstaatlichen Gesichtspunkte. Und diese nationalstaatlichen Gesichtspunkte werden auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts noch stärker, als diese in Westeuropa schon in den Hintergrund verdrängt worden waren. Die Ursache hiervon ist: die nationalstaatlichen Gesichtspunkte erhalten auch nach dem Zweiten Weltkrieg, ganz bis zu unseren Tagen, hier einen alltäglichen aktuellen Inhalt.

In diesem Raum konnten sich die selbständigen Nationalstaaten erst spät herausbilden und auch dann konnten sie nur zum Teil die Vereinigung der in diesem Raum lebenden Bevölkerung von identischer Nationalität durchführen. Die Ungarn bildeten im Jahre 1867 ihren neuzeitlichen Staat (auch dann nur als Bestandteil der gemeinsamen Monarchie), die Rumänen im Jahre 1859 (doch schlossen sie nur einen Teil der rumänischen Bevölkerung des Raumes zusammen), die Polen zum ersten Mal im Jahre 1918, die Tschechen im Jahre 1918 (doch mit den Slowaken und den Karpato-Ukrainern zusammen in einem gemeinsamen Staat), die Slowaken erst 1939, die Slowenen und Kroaten im Jahre 1918 (doch mit den Serben, Bosniern und Albanern in einem gemeinsamen Staat, dann die Kroaten 1941 selbständig). Die ersehnte Erfüllung in der Form des Nationalstaates trat sogar erst vor einigen wenigen Jahren, im Jahre 1992 ein, als sowohl die Tschechen und die Slowaken, südlich der Karpaten dann die Slowenen und Kroaten einen selbständigen Nationalstaat bilden konnten. Diese verspätete Herausbildung der Nationalstaaten machte lange Zeit hindurch auch in der Geschichtsschreibung die Befolgung der nationalstaatlichen Gesichtspunkte aktuell.

Diese Geschichtsschreibungen betonten mit Recht in der Wichtigkeit des Nationalstaates den Umstand, dass er die Nationalkultur entfaltet. Es besteht kein Zweifel daran, dass die tschechische, die slowakische, die ungarische, die rumänische und die slowenische Nationalkultur nur dadurch zu einer so genannten vollwertigen Nationalkultur werden konnte, dass die Mehrheitssprache auf einem konkreten Gebiet mit staatlicher Kraft zur Sprache der Verwaltung, der ökonomischen Tätigkeit und des umfassenden Unterrichtswesens gemacht wurde. Doch machte die Geschichtsschreibung des Raumes nicht mehr darauf aufmerksam, – oder ließ bewusst den Fakt außer Acht –, dass in der ostmitteleuropäischen Region sich die Staatsgrenzen und die nationalen Siedlungsgebiete nie gedeckt haben. Gerade deshalb nicht, weil dieser Raum die Zone der Begegnung der östlichen und westlichen Kulturen war, und weil die in diesen Raum einströmenden Steppenvölker, die hier vom 6. Jahrhundert an stärker werdenden Slawen und die sich aus Westeuropa hier ansiedelnden germanischen, fränkischen und sonstigen neulateinischen Völker in einer engen Arbeitsorganisation zusammenlebten. Dadurch wurde die ethnische und religiöse Vielfalt des Raumes geschaffen. Und durch diese Vielfalt wurden die Gesellschaften dieses Raumes dann funktionsfähig und wettbewerbsfähig gemacht, als die Gebietsverwaltungsorganisation dieses Raumes diese Vielfältigkeit tolerierte. Als die Verwaltungsorganisation (der Staat) den Konsens zwischen den zerstreut lebenden Ethnien und Religionen schuf. Als der Staat nicht anstrebte, der auf seinem Territorium lebenden Mehrheitskultur eine Ausschließlichkeit zu schaffen.

Bis 1900 – bis zur Entfaltung der industriellen Revolution in diesem Raum – schien es eine Chance zu geben, dass die Staatsorganisation des Raumes diese tolerante, konsensschaffende Funktion bewahren kann. Die in dem Staat (in der Habsburger-Monarchie) lebenden zwei Mehrheitsnationen, die deutsche und die ungarische Nation, konnten die Herausbildung der Nationalkultur der verschiedenen slawisch-romanischen Minderheiten sicherstellen. Doch regte dieser Umstand die Minderheiten zur Auflösung der Staatsorganisation an.

