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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 25:194–203.

BERTALAN ANDRÁSFALVY

Bildungs- und Kultusminister (1990-92)

 

In wie weit betrachteten, bzw. betrachten Sie die Bewahrung der Minderheiten als Aufgabe der staatlichen Kulturpolitik, und welche Mittel standen, bzw. stehen Ihnen zu diesem Zweck zur Verfügung?

Die Bewahrung der nationalen Kultur ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Entfaltung und Perfektion des Individuums. Die Aufgabe des Staates ist, allen zu ermöglichen, den Weg zur Selbstentfaltung und Perfektion zu finden, und dadurch ein volles, reiches Leben zu führen. Um ein volles Leben führen zu können, braucht man auch zu wissen und zu erleben, dass man zu einer Nation gehört.

Alle Menschen sind großartig. Wie Endre Ady an einer Stelle formulierte, ist der Mensch „ein individuelles, unersetzliches und einmaliges Wunder”. Es genügt aber nicht, das von sich selbst zu wissen, man muss es auch zeigen können, damit es den Anderen klar wird, wer man ist, welche Werte, eigenartige Eigenschaften und Gedanken man in sich trägt. Das ist der einzige Weg, sich in der Gesellschaft allgemeine Achtung zu erwerben, und sich von Anderen geliebt zu machen. Dadurch gehört man zu Personen, die einen lieben: zu einem gewählten Partner oder zu den Eltern, die einem die Sprache beibrachten, mit deren Hilfe man seine Menschlichkeit, Persönlichkeit und Großartigkeit ausdrücken kann. Es gibt ja nicht nur die gesprochene Sprache und das verbale Zeichensystem. Die Melodie, die Musik, die Bewegungen und Verhaltensweisen haben auch eine Sprache, die sich in Jahrhunderten ausbildete, und die wir noch in unserer Kindheit zum Ausdruck und Erleben unserer Gedanken und Gefühlen lernten. Die Liebe hat bestimmte „Kreise”. Die gegenseitige Liebe der Eltern und Kinder ist auch in der Tierwelt zu beobachten. Später erwächst eine noch größere Liebe, man wählt jemanden, für den man seine Eltern verlässt, und so werden sie „ein Körper und eine Seele”. Man sucht immer seine andere Hälfte, jemand, der sein Leben vollständig machen kann. Meine Gattin ist eine dieser vollständig machenden Hälften, aber es gibt noch zahlreiche Andere, von denen ich meine Sprache, die Lieder und Tänze, die Verhaltensweisen und Wertordnungen, bzw. die Benutzung von Formen und Farben, d.h. die Kultur lernte. Für diese würde ich sogar meine Frau und Kinder verlassen. (Viele historische Persönlichkeiten hatten das für die Freiheit ihrer Nation getan).

Der Staat und die Bildungspolitik soll die Übergabe dieses Kulturerbes an späteren Generationen versichern und unterstützen, um dadurch das Identitätsbewusstsein zu verstärken, und das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit zu steigern. Darüber hinaus soll er dafür sorgen, dass alle die Möglichkeit zum Erwerb des nötigen Wissens, und die Mitteln zum Erlernen des geistlichen Erbes der Menschheit haben. Es ist auch die Aufgabe des Staates, die ungestörte Übergabe der moralischen Werte, und die Integrität und Ganzheit der Nation zu versichern. Der Freiheits- und Nationsschutz, das Militär-, und Gesundheitswesen und die Bildung sind also Aufgaben des Staates, die nicht an Unternehmern, Söldnern, nicht einmal an lokalen Selbstverwaltungen übergeben werden können. Die Bildung darf nicht von den unterschiedlichen finanziellen Umständen der Selbstverwaltungen, bzw. der Laune der politischen Elite und verschiedenen Parteiinteressen abhängen. Die Bildung ist eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse, und soll genauso unabhängig sein, wie das Rechtswesen, die Judikatur, das Gesundheitswesen und das Militärwesen.

Das öffentliche Ausbildungswesen hat mehrfache Aufgaben. Es soll nicht bloß das Wissen vermitteln, das zum materiellen Wohlsein, zur wirtschaftlichen und technischen Effektivität erforderlich ist, es soll auch zum Glück der einzelnen Menschen, und ihrer geistigen und seelischen Bildung beitragen. Daneben soll es auch das die grundlegende Prinzip der Solidarität und Liebe verkünden, und der Idee des Guten und Wahren dienen. Die Frage ist nun, wie soll das erreicht werden?

