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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:151–166.

ATTILA PÓK

Geschichte im Transformationsprozess Ungarns

 

Geschichte, die Beschäftigung mit der Vergangenheit bedeutet viel mehr als einen Überblick der Leistungen der Geschichtswissenschaft. „Undertaking History”, das „Geschichtsunternehmen” bezieht sich auf wenigstens drei Ebenen: zuerst die Tätigkeit der „Zunft” (Forschung und Veröffentlichung der Resultate dieses epistemologischen Prozesses), wobei die Gesetze dieser fachwissenschaftlichen Arbeit nach internationalen Maßstäben definiert werden.1 Historiker, die diesen Gesetzen nicht folgen, werden von der Zunft ausgeschlossen (oder gar nicht aufgenommen). Die Situation ist völlig anders auf der zweiten Ebene wo es um die repräsentative Funktion der Geschichte geht. Geschichte als kollektives historisches Gedächtnis kann die Kohäsion einer Gesellschaft verstärken. Diese Funktion des „historischen Unernehmens” ist Politikern gut bekannt, sie brauchen und missbrauchen sie allzu oft. Die Rituale im Zusammenhang mit nationalen Feiertagen, Einweihung und Entfernung öffentlicher Denkmäler, die Umnennung von öffentlichen Räumen usw. sind die bekanntesten Formen dieses Umgehens mit der repräsentativen Funktion der Geschichte. Die dritte Ebene ist die pädagogische, erzieherische Funktion: Geschichte als Schulgegenstand. Selbstverständlich ist die Art und Weise des Geschichtsunterrichts von der Politik oft stark beeinflusst und so besteht in vielen Fällen eine tatsächliche Kluft zwischen der ersten wissenschaftlichen Ebene, und den zweiten und dritten (repräsentativen und erzieherischen) Funktionen.

So komme ich zur Erklärung der Struktur meines kurzen Beitrages. Ich bin der Meinung, dass in Ungarn die wichtigsten neuen, von dem Systemwechsel bestimmten Erscheinungen auf der repräsentativen Ebene des „Geschichtsunternehmens” zu beobachten sind. Eine vergleichbare Wende auf der wissenschaftlichen Ebene fand in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und im Laufe der 1970er Jahre statt, als die ungarische Geschichtswissenschaft nach einer etwa 15 jährigen Unterbrechung angefangen hat sich in die Haupttendenzen der internationalen (d. h. westeuropäischen und amerikanischen) Wissenschaftsentwicklung zu integrieren. Die seitherigen Entwicklungen sind in vollem Einklang mit dem internationalen „Geschichtsdiskurs” – der „lokale Zeitgeist” wurde und wird vielmehr von der repräsentativen Funktion vertreten. Um die Rolle der Geschichte im Laufe des Transformationsprozesses in Ungarn besser verstehen zu können, ist es nützlich zuerst kurz die lange vor dem Systemwechsel angefangenen Änderungen in der Fachwissenschaft zu überblicken.

 

Die neue Epoche der fachwissenschaftlichen Entwicklung

Das wichtigste Zeichen für den Beginn dieser Wende war eine Diskussion zur Frage der Bewertung der ungarischen anti-habsburgischen, ständischen Bewegungen im 16-17. Jahrhundert, die vom Anfang der 1960er bis zur Mitte der 1970er Jahre zu einem die Grenzen der Fachwissenschaft weit überschreitenden Gedankenaustausch geführt hat. Der Initiator dieses langjährigen Streites war Erik Molnár (1894-1966), marxistischer Historiker und Philosoph2, der als Anwalt in der Zwischenkriegszeit viele Kommunisten verteidigt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er hochrangiger kommunistischer Politiker in Ungarn, seine wissenschaftliche Tätigkeit hat er aber nie aufgegeben. Von 1949 bis zu seinem Tode war er auch Direktor des Instituts für Geschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Zwischen 1959 und 1961 hat Molnár in einigen Aufsätzen die ungarischen anti-habsburgischen Bewegungen im 17-18. Jahrhundert als von Klasseninteressen bewegte Aufstände der ungarischen Nobilität gegen den Habsburger Zentralisationsbewegungen dargestellt.3 Diese Bewertung war in krassem Widerspruch mit der damals tongebenden Auffassung, die diese politischen Bewegungen in die Geschichte der ungarischen Unabhängigkeitskämpfe eingereiht hat.4 Letztendlich wurde nach den Wurzeln des ungarischen Nationalismus, nach dem Verhältnis zwischen mittelalterlichem Patriotismus und dem modernen Nationalbewusstsein gefragt. Molnár versuchte zu beweisen, dass es in dieser Hinsicht keine Kontinuität gibt. Die frühneuzeitlichen Begriffe von natio und patria beziehen sich nur auf die herrschende Klasse, auf die Nobilität, die ausgebeuteten Leibeigenen und ihre Feudalherren haben keine gemeinsamen nationalen Interessen. Diese These war eine orthodox marxistische Argumentation, entwickelt kurz nach der 1956-er Revolution, als die Parteileitung den „reaktionären Nationalismus” mit der Gefährdung der politischen und ideologischen Konsolidation beschuldigte5. Trotz dieser starken politischen Färbung des Molnár-Auftrittes führte die von ihm initiierte Diskussion zu einem Durchbruch in der ungarischen Geschichtswissenschaft. Nämlich in der politischen Atmosphäre der post-1956er Jahre bedeutete der Hinweis auf die Nötigkeit der Untersuchung der unterschiedlichen „Klasseninteressen” eine rationelle, analytische Zugangsweise gegenüber der simplifizierenden, romantischen, revolutionären Interpretation der ungarischen Geschichte als eine Reihe von verfehlten Revolutionen und Unabhängigkeitskämpfen. Außerhalb der Klärung des Inhaltes von Begriffen wie Volk, natio, patria, Unabhängigkeit im 17-18. Jahrhundert kam es zu einer fachwissenschaftlichen Erneuerung, Gärung auch auf anderen Forschungsgebieten. Die ungarische Agrarentwicklung im 16. Jahrhundert (die Frage des ungarischen „Sonderweges”), vergleichende Forschungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte Ost- und Mitteleuropas, die Bewertung des Platzes Ungarns in der dualistischen Habsburgermonarchie zwischen 1867 und 1918, die historische Rolle der Sozialdemokratie, die politische und moralische Beurteilung der Tätigkeit der ungarischen Armee in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, um nur einige Themen zu nennen, waren wichtige Forschungsprojekte der später 1960er und 1970er Jahre, wobei die politische und ideologische Beeinflussung der Fachwissenschaft im Vergleich mit den 1950er und früh 1960er Jahren bedeutend nachgelassen hat.6 Die Grundlagenforschungen zur Geschichte des Nationalbewusstseins, die Infragestellung der Berechtigkeit des Begriffgebrauches „das arbeitende Volk”, die Kritik an der Mythologie der Revolutionen als einzige „Lokomotive” des sozialen, politischen Fortschrittes, die Darstellung der Komplexität vieler historischer Situationen haben eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Auflockerung der monolithischen ideologisch-politischen Struktur gespielt7.