Es ist bekannt, dass die Weltmächte sich hiernach nicht die demokratische Umgestaltung der Monarchie, sondern die Schaffung der Nationalstaaten von westlichem Typ zum Ziel gesetzt hatten. Dies wurde 1919-1920 realisiert. Es ist bekannt, wie sich dieses nationalstaatliche System als unhaltbar erwies, weil nach 1920 genauso vielerlei Nationen als Minderheiten lebten wie vor 1920. Dies führte zu neuen territorialen Regelungen (1938-45), dann zu Aussiedlungen von Bestandteilen der Nation vom alten Siedlungsgebiet (1945-47). Die nationalstaatlichen Kriege setzten sich weiter fort.

Es ist natürlich, dass die nationalstaatlichen Gesichtspunkte der Geschichtsschreibung aus dem 19. Jahrhundert fortlebten bzw. dass sie sich sowohl in der Forschung als auch im Geschichtsunterricht verstärkten. Das Zitieren der Geschichte wurde zu einer Frage der Alltagspolitik: die Geschichte ist dazu berufen zu beweisen, dass die Vorfahren der eigenen Nation (sei nun auch von Ungarn, Rumänen, Slowaken, Kroaten usw. die Rede) früher da siedelten als die Nachbarn, auf dem Gebiet, wo sie jetzt gerade leben. Das heißt, man war bemüht, mit historischen Argumenten ihr „Recht” auf das gegenwärtige Staatsgebiet zu beweisen. Die Geschichtsschreibung wollte nachweisen, dass diese kleinen Nationen immer Bollwerke des Westens waren, so rechneten sie mit dem Dank der westlichen Großmächte, d. h. damit, dass diese im Kampf der ostmitteleuropäischen kleinen Nationen gegeneinander gerade auf ihre Seite treten werden, wenn aus keinem anderen Grund als zum Dank.

In der sowjetischen Zone

Und was geschah nach dem Zweiten Weltkrieg?

Als die Sowjetunion ihren Einfluss auf den ostmitteleuropäischen Raum ausdehnte, die Ideologie des proletarischen Internationalismus verkündete. Sie wollte die bisherigen nationalstaatlichen Feindschaften beseitigen, die bei der Entfesselung der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts eine große Rolle gespielt hatten. Zur gleichen Zeit breitete sie ihre großrussisch-sowjetische Vorrangstellung nicht nur auf das militärische, sondern auch auf das wirtschaftliche und politisch-ideologische System aus.

Dieses Vordringen der Großmacht brachte in den kleinen mitteleuropäischen Nationen eine neuere Form des Nationalismus, den so genannten Schutzmachtnationalismus zustande. In diesem Schutzmachtnationalismus erhielt die ständige Betonung der nationalen Geschichte und der nationalen Traditionen im Allgemeinen, und nicht zuletzt der nationalen staatlichen Selbständigkeit einen emotionalen und politischen Gehalt. Die kleinere Gruppe der inneren Opposition des sowjetischen Systems zog mit menschenrechtlichen, die größere Gruppe mit nationalen Argumenten für den Abbau des sowjetischen Systems in den Kampf. Die Betreibung der nationalen Geschichte und der „nationale Blickwinkel” der Geschichte erhielt wiederum eine aktuelle politische Rolle. Und auch das ist kein Zufall, dass in der Periode der Beschleunigung des politischen Systemwandels (1989-90) den Historikern eine so große Rolle im Systemwandel zukam. Wie es auch diesem Schutzmachtnationalismus zu verdanken war, dass nach 1990 die bisherigen föderativen Staaten (die Tschechoslowakei und Jugoslawien) in winzige Nationalstaaten zerfielen, was zur Entstehung des selbständigen Tschechiens, der Slowakei, Sloweniens, Kroatiens (und der kleinen Staaten des Baltikums) geführt hat.

Mit Recht fürchtete man sich – und fürchteten auch wir uns – davor, dass der politische Systemwandel, dann die auf seinen Spuren entstehenden kleinen nationalstaatlichen Formationen in der Geschichtsschreibung die neuere Festigung des Nationalismus mit sich bringen werden. Nicht dies geschah.

In der zweihundertjährigen Geschichte der Historiographie des ostmitteleuropäischen Raumes hielt sich zum ersten Mal die Geschichtsschreibung von der Hetze der Kleinstaaten gegeneinander fern. Diese hetzerische staatsnationalistische Propaganda – zwar mit geschichtlichen Argumenten – wurde in erster Linie von der politischen Elite angeheizt. Die führenden Persönlichkeiten und Institutionen der Historikergesellschaft hielten sich meistens fern von den ideologischen Feldzügen mit Hilfe der Geschichte. Es hat den Anschein, dass der Jahrhunderte währende kalte Krieg unserer Geschichtsschreibungen abgeschlossen ist. Auf der Ebene der Politik jedoch wird dieser kalte Krieg weiter betrieben.

