Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:303–326.
KRISTIAN NAGLO
Multilingualität und Identitäten in Europa
Eine theoretische Annäherung anhand der Beispiele Luxemburg und Südtirol
Einleitung
Der vorliegende Beitrag wendet sich der Frage zu, welche Rolle Sprache bei der Herausbildung kollektiver Identitäten in mehrsprachigen Gesellschaften Europas einnimmt. Diesbezüglich werden zwei Fallstudien, Luxemburg und Südtirol, im Sinne einer vergleichenden Strukturanalyse vorgestellt. Der Fokus liegt hier von den Prozessen der Staats- und Nationenbildung des 19. Jahrhunderts bis heute.
Auf der Grundlage des Zusammenhangs von Sprache und Identität im Rahmen der Fallbeispiele, sollen potentielle Implikationen hinsichtlich der Ausbildung einer Identifikation mit der europäischen Ebene abgeleitet werden. Das Konzept (europäischer) Identität wird hier nicht aus-, sondern eingrenzend verstanden. Diesbezüglich kommt Mehrsprachigkeit1 ein zentraler Nutzen zu, da sie die Erfahrung der Relativität der eigenen Sprach- und Denkwelt vermittelt. Mehrsprachigkeit ist in diesem (normativen) Sinne eine kommunikative Notwendigkeit (vgl. Ehlich 2002). Ferner wird mit Lilli (vgl. 1998) argumentiert, dass eine potentielle europäische Identität nur als Bindestrich-Identität denkbar ist, d.h. entweder als Ergänzung der positiven oder als Ausgleich der defizitären relevanten (nationalen/regionalen/lokalen) Vergleichsidentitäten.
Bezogen auf die beiden Fälle gilt die Annahme, dass im Rahmen des Umgangs mit Sprache – im Sinne von Sprachpolitik, -gesetzgebung und -nutzung (-kontakt) – in der luxemburgischen Gesellschaft inklusive Elemente überwiegen, indes die sprachliche Regelung in Südtirol insgesamt geprägt ist von exklusiven Tendenzen, wenn in Südtirol auch zwischen den verschiedenen Sprachgruppen differenziert werden muss. Die Dialektik ‘inklusiv-exklusiv’ beschreibt hier den Grad des Konsenses innerhalb einer Gesellschaft, die Themen ‘Gebrauch mehrerer Sprachen’ und ‘Toleranz anderen Sprachgruppen gegenüber’ betreffend.
Es bieten sich demnach unterschiedliche Perspektiven von Mehrsprachigkeit, die sich in den Identitätsbildungsprozessen der jeweiligen Sprachgruppen ausdrücken. In diesem Sinne wird der Umgang mit Sprache zum Spiegel des identitären Selbstverständnisses und der Wahrscheinlichkeit bestimmter Interpretationen.
Die Vergleichbarkeit der beiden Fälle ergibt sich zunächst aufgrund des jeweils multilingualen Charakters, mit unterschiedlichen Sprachen, die je unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen übernehmen. Zwar existiert ein deutlicher Unterschied auf der Systemebene, da Luxemburg den Status eines souveränen EU-Mitgliedsstaates inne hat, Südtirol hingegen eine autonome Provinz in der Region Trentino/Südtirol im Rahmen des italienischen Nationalstaats verkörpert. Jedoch bieten einerseits die vergleichbaren Bevölkerungszahlen (Luxemburg ca. 440.000, Südtirol ca. 460.000) eine gute Basis für die Analyse. Neben der gegenwärtigen Lage als ‘prosperierende Inseln’2 zwischen zwei wesentlich größeren Staatsgebilden (Luxemburg zwischen Frankreich und Deutschland, Südtirol zwischen Italien und Österreich) wird hier andererseits die besondere (politische und ökonomische) Bedeutung der europäischen Integration nach dem II. Weltkrieg für beide Gebiete hervorgehoben.3
Zunächst soll ein historisch-funktional argumentierender Ansatz nach Stein Rokkan und Derek W. Urwin (vgl. 1983), der sich mit dem Zusammenhang von Sprache und Identität sowie Zentrums-Peripherie-Strukturen auseinandersetzt, eingeführt werden. Dieser wird im Anschluss durch sozialpsychologische Konzepte (Soziale Identitätstheorie; Theorie der Sprachanpassung) ergänzt (vgl. u.a. Giles et al. 1977; Tajfel 1981). Die Interdisziplinarität der Vorgehensweise begründet sich durch die Komplexität des Untersuchungsgegenstands: die analytische Betrachtung der kulturell-historischen Wurzeln und Zusammenhänge ist unerlässlich, um die Entstehung und Entwicklung von sprachlichen Strukturen und Identitätsbildungsprozessen nachvollziehen zu können. Ein problematischer Aspekt des Rokkan/Urwinschen Ansatzes liegt in dem Fokus auf Zentrums-Peripherie-Strukturen, da dies mitunter zu simplifizierenden und idealtypischen Betrachtungsweisen verleitet, die dem gegenwärtigen europäisierten und globalisierten Kontext u.U. nicht mehr gerecht werden4 (vgl. Schmidtke 2003). Gleichzeitig erlaubt der Rekurs auf die genannten Theorien der Sozialpsychologie, deren Defizit es wiederum ist, den Kulturbegriff nicht explizit zu machen (vgl. Graumann 1999), spezifische (und aktuelle) Fragestellungen an die Fallbeispiele heranzutragen und dabei mikro-individuelle Aspekte mit makro-kollektiven Ebenen bi- und multilingualer Kommunikation zu verbinden (Sachdev/Bourhis 1990). Die Kombination der unterschiedlichen Theorieansätze ermöglicht somit eine integrative Vorgehensweise, die kulturelle, normative, motivationale und soziostrukturelle Aspekte zur Analyse der Funktion von Sprache beinhaltet.