 

Gegenrevolution und Gegenerinnerung

Diese relative Offenheit bedeutete aber keinesfalls die Möglichkeit eines offenen wissenschaftlichen Diskurses zum wichtigsten historischen Tabu des Kádár Regimes, die 1956er Revolution. In der offiziellen Darstellung der Ereignisse der „Gegenrevolution” – in Lehrbüchern, in Zeitungen, Fernseh- und Rundfunksendungen besonders zum Anlass der Jahreswenden – wurde es versucht den Schwerpunkt der Ereignisse von den friedlichen Demonstrationen für nationale Selbstbestimmung und Demokratie zu der Möglichkeit eines blutigen Bürgerkrieges zu verschieben. Zum Beispiel zum Anlass der vierten Jahreswende, in 1960, wurde ein den Opfern der Gegenrevolution gewidmetes Denkmal am Köztársaság tér (Republik Platz) in Budapest aufgestellt. Hier wurde die Budapester Parteizentrale am 30. Oktober 1956 angegriffen und 24 Verteidiger des Gebäudes sind Opfer der Kämpfe und des anschließenden Lynchens geworden. Das Denkmal war als eine Warnung gemeint: ohne sowjetische Hilfe wäre es nicht möglich gewesen einen Bürgerkrieg mit vielen vergleichbaren Tragödien zu vermeiden (wie das die Reden zur Einweihung und bei späteren Kranzniederlegungen hervorgehoben haben). Trotz der Änderungen in der Politik gegenüber den Teilnehmern der revolutionären Bewegungen, trotz des Gebrauches der von Kádár in 19728 initiierten Terminologie der „nationalen Tragödie” statt oder parallel mit dem Begriff der „Gegenrevolution” hat das Kádár Regime diese Grundbewertung der Revolution nie aufgegeben. So ist die Einreihung von 1956 in die ungarischen historischen Traditionen ein Hauptelement der „Gegenerinnerung”, der historischen Delegitimierung des Kádár Regimes geworden. Von etwa Mitte der 1980er Jahre an ist die Definition von 1956, als ein mit der Bedeutung der 1848-49-er ungarischen Revolution und Freiheitskampfes vergleichbares historisches Ereignis, ein gemeinsamer Nenner unterschiedlicher Kritiken des Kádár Regimes.9 Ein erstes Treffen dieser Gruppen fand zwischen den 14. und 16. Juni 1985, anlässlich der 27. Jahreswende der Hinrichtung von Imre Nagy, dem reformkommunistischen Leiter der Revolution, statt. In Dezember 1986 haben etwa 80 bekannte Intellektuelle, unter ihnen auch Parteimitglieder, eine Tagung in einer Privatwohnung über 1956 veranstaltet, und 1956 war ein zentrales Thema auch in den ungarischen Samisdat-Veröffentlichungen der 1980er Jahre. In dem politischen Programm der demokratischen Opposition (veröffentlicht in einer Sonderausgabe der in 1000-2000 Exemplaren verbreiteten Samisdat-Zeitschrift „Beszélő” in Juni 1987) war das letzte Kapitel war dem Thema „1956 in der gegenwärtigen ungarischen Politik” gewidmet. Laut dieser Stellungnahme ist die Neubewertung von 1956 die Grundbedingung eines neuen „Sozialen Vertrages”, eines Ausweges aus der Krise. Etwa gleichzeitig, nicht unabhängig von Gorbachevs Glasnost und Perestroika, hat die Parteileitung die Bedeutung der Wichtigkeit der Neubewertung der Vergangenheit auch erkannt. Die Parteitagung im Mai 1988 (wo Kádár von der Macht abgedankt hat) ernannte eine Kommission zur Bewertung der ungarischen Geschichte der letzten vier Jahrzehnte als Teil der Vorbereitungen zur Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms. Das in Februar 1989 veröffentlichte Dokument in dem Kapitel über 1956 sprach eindeutig von der Verantwortlichkeit der Parteileitung (und nicht äußerer feindlicher Kräfte) für die Krise im Oktober 1956. Das Dokument bewertete die Einladung der sowjetischen Truppen als einen Fehler, der die nationalen Gefühle der Bevölkerung verletzt hat. Imre Nagy war nicht mehr als ein Verräter des Sozialismus, sondern als ein zu schwacher Politiker dargestellt, der nicht in der Lage war, die Ereignisse zu kontrollieren. Eine außergewöhnlich große politische Wirkung hatte aber das Dokument mit der Einführung einer neuen Terminologie erreicht. Statt Revolution oder Gegenrevolution wurde über einen Volksaufstand gesprochen10 und als Imre Pozsgay, als zuständiges Politbüro-Mitglied, am 28. Jänner 1989 in einem Radio-Interview zum ersten mal nach 33 Jahren (vor der Veröffentlichung des Materials, ohne vorherige Konsultation mit Parteiorganen) 1956 einen Volksaufstand nannte, wurde damit der ganze Prozess der Transformation beschleunigt. Die gleiche ZK Sitzung (am 11-12. Februar), wo das Dokument über die letzten 40 Jahre (mit Hinweis auf 1956 als Volksaufstand) angenommen wurde, entschied auch über die Einführung des Mehrparteiensystems. Diese offizielle Umwertung von 1956 diente als die „historische Grundlage” der Verhandlungen zwischen Vertretern der oppositionellen Gruppen und den Machtinhabern. Der wichtigste symbolische erste Schritt auf diesem Wege geschah am 16. Juni 1989, an der 31. Jahreswende der Hinrichtung von Imre Nagy. An diesem Tag, aufgrund der Vereinbarung zwischen der vor kurzem gegründeten Interessenvertretung der Opfer der Repression nach 195611 und der Regierung wurde der Ministerpräsident der Revolution wiederbeerdigt. In einer eigenartigen „Sternstunde” haben Machtinhaber und die wichtigsten oppositionellen Kräfte eine gemeinsame historische Plattform für die Gestaltung der Zukunft gefunden. 1956 wurde mit einer weiteren Geste in die demokratischen ungarischen nationalen Traditionen eingebaut: am 23. Oktober, an der 33. Jahreswende zum Beginn der Revolution wurde die „Volksrepublik” Ungarn wiederholt zur Republik ausgerufen. In seiner Rede zu diesem Anlass hat interim Staatspräsident Mátyás Szűrös die neue Republik als Nachfolger der nationalen demokratischen Traditionen von 1848 (Revolution und Freiheitskampf gegen die Habsburger), 1918 (Verkündigung der Ungarischen Republik nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie), 1945-48 (Periode des demokratischen Pluralismus) und 1956 dargestellt. Die Tradition von 1848 war hier von der größten Bedeutung als eine erfolgreiche Synthese von liberalen und nationalen Zielsetzungen, weltweit ein Symbol ungarischer Freiheitswille. Im Laufe der Verhandlungen zwischen der Partei und Regierung einerseits und den Vertretern der Opposition andererseits gab es auch oft Hinweise auf 1848. Viele Teilnehmer dieser Gespräche fanden die Möglichkeiten und die Gefahren der damaligen Situation nur mit denen der Frühlingstage in 1848 vergleichbar, und das betraf auch ihre persönliche Verantwortlichkeit für einen eventuellen Misserfolg. Die Verhandlungen waren aber erfolgreich abgeschlossen und nach den freien Wahlen in März-April 1990 war das erste vom neuen Parlament verabschiedete Gesetz der historischen Bedeutung der 1956er Revolution gewidmet. Laut des Gesetzes: „Dieses frei gewählte Parlament hält es für seine dringende Aufgabe die historische Bedeutung der 1956er Revolution zu kodifizieren. Dieses prachtvolle Kapitel der modernen ungarischen Geschichte kann nur mit der Revolution und dem Freiheitskampf in 1848-1849 verglichen werden.”12 Der Tag des Ausbruches der Revolution, der 23. Oktober, wurde für einen Nationalfeiertag erklärt. Mit der offiziellen Neubewertung der 1956er Ereignisse als Volksaufstand, anstatt als Gegenrevolution, hat das Kádár Regime einen Grundpfeiler seiner Legitimität verloren13, aber gleichzeitig war diese Stellungnahme die Grundlage eines friedlichen nationalen Konsenses, eine Vorbedingung des friedlichen Überganges von der Proletardiktatur in ein demokratisches System.