Im Kindergarten soll die schöne, gewählte, dichterische Sprache beliebt gemacht werden, womit alle Gedanken und Gefühle ausgedrückt werden können. Das soll vor allem durch Singen, Tanzen und Rollenspielen erreicht werden. Wie Zoltán Kodály schrieb: „Das Aufrechterhalten von alten Spielen ist ein primäres kulturelles und nationales Interesse. Sie sind einerseits echte Fundgruben des unbewussten Ungarnseins. Diese unbewussten Elemente haben eine bisher kaum erkannte Rolle in der Herausbildung des nationalen Charakters. Wer diese Spiele als Kind nicht gespielt hatte, ist weniger ungarisch. Das komplexe Gefühl des Gehörens zu einer Nation ist geringer und mangelhafter bei einer solchen Person. Eine Reihe von typisch ungarischen Formen, Melodien, Sprüchen und Bewegungen fehlen aus ihrem seelischen Leben. Die Erziehung soll dafür sorgen, dass der Ausdruck „ich bin ungarisch” für jeder eine möglichst reiche und bunte Bedeutung hat, sonst wird es zu einer leeren Phrase. Andererseits ist das menschliche Wert dieser Spiele auch groß: sie steigern das Sozialgefühl und die Lebensfreude. Es gibt kein besseres Medikament gegen die Altklugheit der heutigen Kinder. Jedes Volk, jede Nation kann dasselbe von ihren traditionellen Kinderspielen sagen: sie vermitteln Patriotismus, ohne dass sie zum Hass, der Verachtung oder Besiegung von Anderen erziehen würden. Warum ist es so?

Es ist so, weil es in den traditionellen Volksspielen keinen Sieger oder Besiegter gibt, keinen erster, zweiter oder letzter Platz. Die Freude des Spieles ist nicht daran, einen Anderen zu besiegen – wie es heute in fast allen Spielen der Fall ist: in olympischen Spielen, Wettkämpfen, Quiz-Spielen, Sing-, Tanz-, Studienwettbewerben, und Schönheitskonkurrenzen, auch in Gesellschafts- und Kartenspielen. Die traditionellen Volksspielen vermitteln das Gefühl und die Freude der Zusammengehörigkeit, die Ringeltänze z.B. geben das Erlebnis des gemeinsamen Singens und der harmonischen Bewegung. Die Kinder haben sehr viel Spaß an solchen Aktivitäten, sie bekommen eine Rolle, können sich als Mitglieder einer Gemeinde wichtig fühlen, und freuen sich über die Liebe und „Solidarität” der Anderen. Zur gleichen Zeit werden die Kinder ganz entmutigt und verbittert, wenn sie in einem wettbewerbartigen Spiel nicht gewinnen – das sehe ich an meinen eigenen Enkelkindern. Man sagt, dass die Kinder auf die Herausforderungen des Lebens vorbereitet werden sollen, und auch Niederlagen erleiden sollen. Aber wann? Erst danach, dass sie das Gefühl der Solidarität und Gemeinde kennen gelernt haben. Fünf- oder zehn-jährige Kinder sollen auch nicht über die Sexualität aufgeklärt werden!