 

VI.
Die Grundlagen der regionalen Betrachtungsweise

In der Periode des ostmitteleuropäischen Systemwandels übernahm gerade eine solche Generation in der Geschichtsschreibung die initiierende Rolle, die in der Geschichtsschreibung seit ihrer Jugend mit den nationalstaatlichen Gesichtspunkten brechen wollte.

Die Generation des Systemwandels

Ein determinierendes Erlebnis der Mitglieder dieser Generation war nach dem zweiten Weltkrieg das Wollen, das Bejahen des Neuen, doch nicht auf sowjetische Weise. Ein determinierendes Erlebnis war nicht nur der deutsch-französische Ausgleich und die historiographische Revision, doch war auch die neue deutsche Ostpolitik ein determinierendes Erlebnis. Die einerseits brechen wollte mit der Geschichtsbetrachtung und der politischen Betrachtungsweise der Epoche des Imperialismus und die die Völker des ostmitteleuropäischen Raumes als gleichrangige Nationen behandelte. Andererseits lockerte die neue Ostpolitik die intellektuelle Isoliertheit des sowjetischen Systems und machte es möglich, dass die damalige junge Generation sich um westeuropäische und amerikanische Stipendien bewerben konnte.

Jene Generation, die infolge des Systemwandels in Ostmitteleuropa die führenden Positionen der Geschichtswissenschaft bekleidet, war in Deutschland, Frankreich, England und in den USA ausgebildet worden. Sie erlebte also die Revision der nationalstaatlichen historischen Gesichtspunkte und gelangte zur gleichen Zeit in die neuen fachlich-methodologischen Strömungen hinein: sie untersuchte die vom staatlichen Leben unabhängigen Gebiete der Kultur, der Wirtschaft, und der Gesellschaft. Politisch war sie jedoch desillusioniert vom Mythos des Machtstaates, der von den Historikern seit hundert Jahren befolgt wurde: sie glaubte es nicht mehr, dass die äußeren und inneren unterdrückenden Funktionen des States die wichtigsten sind, sondern sie erkannte im Staat schon immer mehr nur ein solches Instrument, das dazu berufen ist, die gesellschaftlichen Ungleichheiten zu lindern, die Chancengleichheit durch die Geburt und die Kultur zu unterstützen, für die gesundheitliche und kulturelle Bildung zu sorgen und dem Humanen einmal zu erlebenden Leben zu dienen. (Deshalb konnte diese Generation, unabhängig davon, ob sie in der westlichen oder in der sowjetischen Zone geboren wurde, in der sowjetischen Besatzungszone die Gesellschaft von der politischen Macht unterscheiden und fühlte sich ehrlich angezogen von den menschlichen Problemen der im mitteleuropäischen Raum, ja sogar der in der Sowjetunion lebenden sozialen Schichten).

Die Wurzeln der Geschichtsschreibung

Diese Generation war aber gleichzeitig desillusioniert sowohl von den rechten, als auch von den linken Wachablösungen der vorherigen Generation. Sie folgte nicht dem Rezept ihrer Vorfahren, die – ob nun von der politischen rechten, als auch von der politischen linken Seite aus – die fachlichen Ergebnisse der früheren Perioden wegfegen wollten. Diese Generation wendete sich in ihrer Jugend mit Interesse der Geschichte der Historiographie der Region und Europas zu. Und in der historiographischen Information erschlossen sich jene früheren geschichtswissenschaftlichen Bestrebungen, die die Geschichte des ostmitteleuropäischen Raumes von einer regionalen Betrachtungsweise aus behandeln wollten. Die junge Generation in Ungarn las wieder die Werke von István Hajnal und Gyula Szekfű aus den 1930er Jahren, die schon damals von den nationalstaatlichen Lösungen desillusioniert waren und schon darüber sprachen, dass es in der Geschichte der am Rande Europas lebenden sogenannten kleinen Nationen sehr viele Ähnlichkeiten gibt, und dass sie die gemeinsamen fachlichen Foren der dänischen, niederländischen, norwegischen, schwedischen, polnischen, ungarischen, tschechischen und slowakischen, kroatischen usw. Geschichtsschreibungen schaffen wollten. Ebenfalls diese jungen Fachleute wandten sich mit großem Interesse den noch unter uns weilenden Mitarbeitern des 1941 gegründeten Teleki-Instituts zu, die zwischen 1941-1947 die vergleichende Geschichte der Völker des Karpatenbeckens studieren wollten, und die nach 1945 die rumänisch-ungarische, slowakisch-ungarische usw. Versöhnung verkündeten durch die Hervorhebung der gemeinsamen historischen Traditionen. (Kálmán Benda, György Györffy, László Makkai, Domokos Kosáry u. a.)