 

Die gekrönte Republik

Das nach vier Jahrzehnten freigewählte ungarische Parlament musste sich zum ersten Mal mit Problemen der historischen Legitimität beschäftigen. Dabei war es nicht unwichtig, dass in der post-1990er politischen Elite unser Beruf, der des Historikers stark vertreten war. Etwa 7 Prozent der neuen Parlamentsabgeordneten waren Historiker: unter ihnen der Ministerpräsident der christlich-nationalen regierenden Koalition, der Außenminister, der Verteidigungsminister, der Parlamentsvorsitzender, mehrere Staatssekretäre, Botschafter. Wie schon erwähnt, wurde an der Gründungssitzung des neuen Parlaments das Gesetz über die Bedeutung der 1956er Revolution und des Freiheitskampfes verabschiedet. Einige Wochen später, am 3. Juli 1990, wurde das neue Staatswappen angenommen, wobei die Gesichtspunkte und Meinungen in der Fachwissenschaft und auch in der politischen-historischen Repräsentation weit auseinandergingen. Die meisten Historiker waren dafür das von Lajos Kossuth in 1849 initiierte kronenlose Wappen einzuführen: dieses Wappen symbolisierte die revolutionäre Wende nicht nur in 1849, sondern auch in 1918, als nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie, am 16. November, Ungarn zur Republik erklärt wurde. Die überwiegende Mehrheit der Parlamentsabgeordneten (228 von 291) war doch für das mit der ungarischen Heiligen Krone geschmückte Wappen. Das Hauptargument in diese Richtung war, dass die Krone nicht die königliche Macht, sondern die Kontinuität der ungarischen Staatlichkeit symbolisierte. Die Gegner des Wappens mit der Krone, die meisten Liberalen und Sozialisten in der Opposition, haben darauf hingewiesen, dass nachdem die Heilige Krone die volle territoriale Integrität des Ungarischen Königreiches (mit Siebenbürgen und Kroatien) vertrat, ihre Anwesenheit in dem ungarischen Staatswappen in 1990 von den Nachbarnvölkern und Staaten Ungarns als Irredentismus interpretiert werden kann. Laut ihrer Argumentation war die Krone mehr ein Symbol der konservativen ständischen, sogar feudalen Gesellschaft, wobei das kronenlose „Kossuth-Wappen” in Richtung Modernisierung und Verbürgerlichung zeigte.

Die Problematik der Heiligen Krone führt uns zu einer geschichtspolitischen Grundfrage des letzten Jahrzehntes: die historische Einordnung des Systemwechsels. Eine der ersten diesbezüglichen konkreten Fragen war die unvermeidbare parlamentarische Entscheidung über den offiziellen Staatsfeiertag. Es gab drei Kandidaten: der 15. März (1848), der 20. August (der Tag des Staatsgründers, Stefan der Heilige) und der 23. Oktober (1956). Die parlamentarische Entscheidung, dem Vorschlag der Regierung folgend, war in vollem Einklang mit der Wappen–Entscheidung – die Gründung des ungarischen Staates in 1000 durch Stefan wurde als das wichtigste Ereignis der ungarischen Geschichte, die beste Repräsentation der Kontinuität des Bestehens des ungarischen Staates definiert. Die Opposition, die liberalen Freien Demokraten und die Mehrheit der Sozialisten und der Jungen Demokraten, hatte eine Präferenz für den 15. März als Symbol der nationalen Einheit und Demokratie. Der 15. März und der 23. Oktober sind selbstverständlich auch weiterhin Nationalfeiertage geblieben, aber die Repräsentation des Staates gehört seitdem dem 20. August.