Die Freude an Schöpfung soll auch schon im Kindergarten beigebracht werden. Dies kann aufgrund der Volkstraditionen mit einfachen, billigen Grundmaterialen (Kolben, Liesch, Stroh oder Ton) verwirklicht werden. Laut Adler, dem österreichischen Psychologe, werden die Leute, die im Kinderalter die Schönheit der Schöpfung nicht erlebten, gewalttätige, machtsuchende Erwachsenen. Sehr einfache Sachen können als Schöpfung betrachtet werden, z.B. eine Zeichnung, eine Stoffpuppe, ein schönes Lied, Gedicht, Tanz oder Spiel. Wenn man die Freude an Bauen und Schöpfung nicht erlebt, sucht man seinen Spaß in sinnloser Zerstörung. Denken wir nur an zerkritzelte Mauern, zerschlagene Bushaltestellen oder den weggeworfenen Müll. Diese Leute zerstören nicht, weil sie keine andere Wahl zum Überleben haben. Für so ein Benehmen ist die Armut keine Entschuldigung, diese Frechheit kann nur mit Adlers These erklärt werden. Leider kann man sich dagegen nicht einmal mit drastischen Strafen währen. In den meisten Fallen sind es nicht ungebildete, ungeschulte Jugendliche, die diese Weise der Zerstörung wählen, was zeigt, dass die technische Bildung und die Vermittlung von praktischen Informationen nicht genügt. Etwas sehr Wichtiges fehlt aus dem heutigen Schulsystem – die Erziehung auf Schönheit, Gemeinde und Schöpfung. Neulich wurde aber die Stundenzahl gerade bei den Fächern niedriger, die für diese Erziehung die Möglichkeit gegeben hatten (Musik, Sport etc.) Das Mathe-, Physik-, Chemie-, Fremdsprachen- und Computerunterricht ist wichtiger heute als die Literatur, Geschichte, Kunstgeschichte und Religion. Die Förderung der Kunst- und Musikschulen nahm zurück, es gibt immer weniger Schulen, die in Musik spezialisiert sind (ihre Zahl sank in ein paar Jahren von 240 auf 100), es gibt immer weniger Chor-Proben, literarische Selbstbildungsvereine und Theatervereine in den Schulen. Demzufolge steigert sich das Interesse an Kunststunden, die außerhalb des Unterrichts zur Verfügung stehen. Zwischen 1990 und 2002 nahm die Zahl solcher Schulen stark zu (von 175 auf 648), und die Zahl der Lernenden steigerte sich von 71725 auf 230667. In Sportstunden werden die Kinder eher auf die Wettbewerbsmentalität vorbereitet, die Schule muss ja in möglichst vielen Bereichen Erfolge erreichen, sowohl in Fußball, Basketball und Schwimmen, als auch in Mathe- und Physikwettbewerben, sogar in Musik. Demzufolge widmen die Lehrer den talentierten Kindern mehr Zeit und Energie, und die weniger talentierten oder sportlichen Kinder bekommen oft wenige Aufmerksamkeit.

Es sind aber gerade diese weniger sportliche, ungeschicktere Kinder, die die Sport-Stunden bräuchten. Die Schüler, die in naturwissenschaftlichen und praktischen Fächern besser sind, bräuchten bestimmte Übungen, mit deren Hilfe sie ihre Emotionen, Leidenschaften, Einsamkeit und menschliche Beziehungen behandeln und verbessern könnten. Neulich wurden die Kinder, die in einer spezifizierten Schule an Musikunterricht teilnahmen, mit Kindern verglichen, die keinen solchen Unterricht hatten, und das Ergebnis wurde an einem Symposium dargestellt. Hier erfuhr ich, dass die Kinder die an Musik-Unterricht teilnehmen können, wesentlich kreativer und ausgeglichener sind, als die, die so etwas nicht mitmachten. Die Kreativität von Kindern, die Musik spielen und singen können war auch in den Fällen größer, wenn der IQ des jeweiligen Kindes niedriger war. Der Psychologe, der die Studie ausführte, wies darauf hin, dass es gefährlich werden kann, wenn jemand klug, intelligent und talentiert, aber nicht kreativ genug ist, weil man sein Talent und Intelligenz nicht ausnützen kann. An diesem Symposium wurde es auch erörtert, dass die Kinder mit musikalischer Ausbildung die Welt als ein zusammengehörendes Ganzes sehen, und weniger von der zu Hause spürbaren, oft negativen Stimmung abhängen, als die Kinder, die keine „Sprache” zum Ausdruck und Behandlung ihrer Emotionen und Erregungen haben.