Doch werteten sowohl die Jungen in Ungarn als auch die in den Nachbarstaaten die Tätigkeit der in den 1930er Jahren, zwar mit unglücklichen politischen Zielsetzungen, gegründeten Südostforschung in München neu und wurden mit Freude junge Mitarbeiter und Zulieferer des sich erneuernden neuen Südosteuropainstituts. (Das Institut wurde damals von M. Bernath hin zu neuen Zielen geleitet, bezog die junge Wissenschaftlergeneration des ostmitteleuropäischen Raumes mit ein.) Zur gleichen Zeit bezog Professor Wandruschka in die Südosthistorische Gesellschaft die jungen Wissenschaftler und die Foren von regionaler Art ein.) Im Mittelpunkt der Arbeiten stand genauso wie in den 30er Jahren, doch jetzt schon mit einem Interesse mit positivem Vorzeichen, die vergleichende Geschichte dieses Raumes, deren Ergebnis die neue südosteuropäische Bibliographie, das biographische Lexikon wurde.

Und diese Generation lernte auch mit Freude von der in den USA entstehenden Ostmitteleuropa-Forschung. Hier hatten die nach 1945 aus Ostmitteleuropa emigrierten Historiker und Politiker jene Lehrstühle und Institute gegründet (in New York István Deák, Péter Sugar, an der Rutgers University József Held und andere), die sich mit regionaler Betrachtungsweise der Geschichte Ostmitteleuropas zuwendeten. (Das Ergebnis dieser USA-Forschungen wird dann das Werk von P. P. Wandycz: The Price of Freedom: A History of East Central Europe from the Middle Ages to te Present, 1992; die umfangreiche Serie von Peter Sugar: A History of East Central Europe, sowie neuerdings die Monographie von L. Johnson: Central Europe, 1996 sein.)

Neue historiographische Zentren

Doch hielt die jetzt während des Systemwandels auf ihre Posten gelangte junge Generation von ihren Lehrmeistern an jenen fest, die immer schon die führenden Historikerpersönlichkeiten in diesem Raum waren, die auf dem Gebiet der regionalen vergleichenden Geschichtsschreibung führend waren. Der Herausgestalter des neuen Profils des ÖOSI war Richard-Georg Plaschka, er war eine führende Gestalt und Lehrer von vielen von uns in diesen Aktionen. Doch spielte eine ähnliche Rolle der 1988 jung verstorbene György Ránki, der Deutsche V. Press, oder von den Deutschen der in den 90er Jahren neben Plaschka so aktive Mainzer von Aretin, oder D. Berindei aus Bukarest bzw. aus Klausenburg / Cluj V. Muresanu. (Und auch in dieser Beziehung muss die weltbekannte Budapester Wirtschaftsgeschichtliche Schule hervorgehoben werden /Zsigmond Pál Pach, Iván T. Berend, Gy. Ránki/, die als führende Gestalten der Geschichtswissenschaften an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften nicht nur die Festigung der regionalen Betrachtungsweise unterstützten, sondern auch die ersten zusammenfassenden europäischen wirtschaftsgeschichtlichen und regionalen wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Synthesen verfassten.)

Die marxistische Osteuropaforschung

Die Geschichtsschreibungen wurden zwischen 1989 und jetzt nicht zu Handlangern der neu entstehenden Nationalismen. Und dabei spielt auf paradoxe Weise auch die marxistische Europaforschung eine Rolle, die den von den Sowjets übertriebenen internationalistischen politischen Gesichtspunkten folgte. Getreu der weltpolitischen Einrichtung der Sowjetunion wurde auch in Moskau ein Institut zur Erforschung der mittel- und südosteuropäischen Geschichte gegründet. Und in diesem Institut hatte jede Nation in diesem Raum so genannte Experten-Referenten. Das Ziel war, dass dies die historische Hintergrundinstitution für die politischen und ideologischen Aktionen der Sowjetunion in diesem Raum sein soll. Genauso diente in den einzelnen besetzten Ländern das „Studium der Geschichte” der Sowjetunion und Osteuropas – so gekoppelt – dem Ziel, dem unter der Leitung der Sowjetunion politisch und militärisch geschaffenen ostmitteleuropäischen Staatenbündnis zu dienen, indem in der Geschichte des Raumes die gemeinsamen Elemente betont werden. Zweifelsohne vermischte sich eine berechtigte und moderne fachliche Zielsetzung mit den falschen Zielen der Machtpolitik. Für jeden Fall wurden in diesen Forschungsinstituten und an diesen Lehrstühlen – in Moskau genauso wie in Warschau, Krakau, Prag, Budapest usw. – solche jungen Leute ausgebildet, die auch in der späteren Phase ihres Lebens engagierte Anhänger der ostmitteleuropäischen vergleichenden regionalen Forschung waren.