Niemand im politischen, öffentlichen Leben leugnete Stefans enorme historische Leistung, die Aufnahme des Christentums und dadurch den organischen Einbau der ungarischen Gesellschaft und Kultur in das Vermächtnis der westlichen Zivilisation. Ohne seine Persönlichkeit wäre die Gründung und Konsolidation des ungarischen Staates kaum möglich gewesen. Der systematische Aufbau des auf diese Tradition konzentrierten kollektiven Gedächtnisses war, und besonders seit 1998 ist, aber politisch gefärbt, es wird besonders von der konservativen politischen Elite angestrebt. In dieser Auffassung wird Stefan mit der staatsbauenden Tätigkeit der katholischen Kirche verbunden. Das Jahr 2000 war in der Politisierung dieser Tradition von großer Bedeutung. In diesem Jahr kam es zur 1000. Jahreswende der Annahme des Christentums und der Staatsgründung, im 2000. Jahr nach der Geburt Jesus Christi, so konnte die nationale Feier mit dem allgemeinen christlichen Jubiläum verbunden werden. Die konservative Regierungskoalition hat für die Feierlichkeiten vom 1. Jänner 2000 bis 20. August 2001 sehr bedeutende finanzielle und organisatorische Ressourcen mobilisiert, wobei die ungarische Heilige Krone eine Hauptrolle bekommen hat. Die Krone, seit dem 11. Jahrhundert ein Symbol ungarischer Souveränität, landete als Folge des Schicksals Ungarns am Ende des Zweiten Weltkrieges im Fort Knox in den Vereinigten Staaten. Anfang 1978, trotz des Protestes der Mehrheit der ungarischen politischen Emigration, als ein Zeichen der Detente-Politik hat die amerikanische Administration dieses äußerst wertvolle Symbol der ungarischen nationalen Identität dem ungarischen Staat zurückgegeben. Mit anderen königlichen Insignien wurde die Krone bis Ende 1999 im Ungarischen Nationalmuseum aufbewahrt. Als Auftakt zu den Feierlichkeiten zum tausendjährigen Bestehen des ungarischen Staates ließ die christlich-nationale Regierung die Krone – unter extrem feierlichen Äußerlichkeiten – in das Parlamentsgebäude überbringen. Diese Geste wurde von der sozialistisch-liberalen Opposition stark kritisiert, mit dem Argument dass die Legitimität des heutigen ungarischen Staates nicht in der vom Papst verliehenen Krone, sondern in der durch die Verfassung symbolisierte Volkssouveränität wurzelt. Im Laufe der Feierlichkeiten war die staatsbauende Rolle des ungarischen Christentums, besonders der Beitrag der katholischen Kirche zur Bewahrung der Integrität der ungarischen Nation, hervorgehoben. Die liberale und sozialistische Kritik hat oft auf die Multikulturalität und Multikonfessionalität der ungarischen Gesellschaft hingewiesen und im allgemeinen den Grundton, den Hauptkurs der Feierlichkeiten für anachronistisch archaisierend, romantisch, wissenschaftlich unbegründet, und die prachtvollen Äußerlichkeiten für verschwenderisch erklärt. Die Beurteilung dieser millenarischen Feierlichkeiten ist eine mit wirtschafts- oder sozialpolitischen Programmen vergleichbare Bruchlinie zwischen Regierung und Opposition, ein Thema der Wahlkampagne in 2002 geworden.14

 

Trianon

Weder Politiker noch Fachhistoriker zweifeln daran, dass für Ungarn das wichtigste, die Geschichte des Landes bis heute bestimmende Ereignis im 20. Jahrhundert der Friedensvertrag von Trianon (4. Juni 1920) ist, wobei Ungarn etwa zwei Drittel des Staatsgebietes der Vorkriegszeit zugunsten der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie aufgeben musste. Schon Anfang der 1980er Jahre hat Mária Ormos die militär- und außenpolitische Vorgeschichte dieses Aktes vielseitig und nüchtern dargestellt15. Die historische Literatur der letzten 10 Jahre hat unsere Kenntnisse über die Friedenspläne der Siegermächte, über die revisionistischen Bestrebungen der ungarischen Politiker der Zwischenkriegszeit und über die politischen Bestrebungen, die wirtschaftliche, soziale, kulturelle Lage der ungarischen nationalen Minderheiten in den Nachbarnländern bedeutend gereichert.16 Die Akkumulation der ausführlichen, ausgeglichenen, wissenschaftlichen Werke ist aber nicht immer in Korrelation mit den die Trianon-Frage betreffenden Stellungsnahmen einiger Politiker. Neuere, sozialpsychologisch motivierte Forschungen17 weisen darauf hin, dass die kommunistische Verdrängung der Trauer dieser nationalen Tragödie zu gefährlichen Folgen führte: Die Trianon-Frage ist ein Hauptmotiv der rechtsradikalen politischen Rhetorik geworden. Die nationale Tragödie wird als eine Hauptquelle, Ursache aller späteren sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten dargestellt, verbunden mit der Suche nach der Verantwortlichkeit. In dieser Rhetorik wird oft auf die die Aktionsfähigkeit der Nation nehmende kleine aber einflussreiche Minderheit hingewiesen.18 Im rechtsradikalen Sprachgebrauch ist diese Minderheit das Judentum, besonders die kommunistischen Juden, die – laut dieser Argumentation mit dem Aufbau einer 133-tägigen Proletardiktatur im Frühling und Sommer 1919 – die Ungarn bestrafenden Entscheidungen der Siegermächte an der Friedenskonferenz provoziert haben. Diese Behauptung wurde von der Geschichtswissenschaft schon längst widerlegt19, aber lebt in dieser Rhetorik ungestört weiter. Gegenwärtige soziale, wirtschaftliche Probleme werden mit der destruktiven Tätigkeit solcher „fremdherzigen”, ausländischen Interessen dienenden Minderheiten erklärt. Der Hauptton der ungarischen Politik stimmt aber mit der Endfolgerung der neuesten zusammenfassenden wissenschaftlichen Arbeit über den Trianon-Vertrag völlig überein: „Die Ungarn halten den Trianoner und den ihn ersetzenden Pariser Friedensvertrag von 1947 mit vollem Recht für ungerecht. Die Ungarn haben ein unbestreitbares Recht Selbstverwaltung für sich und für ihre Minderheiten zu fordern. Mehr zu hoffen ist aber eine Illusion, mehr zu fordern ist unbesonnen.”20

 