Die Voraussetzung für die Bewahrung der kleinen Nationen und das Aufrechterhalten der nationalen Minderheiten ist, dass ihre Mitglieder glückliche, ausgeglichene Menschen seien. Dazu sollen die Erscheinungsformen der nationalen Kultur und Bildung, die leicht verfügbaren künstlerischen Übungen und die Freude an Schöpfung unterrichtet werden. All das kann mit Hilfe der traditionellen Volkskunstarten, Volksdichtung, Volksmusik und Volkstanz beigebracht werden, die zum Ausdruck der Emotionen und zur Kontrolle der Erregungen dienen können. Leute, die ausgeglichen sind und Freude an Schöpfung und Schönheit haben, suchen nicht die Wege der Zerstörung, und wollen keine Feinde haben. Sie wissen auch die Identität und Nationalität des Anderen zu schätzen. Nur eine Mutter versteht die Sorgen und Freuden einer anderen Mutter, nur ein Wissenschaftler versteht die Ergebnisse eines anderen Wissenschaftlers, und nur ein Sportler weiß einen Sieger richtig zu schätzen. Nur diejenigen Leute schätzen die Werte einer anderen Kultur und Sprache, die ihre eigene Nationalität schätzen und erleben können. Die Globalisierung behindert das Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen den kleinen Nationen dieser Region, und das beeinflusst auch die Durchsetzung der Minderheitenrechte negativ. Es wurde wissenschaftlich nachgewiesen, dass die amerikanischen Immigranten, die auf ihrer nationalen Minderheitskultur beharren, viel ausgeglichener und glücklicher sind, als die, die ihre Traditionen ablehnen, und der Mehrheit ähnlich werden wollen.

 

Welche Verfügungen haben Sie während Ihrer kulturpolitischen Tätigkeit zur Aufrechterhaltung der nationalen Minderheiten gefördert? Welche kulturpolitischen Aktionen wurden während Ihrer Amtszeit durchgeführt mit dem Ziel die Kultur der kleinen Nationen oder das Identitätsbewusstsein der nationalen Minderheiten innerhalb der Staatsgrenzen zu stärken?

Es folgt aus meiner Antwort auf die erste Frage, dass ich auch in meiner Amtszeit für die Durchsetzung der nationalen Werte in dem Unterricht war. Als Ethnograph untersuchte ich verschiedene Bereiche der Volkskunst. Ich veröffentlichte meine Ergebnisse in Fachartikeln, beschäftigte mich mit der Bedeutung und Rolle der Volkskunst in unserer jetzigen und zukünftigen Bildung. Daneben hielt ich Vorlesungen und schrieb Lehrbücher. Ich unterstützte das Zustandebringen und die Arbeit der Kunstschulen, und die Ergänzung des Unterrichts in Musikschulen mit Volkstanz und Volksspiele. Die Fachschule für Volkskunst in Fót wurde, zum Beispiel, auch so gegründet.

Es folgt aus den oben geschilderten Prinzipien, dass in meiner Amtszeit die Unterstützung der Minderheitskulturen und die Entwicklung ihrer muttersprachlichen Bildung wichtige Prioritäten waren. Die Zahl der Minderheitsschüler, die an muttersprachlichem Sprachunterricht teilnehmen konnten nahm zwischen 1989 und 1995 zu. In Kindergärten steigerte sich ihre Zahl von 1197 auf 20551, in Grundschulen von 39225 auf 51034, in Gymnasien von 882 auf 1409.

Was die Lage der ungarischen Minderheiten jenseits der Grenze betrifft, verhandelte ich mit rumänischen, slowakischen, ukrainischen, kroatischen und österreichischen Ministern. Meines Erachtens waren die Verhandlungen mit den Rumänen die Bedeutendsten. In 1991 konnten wir erreichen, dass die Studenten, die aus Rumänien nach Ungarn kamen, um ihre Studien an ungarischen Universitäten und Hochschulen zu führen, nicht als Militärflüchtlinge betrachtet wurden. Um diese Studenten unterstützen zu können, wurde das Márton Áron Kollegium zustande gebracht. Die Verhandlungen über den gegenseitigen Austausch von Studenten und Professoren waren vielversprechend, ähnlich zu den Plänen über die Abstimmung von Lehrbüchern, die gegenseitige Akzeptanz von Diplomen und Zeugnissen, die Neueröffnung von ungarischen Bildungsinstitutionen, die Ausgabe von zweisprachigen Büchern und der Gastauftritt von Theatergruppen usw. Es war nicht unsere Schuld, dass in den kommenden Jahren diese Verhandlungen erfolglos abgebrochen wurden und unsere Zielsetzungen nur teilweise verwirklicht wurden. Die Verhandlungen mit der ukrainischen Ministerin über das ungarische Gymnasium in Beregszász (Berehovo), die Zusammenarbeit der Universität in Ungvár (Uzhhorod) und die Hochschule in Nyíregyháza, bzw. das Ungarische Theater in Subkarpatien (Karpato-Ukraine), dessen Schauspieler in Budapest ausgebildet wurden, halte ich auch für erfolgreich. Wir verhandelten über ähnliche Themen mit der kroatischen Bildungsministerin.