Nach 1961, als der direkte sowjetische politische Druck sich auf einzelnen Gebieten des geistigen Lebens gelockert hatte, befassten diese Institutionen sich immer weniger mit den Zielen der alltäglichen Politik der Sowjetunion und immer mehr mit der fachgemäß betriebenen vergleichenden Geschichte der ostmitteleuropäischen Region. Zweifelsohne war es auch ein persönliches Glück, dass im Moskauer Institut der Reformpolitik nahestehende Persönlichkeiten waren, die in erster Linie für ihre Aufgabe hielten, die Geschichte der von den Sowjets geleiteten Länder des sozialistischen Lagers in russischer Sprache bekannt zu machen. So bildete sich auch in Ungarn eine bis heute aktive Schule der Osteuropa-Forschung heraus, deren führende Persönlichkeiten zuerst Endre Arató, dann József Perényi und dann, bis zum heutigen Tag, Emil Niederhauser wurden. Die regionale Betrachtungsweise wurde in der ungarischen Geschichtsschreibung eine akzeptierte Betrachtungsweise und zog aus der vorherigen Generation so ausgezeichnete Kräfte an wie Magda Ádám, Mária Ormos, László Katus u. a.

Die Erneuerung der Monarchieforschung

Und abschließend muss von den Meistern dieser Generation von jenen gesprochen werden, die in den 1960er Jahren von der Befolgung der nationalstaatlichen Ziele desillusioniert waren und die Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie neu behandeln wollten. Als die Geschichte einer Verwaltungseinheit, in der die einzelnen Nationen und gesellschaftlichen Schichten auf dem Niveau der Zeit zu einer relativ freien menschlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Geltung kamen. Hierher gehören die Namen des vorstehend bereits erwähnten Richard-Georg Plaschkas, des Österreichers Engel-Jánossy, der Tschechen Havranek, Koalka, der Polen Batowski, Felczak und vor allem des Ungarn Péter Hanák. Die in den 1960er Jahren begonnenen Bände über die Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie behandelten bereits regionale, wirtschaftliche, politische und ethnische Prozesse.

Die Geschichte der Historiographie der ostmitteleuropäischen Region wird ein spannendes Thema der Geschichte der Systemwandel sein. Zweifelsohne wird dies eine Erfolgsgeschichte in der Geschichte des Systemwandels sein.

 

VII.
Über die Zukunft

Die heutige Konferenz will einen Anfang darstellen. Der Anfang einer Serie von Aktionen, in deren Verlauf wir systematisch die vergleichende Geschichte der verschiedenen Epochen des ostmitteleuropäischen Raumes zu behandeln beginnen. Beginnen wir es jetzt mit den Staatsgründungen. Doch setzen wir es dann fort, sei es mit der mittelalterlichen Agrarrevolution, oder mit der Geschichte der großen Strömungen der Kultur, der Gotik, der Renaissance, des Barocks, der Aufklärung, der Romantik, des Historismus oder des belletristischen neuen Realismus in diesen Regionen. Doch besteht hier auch der Bedarf zur Behandlung der regionalen Integrationspolitik (denken wir nur an die Anjous, die Luxemburger, die Jagellonen, die Habsburger), oder an die Lage des Raumes in der Entfaltung der europäischen Geldwirtschaft (14.-15. Jahrhundert) oder in der Entwicklung des Weltmarkts im 16.-17. Jahrhunderts. Und hier kann die Vielzahl der ihres regionalen Vergleichs noch harrenden Themen aufgezählt werden, über die Geschichte der industriell-technischen Revolutionen, der diktatorischen Herrschaftssysteme oder der sozialen Bewegungen. Und dies soll deshalb erfolgen, damit die in der Geschichte des Raumes vorhandene Synchronie auch in Bezug auf die Geschichte in eine Synchronie gebracht wird. Doch auch aus dem Grund, weil jetzt am Neubeginn nach der sowjetischen Besatzung die ehrliche und genaue Erschließung der regionalen geschichtlichen Interessen oder Gegeninteressen auch in der Gegenwart die gemeinsamen oder abweichenden wirklichen Interessen nachweisen kann. Ist doch das Studium der Geschichte nicht nur interessant, sondern auch nützlich.