Freiwillig oder in der Zwangsjacke? Ungarn im Zweiten Weltkrieg

Ungarns Rolle im Zweiten Weltkrieg ist eines der bedeutendsten geschichtspolitischen Themen des letzten Jahrzehntes. In einer politischen Atmosphäre, wo einer der wichtigsten, die ganze ungarische Gesellschaft betreffenden befreienden Erlebnisse der Auszug, der seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Ungarn stationierenden sowjetischen Truppen war (am 19. Juni 1991), kam es in der politischen Öffentlichkeit zu einigen schockierenden Stellungnahmen. Ein ehemaliger hochrangiger Offizier der Horthy-Armee, Kálmán Kéri, sprach im Parlament Ende Juli 1990 über die „Gerechtigkeit” von Ungarns Teilnahme in dem „antibolschewistischen Kreuzzug” gegen die Sowjetunion.21 Die Fachwissenschaft produzierte eine große Menge von nüchternen Analysen dieser tragischen Periode der Nationalgeschichte.22 Angesehene Persönlichkeiten der „Zunft” haben darauf hingewiesen dass die gut verdiente Anerkennung der oft heroischen Leistungen von ungarischen Soldaten (von Generälen bis zu den einfachen, viel leidenden, riesige Opfer bringenden Gemeinen) ist mit der Kritik der verfehlten Strategie und den Kriegszielen nicht zu verwechseln. Die diesbezüglichen geschichtswissenschaftlichen und geschichtspolitischen Diskussionen haben zu keinem ungarischen „Historikerstreit” geführt – doch spielten und spielen sie eine wichtige Rolle in der Suche nach den historisch bestimmten Identitäten der post-kommunistischen politischen Eliten. Es geht hier nicht nur um Ungarns Rolle im Zweiten Weltkrieg, sondern auch um die allgemeine Bewertung des ungarischen politischen Systems von 1919 bis 1945, um Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit dem „Horthy-Regime”. Als „Verweser” Staatsoberhaupt zwischen 1920 und 1944, gehört Miklós Horthy nämlich zu den meist umstrittenen Persönlichkeiten der modernen ungarischen Geschichte. Der ehemalige Adjutant von Kaiser Franz Joseph, Admiral der Flotte der Habsburgermonarchie, hat seine Macht in 1919-1920 mit blutigem Terror gefestigt. Vom Anfang der 1920er Jahre an – ohne seine Autorität je in Frage stellen zu können – wurde das Regime als ein funktionierendes parlamentarisches System konsolidiert. Im Laufe der 1930er Jahre sind die autoritären Züge seiner Politik markanter geworden. Zwischen 1938 und 1941 hat das ungarische Parlament drei diskriminative Gesetze gegenüber den ungarischen Juden verabschiedet und vom Juni 1941 an, kämpfte das Land an der Seite Deutschlands im Zweiten Weltkrieg. Nach verfehlten Versuchen Horthys das Land vom Krieg herauszuleiten, kam es zum totalen Zusammenbruch in 1944-45. Am 19. März 1944 von den Deutschen besetzt, unter Mitwirkung der ungarischen Behörden wurde etwa zwei Drittel des ungarischen Judentums ermordet, insgesamt ist etwa 10 Prozent der Bevölkerung Opfer des Krieges geworden – das Land lag in Trümmern. Nach dem Krieg lebte Horthy in Exil, wurde aber weder von ungarischen Behörden, noch von der Justiz der Siegermächte zum Kriegsverbrecher deklariert. Zwischen 1990 und 1994 ist seine Beurteilung eine wichtige aktualpolitische Frage geworden. Laut der dominanten Auffassung in christlich-nationalen Regierungskreisen war Horthys Regime – trotz aller möglichen Mangel an Demokratie – viel legitimer als das von Außen aus auf Ungarn gezwungener Kommunismus. Dementsprechend bestand eine Kontinuität zwischen der Horthy-Zeit und der post-1989-90er Demokratie. Die liberale und sozialistische Opposition hielt diese historische Orientierung (und die daraus folgende politische Theorie und Praxis) für eine Sackgasse und hat statt dem die Wichtigkeit der den Zweiten Weltkrieg folgenden kurzen Periode (1945-1948) des echten funktionierenden politischen Pluralismus und 1956 als direkte Vorfahren der neuerworbenen Demokratie hervorgehoben.

Die tagespolitische Wichtigkeit der Unterschiede in der Beurteilung des Horthy-Regimes wurde besonders auffällig, als der Initiative der Familie folgend, am 3. September 1993, der in 1957 in Portugal verstorbene Horthy in seinem Heimatsdorf wiederbeerdigt wurde. Etwa 50000 Leute (unter ihnen 6 Mitglieder der Regierung) nahmen an dieser „privaten Familienangelegenheit” teil. Am Tag vorher veranstalteten liberale und andere oppositionelle Intellektuelle in Budapest ein „Abschiedsfest” vom Horthy-Regime. Der Horthy-Kult in dem der christlich-nationalen Regierung nahestehenden Teil der ungarischen Gesellschaft war bis zu einem bedeutendem Maße eine Reaktion auf seine schematisierende negative Beurteilung in der dogmatischen stalinistischen Geschichtsauffassung der 1950er, 60er Jahre, die bis zu den 80er Jahren einen Ausdruck auch im Geschichtsunterricht gefunden hat. Schon von der Wende der 70er, 80er Jahre an kam es aber in der Fachwissenschaft zu einer sehr grundlegenden Revision dieses schematischen Bildes: Der Nationalismus und der Irredentismus des Horthy-Regimes wurden im Vergleich mit den anderen kleinstaatlichen Nationalismen der Region dargestellt, die Leistung der verschiedenen Schichten der christlichen Mittelklasse, der Facharbeiterklasse, der reicheren Bauernschichten, der militärischen und politischen Fachelite von den Erzkonservativen und besonders von den extrem Rechten völlig differenziert gezeigt. In dem Kampf gegen die dogmatisch-stalinistische Geschichtsauffassung spielten diese Darstellungen eine wichtige Rolle. Trotz dieser Änderungen in dem wissenschaftlichen Horthy-Bild wurde die negative Beurteilung Horthys und des Horthy-Regimes mit dem kommunistischen System identifiziert, und für viele schien immer das Gegenteil der angenommenen „offiziellen” kommunistischen Meinung die Wahrheit zu sein.

Alle im Laufe der letzten Jahrzehnte veröffentlichten Synthesen der ungarischen Geschichte23 des 20. Jahrhunderts sind übrigens kritisch gegenüber dem Horthy-Regime, aber die alte, politisch bestimmte Grundfrage der Bewertung aufgrund des Ausmaßes der faschistischen Merkmale dieses Systems wurde völlig überwunden. Die neue Grundfrage betrifft die Offenheit des Systems für Modernisierung. Die Synthesen beschreiben – aufgrund vielseitiger Grundlagenforschungen – die Leistungen auf dem Gebiet des Unterrichtswesens, der sozialen Mobilität, der Sozialpolitik, der allgemeinen Lebensqualität der mittleren sozialen Schichten, wobei die seit dem Zeitalter des Dualismus ungelösten Probleme der niedrigsten Schichten des Agrar- und Industrieproletariats auch klar dargestellt sind. Bei der Analyse der autoritären politischen Struktur, der Erweiterung der Rechte des Verwesers Horthy geht es oft nicht um die Dokumentation des Ausbaus eines Totalitarismus, sondern um die Darstellung dieser Politik als eine Suche nach einem Gegengewicht gegenüber den extrem Rechten, den faschistischen politischen Bewegungen.

 

1956

Im ersten Teil des Aufsatzes habe ich beschrieben, wie die Bewertung der 1956er Revolution als eine mit 1848-1849 vergleichbare progressiv historische Tradition die Grundlage des Konsensus unter den vielfarbigen politischen Kräften bildete.