Zur Zeit meines Ministeramtes wurde auch mit den Russen eine gute Zusammenarbeit herausgebildet. Es wurde einer ungarischen Ethnologe, Éva Schmidt ermöglicht, unsere kleinsten Sprachverwandten, die Obi-Ugrier, Mansen und Chanten zu besuchen, und ihre Sprache und Kultur zu untersuchen. Es ist ihr gelungen, die Sammlung und Einordnung ihrer Traditionen zu organisieren, und dadurch kam eine moderne volksdichterische Sammlung zustande. Ihre Arbeit ist nicht nur für unsere Sprachverwandten von besonderer Bedeutung, sondern auch für die menschliche Kultur. Ich stellte die nötigen finanziellen Mittel zu dieser neuen, eigenartigen Aufgabe aus den zur Verfügung stehenden Ressourcen bereit. Eine Konferenz wurde in Moskau über die Revolution in 1956 veranstaltet, wo auch die Kommandanten der damals in Budapest kämpfenden russischen Truppen auch zum Wort kamen.

Mit meinem österreichischen Kollegen konnten wir eine besonders gute Beziehung ausbauen, die sowohl in offiziellen Angelegenheiten, als auch in grundlegenden, prinzipiellen Fragen aussichtsvoll war. Der österreichische Minister veranstaltete auch eine Konferenz über die kulturelle Zusammenarbeit und den Schutz der Minderheitskulturen.

 

Gibt es Ihrer Meinung nach einen bedeutenden Unterschied zwischen der Anwendung von kulturpolitischen Strategien bei großen, bzw. kleinen Nationen?

Ich sehe keinen bedeutenden Unterschied zwischen den kulturpolitischen Strategien der großen und kleinen Nationen. Wenn eine Nation die Pflege der nationalen Kultur als Priorität behandelt, kann das auch die Anerkennung der Kulturen der kleineren Nationen und Minderheiten positiv beeinflussen.

 

Hat die politische Wende aus strategischer Sicht positiv auf die Aufrechterhaltung der kleinen Nationen eingewirkt?

Der wichtigste Ertrag des Systemwechsels war die Betonung der Gewissensfreiheit, und der politische Wille, diese Freiheit zu versichern.

Die Auffassung, nach der es eine private Angelegenheit des Individuums ist, zu welcher Nation, Religion, politische Überzeugung und Ursprung man sich bekennt, steht im Gegensatz zu der geschilderten Absicht. Die bei der Zusammenstellung des nationalen Zensus gestellten Fragen wurden aufgrund dieser Strebung formuliert. Die Tatsache, dass etwas zu verbergen ist, weist darauf hin, dass das Bekenntnis bestimmter Sachen gefährlich ist. Ich bin überzeugt, dass die Demokratie und Freiheit und ein menschenwürdiges Gesellschaftsleben nur dort existieren kann, wo man nichts zum Verbergen hat. Das ist unmöglich ohne Werten- und Interessenschutz.

 

In der Zeit der Integration der Verwaltungsgebiete kamen nach 1990 sehr oft Interessensgemeinschaften zwischen den ostmitteleuropäischen kleinen Nationen zustande. Worauf ist es Ihrer Meinung nach zurückzuführen, dass die kleinen Nationen der Regionen die zwischenstaatlichen Kontakte nicht verstärkt zur Bewahrung der kleinen Nationen nutzen, und daran anknüpfend nicht enger im Interesse der auf dem Gebiet der Nachbarstaaten lebenden Minderheiten zusammenarbeiten?