Mit dem Vergehen der Jahre ist aber dieses Erbe umstritten worden. Besonders im Laufe der Wahlkampagnen beschuldigten die rechtsgesinnten konservativen Politiker die Sozialistische Partei als Ganzes und einige von ihren prominenten Leitern persönlich damit, dass sie in 1956 auf der Seite der Ersticker der Revolution standen. Diese Anschuldigung wurde und wird indirekt – paradoxerweise – gelegentlich ebenfalls den konsequent antikommunistischen Liberalen zuteil. Direkt wird auf die Eltern liberaler Leiter des Verbandes der Freien Demokraten gezielt, ihre Mitwirkung an der kommunistischen Machtausübung soll auch ihre Kinder kompromittieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Als Teil der Wahlkampagne im Frühling 2002 wurde ein neues Museum unter dem Namen „Haus des Terrors” in dem ehemaligen Gebäude faschistischer und kommunistischer Terrororganisationen eröffnet. Da werden die Perioden des faschistischen und des kommunistischen Terrors gleichgesetzt dargestellt, mit gelegentlichen Hinweisen an die Familienmitglieder heutiger sozialistischer und liberaler Politiker als Mittäter des kommunistischen Terrors. Liberale und Sozialisten akzeptieren dass die Grenzlinien der demokratischen Traditionen nach rechts genauso wie nach links definiert werden müssen, aber das berechtigt – ihrer Argumentation nach – keinesfalls eine homogenisierte Darstellung von vierundhalb Jahrzehnten ungarischer Geschichte als ein Zeitalter des schwarzen und roten Terrors. Nachdem im Mai 2002 die Sozialisten und Liberale wieder die Regierung übernommen haben, war kurz über die Möglichkeit der Umgestaltung des Museums die Rede, aber andere Themen des politischen Diskurses haben diese Frage in den Hintergrund gerückt.

Die Einschätzung der Rolle der reformkommunistischen Kräfte in der Revolution bleibt aber eine Streitfrage im politischen Leben. Die liberale und sozialistische Seite zeigt mehr die Komplexität, die interne Dynamik der Mitwirkenden, wobei die konservativen, christlich-nationalen Politiker nach Homogenität streben, soll 1956 mehr als eine „bürgerliche” nationale Tradition erscheinen, wobei die konservativ-rechtsgesinnten Politiker als tongebend in den Vordergrund gestellt sind.24

 

Die Kádár-Ära

Auf der Suche nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Vorgeschichte des post-kommunistischen demokratischen politischen Systems spielt natürlich die Bewertung des Kádár-Regimes (1956-1988) eine enorm wichtige Rolle. Am Anfang der 90er Jahre kam es – verständlicherweise – zu der Veröffentlichung von vielen halbwissenschaftlichen Werken mit einem einzigen Zweck: Die Brutalität, Grausamkeit, die vielen Schulden des Kommunismus in Ungarn zu beweisen, wobei die Periode der offenen „Proletardiktatur” (1949-1962) und die relative Konsolidation und der vorläufig im großen Maße erfolgreiche Versuch des Ausbaus eines sozialistischen Wohlfahrtstaates zwischen 1962 und 1988 miteinander nicht einmal vermischt wurden.

Neben wohl fundierten wirtschafts-, politik- und neulich sozialgeschichtlichen Bearbeitungen ist auch eine wissenschaftliche Kádár-Biografie erschienen.25 Es gibt zwei politisch stark motivierte, große Streitfragen in dem wissenschaftlichen und allgemeinen Diskurs über die Kádár-Ära. Die erste betrifft die soziale Basis der Staatspartei: das etwa 20% der aktiven Bevölkerung, die Mitglieder der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei waren. Widerspiegelt diese Zahl nur einen Zwang, die Angst vor Vergeltung, und die Anzahl der wirklichen, tatsächlichen Kommunisten war bei etwa 30.000 – die Mitgliederzahl von 1945, in spät 1956 oder in spät 1989 (in den Nachfolgeparteien) oder wenigstens zur Zeit der Konsolidation (etwa 1962-1980) waren nicht nur die Parteimitglieder, sondern ein Großteil der ungarischen Gesellschaft bereit, die Zielsetzungen und Methoden der Parteileitung zu akzeptieren? Die andere Frage zielt auf die Ursachen der Krise und des Unterganges des Kádár-Regimes. Was ist die „Hierarchie” unter den folgenden vier Faktoren des Unterganges: Die grundlegende Umgestaltung der internationalen politischen und wirtschaftlichen Umgebung; die strukturellen Fehler der wirtschaftlichen und politischen Grundpfeiler des sozialistischen-kommunistischen Systems; die Tätigkeit der zwei Hauptgruppen der „Dissidenten” (die nationalistisch-populistische Gruppe und die „demokratische Opposition” von fast ausschließlich Budapester liberalen Intellektuellen); die Spaltung der Parteileitung, die Arbeit der Reformkommunisten. Wer und in welchem Maße hat zum friedlichen Abbau des monolithischen Parteistaates beigetragen? Die diesbezüglichen Diskussionen waren und sind von der Tagespolitik stark beeinflusst, besonders im Laufe der Wahlkampagnen. Die christlich-nationale Seite stellt die Sozialisten oft als direkte Nachfolger der kommunistischen Elite der Kádár Ära dar. Andererseits, laut der sozialistischen und liberalen Rhetorik, versuchen ihre politische Rivalen die schlimmsten konservativ-nationalistischen Traditionen der Zwischenkriegszeit zu beleben. In dem letzten Wahlkampf spielten diese historische Argumente praktisch eine fast wichtigere Rolle als wirtschafts- oder sozialpolitische Tagesfragen.

Das führt mich zu einem kurzen Hinweis auf einige institutionelle Entwicklungen der letzten Jahre auf dem Gebiete der politisch-historischen Repräsentation.

 

Toten in der Tagespolitik

Der politische Kult der Toten ist ein populäres Thema der neueren Geschichtsschreibung26 und hat im ungarischen Transformationsprozess auch mitgespielt.27

Die Wiederbeerdigung des Leiters der 1956er Revolution, Imre Nagy, wie schon besprochen, diente der Entwicklung eines nationalen Konsens – es gab aber mehrere Wiederbeerdigungen im Laufe der Transformation, die die Spaltung des politischen Lebens ausgedrückt haben. Hier möchte ich nur auf zwei Beispiele hinweisen. Der erste ist das Heimbringen der sterblichen Überreste von József Mindszenty, dem von den Kommunisten eingekerkerte Kardinal von Ungarn. Im Laufe der 1956er Revolution befreit, fand nach Kádárs Machtübernahme Asyl in der Botschaft der USA in Budapest für 15 Jahre. Nach langen Verhandlungen in 1971 konnte er das Land verlassen, starb in Österreich in 1974 und wurde im Mai 1991 in der Kathedrale der Leiter der ungarischen katholischen Kirche in Esztergom bestattet. Ein Monat später kam es zu der Wiederbeerdigung des seit 1919 in Emigration lebenden liberalen-demokratischen Politikers, Oszkár Jászi, der alle Formen autoritärer, diktatorischer Politik bis zu seinem Tode in 1957 ununterbrochen kritisiert hat. Das erste Ereignis mobilisierte hauptsächlich die konservativen, christlich-nationalen, das zweite die liberalen politischen Kräfte.

Eine andere wichtige Form des politischen Umgehens mit Toten ist die Errichtung und das Abreißen von öffentlichen Denkmälern. Es gab drei diesbezügliche Problemkreise im Laufe des ungarischen Transformationsprozesses. Das erste betraf die Zukunft der vielen sozialistisch-kommunistischen Denkmäler (Lenin, sowjetische Armee, leitende Persönlichkeiten der kommunistischen Bewegung, usw.) Um spontanen Zerstörungen Einhalt zu gebieten, zeigte Budapest ein ganz besonderes Beispiel. Im Juni 1993 in einem Vorort der Stadt wurde ein sog. „Denkmal Park” eröffnet und die meisten größeren, der kommunistisch-sozialistischen Vergangenheit gewidmeten Denkmäler wurden hierhin transportiert. Das war eine zivilisierte, für alle politische Richtungen annehmbare Lösung und der Park ist seitdem eine touristische Sehenswürdigkeit geworden.

Eine nächste Frage war, welche neuen Denkmäler der Erinnerung an 1956 bestens dienten. Grob vereinfacht gab es hier zwei große Streitpunkte. Das eine war, ob die Denkmäler nur den Opfern der kommunistischen Vergeltung gewidmet werden oder – nach spanischem Muster – zur allgemeinen Versöhnung aufrufen sollten. Die Mehrheit der Politiker haben das spanische Muster abgelehnt, mit dem Argument das es in Ungarn nie zu einem vergleichbaren Bürgerkrieg gekommen ist, und die Verbrecher – wenn nötig aufgrund retroaktiver Gesetze – bestraft werden sollten. Die andere Bruchlinie war zwischen radikalen Organisationen von 1956er Veteranen – gelegentlich in Zusammenarbeit mit rechtsradikalen Organisationen – und der neu etablierten politischen Elite. Die Veteranen waren mit den den Opfern zugestellten moralischen und finanziellen Entschädigungen nicht zufrieden, und beschuldigten die neue politische Elite mit Verrat an den Ideen von 1956. Deshalb hielten sie die offiziellen Achtungsbezeichnungen für nicht genügend legitim und versuchten alternative Formen der Ehrung zu verwirklichen. Im Sommer 1992 hat zum Beispiel so eine Gruppe in dem Budapester Friedhof, wo die hingerichteten Opfer der Vergeltung liegen, in der unmittelbaren Nähe des neu errichteten „offiziellen” Denkmals, ein alternatives „Gedenktor” aufgebaut.28

Der dritte Problemkreis war der mögliche Wiederaufbau alter, von Kommunisten entfernter Monumente. Der wichtigste, repräsentative Fall auf diesem Gebiet ist das im Herzen der Budapester Innenstadt in 1927 errichtete Trianon-Denkmal, der die Hoffnung ausdrückte, dass Ungarn die nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Territorien zurückbekommen wird. An der selben Ort und Stelle wurde ein Monument der sowjetischen Armee errichtet. Kleinere, radikale nationalistische Gruppen halten die Idee des Abreißens dieses Denkmals und den Rückkehr des Alten warm, kriegen aber keine Unterstützung von maßgebenden Politikern.

 

Ist allzu viel Geschichte in der Politik ungesund?

Für eine Nation, die im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts neun Systemwechsel, sechs Staatsformen, vier Grenzenänderungen, drei Revolutionen, zwei Weltkriege und drei Besatzungen von ausländischen Truppen erlebt hat, ist Geschichte keinesfalls nur ein akademischer Diskurs. Geschichte wird außer der Schule auch durch die Erlebnisse in der Familie gelernt, so ist es leicht verständlich, dass eine wirksame politische Repräsentation auf diese Erfahrungen der Gesellschaft immer achten muss. Im Laufe des Transformationsprozesses in Ungarn haben historische Themen zur Klärung der Programme und der Profile der politischen Parteien und zur Gestaltung der politischen Bruchlinien bedeutend beigetragen.

Daraus folgt, dass die Fachwissenschaft vielen politischen Herausforderungen ausgeliefert war. Im Prinzip hätte das leicht zu einem Historikerstreit deutscher Art führen können. Das war und ist aber nicht der Fall, die vielen kleineren Meinungsumtausche haben bis jetzt zu keiner Konfrontation zwischen großen „master narrativen” geführt. Es ist schwer zu beurteilen, ob das eine positive oder negative Erscheinung sei, ich neige aber dazu das positiv zu bewerten. Mein Argument ist einfach und leicht angreifbar: Zu viel Geschichte im politischen Diskurs führt leicht zur Rückkehr alter Spaltungen, alter feindlicher Stereotypen und lenkt die Aufmerksamkeit von zukunftsorientierten Themen ab. Um aber Gegenargumenten gleich vorzubeugen, möchte ich damit schließen, dass je mehr einer Gesellschaft die Komplexität ihrer Geschichte bewusst ist, desto größer ist die Chance für eine nüchterne Gegenwartspolitik. 1848-49 und 1956 waren ständig vor den Augen der leitenden Persönlichkeiten des ungarischen Transformationsprozesses und das war – meiner Meinung nach – eine nicht unwichtige Vorbedingung des Erfolges.

 

Anmerkungen

1

S. darüber: Attila Pók, Undertaking History – Shaping the New Europe. In: Sharon Mcdonald (ed.), Approaches to European Historical Consciousness: Reflections and Provocations. Edition Körber Stiftung (Hamburg, 2000.) 163-167.

2

Über Erik Molnár s. György Ránki, Bevezetés (Einführung), in Erik Molnár, Válogatott tanulmányok (Ausgewählte Aufsätze) (Budapest, 1969) 7-42.

3

Die wichtigsten Aufsätze der ersten Phase dieser Diskussion wurden veröffentlicht. In: Vita a magyarországi osztályküzdelmekről és függetlenségi harcokról (Diskussion über Klassenkämpfe und Unabhängigkeitskampfe in Ungarn) Vorwort und Nachwort von Pál Zsigmond Pach (Budapest 1965). Zur Auswertung: László Péter, New Approaches to Modern Hungarian History. In: Ungarn Jahrbuch 1972 , 161-171.