Das größte Hindernis der Zusammenarbeit der Nationen ist, dass die nationale und emotionale Kultur der Leute mangelhaft ist, und die gegenseitige Anerkennung der Kulturen in dem Schulunterricht nicht genug betont wird. In der Volkstradition gibt es merkwürdige Beispiele darauf, wie andere Kulturen bekannt gemacht werden können (durch Familienkontakte zwischen Volksgruppen und Sprachgemeinden, und durch Kinderaustausche).

 

Was halten Sie über die oben angesprochenen Themenbereiche hinaus wichtig für die Förderung der kleinen Nationen?

Unser Schulsystem und die Richtlinien des ungarischen Bildungswesens müssen durchgedacht und umstrukturiert werden.

a) Die öffentliche Bildung und Erziehung ist eine der wichtigsten Aufgaben des Staates. Diese Aufgabe kann nicht den Selbstverwaltungen überlassen werden, weil dadurch das Schulwesen der unterschiedlichen finanziellen Lage der einzelnen Siedlungen, und der Laune der jeweiligen politischen Elite ausgeliefert wäre. Die Schule ist eine öffentliche Angelegenheit. Die Schulen dürfen nicht aufgrund finanzieller Überlegungen geschlossen oder verschmolzen werden. Die Siedlungen, die ihre Schulen aufgeben, können nicht lange am Leben bleiben. Besonders die ländlichen Schulen sollen den Jugendlichen dabei helfen, ihren Beruf, Unterhalt, ihre Zukunft und Gemeinde zu Hause finden zu können. Das Aufrechterhalten der nationalen Minderheiten hat eher in kleineren, homogeneren Siedlungen und in Großstädten wahre Perspektiven. Die talentierten Jugendlichen, die aus kleineren Dörfern kommen, sollen besonders unterstützt werden, weil sie sich in Universitäten und Hochschulen im Nachteil befinden können, was ihre technische Kenntnisse und Fremdsprachen betrifft. Das bezieht sich auch auf die Jugendlichen, die als Vertreter einer Minderheit aus kleineren Dörfern kommen. Diese Jugendliche haben jedoch Eigenschaften, die an Aufnahmeprüfungen nicht getestet werden.

Während des Ministeramts von Zoltán Pokorni kam das „Arany János Programm” zustande, die zur Unterstützung der aus Dörfern kommenden Jugendlichen gemeint war. Gleichzeitig sollte den Jugendlichen beigebracht werden, wie sie ein erfolgreiches Leben an Ort und Stelle, mit Hilfe der natürlichen Umgebung führen können. Mehr Wert sollte auf die landwirtschaftlichen Kenntnisse, und auf die Erkennung der lokalen Gegebenheiten und kulturellen Traditionen gelegt werden. Vieles wird heute in Schulen unterrichtet, nur das nicht, was man mit dem Land anfangen kann, wie man Obst, Traube, und Getreide bauen, und Tiere züchten soll, wie man Wein und andere Agrarprodukte, bzw. „Hungarica” herstellen kann. Früher war dieser praktische Agrarunterricht Teil des öffentlichen Schulsystems. Am Ende des 19. Jahrhundert trug es dazu bei, dass der durch den Mehltau zerstörte Weinbau in Zusammenarbeit des Innen- und Bildungsministeriums wiederhergestellt werden konnte. Der Schutz der kleinen Dörfer und die Unterstützung der bäuerlichen Lebensweise bedeuten gleichzeitig den Schutz der Minderheiten. Ortsgeschichte, die kulturelle Traditionen der Dörfer, bzw. die Vergangenheit und Zukunft des bäuerlichen Lebens sollte im Unterricht mehr betont werden. Leider ist heute eher die Abschätzung der bäuerlichen Lebensweise zu beobachten. In vielen Dörfern gibt es keine Urproduzenten mehr, es gibt viele Brachacker und unbebaute Felder, nicht einmal die Gärten werden kultiviert. Über die ungünstigen wirtschaftlichen Umstände hinaus, fehlt es bei Agrarunternehmen an nötigen Kenntnissen, Lust und Motivation. Das beeinflusst die Minderheiten noch negativer.

b) In Kunó Klebelsbergs Zeit (Ungarischer Minister für Kultur 1922-1931) wurden ungeteilte Gehöftschulen zustande gebracht. Es wurde durch wissenschaftliche Studien nachgewiesen, dass der Unterricht in ungeteilten Schulen auch Vorteile hat. Die Schüler sind, zum Beispiel, selbständiger und kreativer. In Kindergärten wirkte die Zusammenziehung von verschiedenen Altersgruppen, und die drei Altergruppen konnten gemeinsam spielen. Die Verschmelzung von Schulen hindert nicht nur die Herausbildung der kleinen, lokalen Gemeinden, sie bringt auch eine bestimmte physische und moralische Gefahr mit sich für die Kinder, die dadurch mehr reisen müssen. Solange sie reisen, können sie sich nicht erholen, sie können nicht lernen oder spielen – sie werden nur müde. Sie werden nie gleichrangig mit den Kindern des anderen Dorfes sein. Es kann unabsehbare Folgen haben, wenn die Herausbildung der kleinen Gemeinden gehindert wird, weil sie das Gefühl des Zusammengehörens vermitteln. In Klebelsbergs Zeit wurde der Schuldirektor auch in den kleinsten Dörfern von dem Minister ernannt, und ihr Gehalt war unabhängig von der finanziellen und gesellschaftlichen Lage ihrer Schüler. Die Arbeit der Schuldirektoren wurde von unabhängigen Schulinspektoren aufgrund fachlicher Aspekten geleitet. Heute gehen viele Lehrer aus der Nachbarstadt in die kleinen Dorfschulen, sie leben also nicht zusammen mit der Dorfgemeinde. Das betrifft auch die Minderheitskulturen negativ.

c) Der Kunstunterricht und die Zahl der Stunden, die zur Herausbildung des Charakters und der Identität beitragen, d.h. die Musik-, Sport-, Literatur- und Geschichtsstunden darf nicht vermindert werden. Die Problematik des Religionsunterrichts ist bis heute bestritten. Die beste Lösung wäre gewesen, allen Schülern bestimmte Informationen über Religionen, Moral, Kulturgeschichte und Weltanschauungsweisen zu vermitteln. Diese Informationen könnten von zu diesem Zweck gebildeten Fachleuten vermittelt werden, die Theologie und Philosophie studierten, bzw. von Geistlichen und Priestern verschiedener Religionen. Die Schüler wären nicht in dem Glauben abgefragt worden, sondern in ihrer Kenntnis über Religionen. Das wäre die echte Ökumene gewesen. Der Religionslehrer wäre ein Mitglied der Lehrkörperschaft gewesen (heute ist es meist nicht der Fall). Die Religionsstunden wären nicht erst am Nachmittag gewesen, wenn es sowieso zahlreiche andere Extrastunden und Kurse gibt. Diese Lehrer hätten ihr Gehalt nicht nur nach der Stundenzahl, sondern auch in den Sommerferien bekommen, wie alle anderen Lehrer. So hätte ein gebildeter Religionslehrer aus seinem Gehalt auskommen können. Das betrifft die nationalen Minderheiten auch negativ.

Dieses System hätte stufenweise eingeführt werden sollen, aber nicht einmal die Vertreter der größeren Kirchen waren mit dieser Lösung einverstanden. Sie äußerten sich dafür, dass die Religionsstunden den Kindern einer bestimmten Religion von den Geistlichen jener Religion unterrichtet werden sollen. Dadurch wurde ein Teil (oft die Mehrheit) der Kinder aus dem Religionsunterricht ausgeschlossen. Wie sollte ein Kind unter unbekannten Begriffen, Weltanschauungsweisen und Religionen wählen? Ich weiß, dass es Versuche zur moralischen Erziehung gibt. Das hat aber schon eine Tradition, die sich in Jahrhunderten ausbildete – warum muss das jetzt neugeplant werden?

d) Der Kunstunterricht in Grundschulen und Fachschulen soll gefördert werden, und die ungarische Folklore, bzw. die Volkskunst der Minderheiten soll hier auch bekannt gemacht werden. Alle Initiativen im Bereich der Kunst, Chöre, Tanzgruppen, Handwerks- und Tanzlager, und die Vereine zur Bewahrung der Traditionen sollen unterstützt werden. Diese Bewegungen verstärken die Kultur der kleineren Nationen und nationalen Minderheiten, und dadurch das Aufrechterhalten der universellen Werte der Menschheit.