4

Hauptvertreter dieser Auffassung war Aladár Mód, die repräsentative Zusammenfassung seiner Auffassung ist sein noch im Laufe des Zweiten Weltkrieges geschriebenes Buch: Négyszáz év küzdelem az önálló Magyarországért (Vierhundertjähriger Kampf für das unabhängige Ungarn) (Budapest, 19516)

5

S. die Stellungnahme des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei im September 1959 über „Bürgerlichen Nationalismus - sozialistischen Patriotismus”. Társadalmi Szemle 14 (1959) 8-9, 11-39.

6

S. Domokos Kosáry, Viták a történeti tudományok területén az 1970-es években. (Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Wissenschaften im Laufe der 1970er Jahre) Az MTA Filozófiai és Történettudományok Osztályának Közleményei XXIX (1980) 119-136.

7

Es gibt natürlich auch unterschiedliche Meinungen zur Frage der Kontinuität oder Diskontinuität in der ungarischen Geschichtswissenschaft nach 1989-90. Für die Hervorhebung der Unterschiede s. Z B.: György Bence, Átmenet és átmentés a humán tudományban (Übergang und Hinüberretten in der Humanwissenschaft) BUKSZ, 1992. õsz 348-356. Zur Kontinuität: Ferenc Glatz, Pozitív múltszemléletet! (Für eine positive Geschichtsauffassung) História, 1993. 5-6. 2, 23. Zu dem breiteren politischen Kontext: Ferenc Glatz, Multiparty System in Hungary, 1989-1994. In: Béla K. Király (ed.), Lawful Revolution in Hungary, 1989-1994. East European Monographs, No. CDLXV. (New York, 1995.) 15-32. und János Kis, Between Reform and Revolution: Three Hypotheses about the Nature of the Regime Change. In: Béla K. Király (ed.), op. cit. 33-59.; Gábor Gyáni, Political Uses of Tradition in Postcommunist East Europe Social Research, vol. 60 (Winter 1993) no. 4. 893-915. Der neueste Versuch für einen allgemeinen Überblick der Entwicklungen in der ungarischen Geschichtswissenschaft im Laufe der letzten 10 Jahre: Gábor Gyáni, Történetírásunk az évezred fordulóján (Unsere Geschichtsschreibung an der Jahrtausendwende) Századvég 18 (2000) 117-140.

8

Gerhard Seewann-Kathrin Sitzler, Ungarn 1956:Volksaufstand-Konterrevolution-nationale Tragödie. Offizielle Retrospektive nach 25 Jahren. Zeitschrift für Gegenwartforschung 1/1982. 16-18.

9

Ausführlicher über die Interpretationen von 1956: Heino Nyyssönen,The Presence of the Past in Politics. „1956” after 1956 in Hungary (University of Jyvaskyla 1999)113-151.

10

Der Vorschlag für diese Terminologie unabhängig von diesen politischen Entwicklungen erschien zuerst in der Zeitschrift História, wo der Redakteur Ferenc Glatz betonte, in 1956 war eine grundlegende Umwälzung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der Gesellschaft nicht auf der Tagesordnung, so kann die Rede weder über eine Revolution noch eine Gegenrevolution sein. História 1988/6.

11

Der Name der Organisation war Kommission für Historische Justiz (ungarische Abkürzung TIB) und wurde noch illegal am 5. Juni 1988 gegründet.

12

Verabschiedet am 2. Mai 1990

13

György Litván: Kié 1956? (Wem gehört 1956?) Valóság, 1991/10. Zitiert in Nyyssönen, op. cit. 166.

14

Zu Millenium seitens der Regierung: Zoltán Rockenbauer, Magyar millennium (Ungarisches Millenium). In: Magyarország politikai évkönyve 2002. 106-113. Für die liberale Kritik der Feierlichkeiten: András Gerõ: Két millenium Magyarországon (Zwei Millenia in Ungarn). In: Mozgó Világ 2002/8/13-24.

15

Mária Ormos: From Padova to the Trianon (Budapest, 1996). Zuerst auf Ungarisch: Padovától Trianonig (Budapest, 1983.).

16

Mihály Fülöp-Péter Sipos, Magyarország külpolitikája a XX. században (Ungarns Außenpolitik im XX. Jahrhundert) (Budapest, 1998); Ignác Romsics, A trianoni békeszerződés (Der Friedensvertrag von Trianon) (Budapest, 2001); Miklós Zeidler, A revíziós gondolat (Der Gedanke der Revision) (Budapest, 2001); László Szarka, Duna-táji dilemmák (Dilemmata an der Donau) (Budapest, 1998)

17

Zusammenfassend über diesen Aspekt s. das bis jetzt unveröffentlichte Manuskript von Jeffrey S. Murer: Pursuing the Familiar Foreigner: The Resurgence of Antisemitism and Nationalism in Hungary since 1989. Eingereicht als Ph. Dissertation in Political Science an der University of Illinois in 1999.. Besonders Chapter 3. Im weiteren Arbeiten von György Csepeli, Ferenc Erős und András Kovács.

18

z.B. István Csurka, Az utolsó alkalom (Die letzte Gelegenheit). In: Havi Magyar Fórum, 1997/IX. Zitiert in: Magyarország politikai évkönyve 1998. 884-892.

19

s. Fussnoten 15 und 16.

20

Ignác Romsics, op.cit. 237.

21

Am 30. Juli 1990

22

s. Péter Sipos (Chefredakteur), Magyarország a második világháborúban (Ungarn im Zweiten Weltkrieg) (Budapest, 1996)

23

A magyarok krónikája (Die Chronik der Ungarn) herausgegeben, redigiert und die Einführungen von Ferenc Glatz (Budapest 1995, 19992), Zsuzsa L. Nagy, Magyarország története (Geschichte Ungarns) 1919-1945 (Debrecen 1991,19962) Ferenc Pölöskei–Jenő Gergely–Lajos Izsák, Magyarország története (Geschichte Ungarns) 1918-1990 (Budapest, 1995), Mária Ormos, Magyarország a két világháború korában (Ungarn im Zeitalter der beiden Weltkriege) (Debrecen, 1998), Jenő Gergely–Lajos Izsák, A huszadik század története (Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts) (Budapest, 1999).

24

s. György Litván, Politikai beszéd 1956-ról 1989 után (Politischer Diskurs über 1956 nach 1989). In: Magyar Hírlap, 23. Oktober 2001.

25

Tibor Huszár, Kádár János politikai életrajza (Die politische Biografie von János Kádár) 1, 2. (Budapest, 2001, 2003).

26

S. z.B. Katherine Verdery, The Political Lives of Dead Bodies. Reburial and Postsocialist Change. (Columbia University Press, New York, 1999)

27

s. Nyyssönen, op. cit. 188-218.

28

s. Nyyssönen, op. cit. 208.