1. Theoretische Ansätze zur Analyse sprachlicher Identität
1.1 Stein Rokkan und Derek W. Urwin: Quellen sprachlicher Identität5 und das Überleben sprachlicher Eigenständigkeit
Während sowohl kulturelle als auch ökonomische Quellen der Unterscheidung im Kontext von Identitätsbildungsprozessen wichtig sind und gegenseitigen Beeinflussungen ausgesetzt sind, liegt der Fokus hier auf den erstgenannten. Zwar gibt es ‘ökonomische Peripherien’ – im Sinne ökonomisch weniger entwickelter Regionen – in Europa, jedoch kann keine territoriale Identität ausschließlich aufgrund ökonomischer Bedingungen oder auf der Basis von Klassenzugehörigkeit definiert werden, da keine ‘ökonomische Situation’ immer die gleiche ‘kulturelle Reaktion’ hervorruft.6 Identität ist vielmehr vor allem Teil der kulturellen Dimension. Als Muster der Orientierung dient dem Individuum eine Ansammlung von Einstellungen und Vorurteilen – die gleichzeitig als Kategorien des Vergleichs fungieren –, welche wiederum durch die spezifische, kulturelle und soziale Umwelt geprägt werden und Teil derselben sind. Diese Orientierungsmuster versorgen das Individuum mit einer Identitätsgrundlage und bieten ihm einen Maßstab, durch den es die Welt interpretieren und seine Reaktionen anpassen kann. Der Rokkan/Urwinsche Ansatz muss hier freilich dahingehend ergänzt werden, dass Identitätsbildungen einem fortlaufenden Kreislaufprozess unterliegen: so existiert auch eine Prägung (in Gegenrichtung) durch das Individuum/die Individuen, in der wiederum Maßstäbe für die Zukunft festlegt werden.
Sprache ist vor diesem Hintergrund eine der diversen Ausdrucksformen von Identität, gleichzeitig aber der offensichtlichste Begriff von Eigenständigkeit. So ist sie nicht nur eine Angelegenheit privater und individueller Präferenz: „the ability to speak a language is of little value if there is no way in which the individual can use it. It is also a question of public recognition, of the legitimization of standards: the use of a language is a collective act in which everyone in a territory must share, and it becomes politicized when a set of elite groups establish a standard of written communication and lodge claims for its recognition in public life” (Rokkan/Urwin 1983, 68). Diese Forderungen rufen wiederum Konflikte in zwei Hinsichten hervor: intern, zwischen Verteidigern bestimmter Dialekttradititonen, und extern, im Rahmen der Interaktion mit der Administration des ‘Zentrums’. Der Fokus liegt hier auf der Entwicklung und dem Status von Standardsprachen, wie früh/wie leicht sie etabliert wurden und welches Maß an Anerkennung sie erreichten, bzw. welche Konflikte sich im Prozess der Anerkennung einstellten. Rokkan und Urwin betonen in diesem Kontext die Bedeutung bestimmter Möglichkeitsstrukturen, entstanden durch politische Konflikte und ökonomische Transaktionen, die den Rahmen für tägliche Abläufe vorgeben: so ist es z.B. von entscheidender Bedeutung, welche Sprache im Bereich der öffentlichen Medien dominiert, ob mehr als eine Unterrichtssprache in den Schulen etabliert ist oder welche linguistischen Fähigkeiten wichtig sind, um eine Arbeitsstelle im öffentlichen Bereich besetzen zu können.
Um nun Fragen bezüglich der Ursprünge und Variationen im Status von ‘peripheren Sprachen’ beantworten zu können, ist es notwendig, den Interaktionsprozess zwischen politischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen zu berücksichtigen. Die Wellen von Eroberung, Okkupation und Rückzug in der europäischen Geschichte7 erzeugten ein spezifisches Muster ethnisch-sprachlicher Gruppierungen. Diese komplexe territoriale Verteilung fungierte als Infrastruktur für die institutionellen Entwicklungen im Hochmittelalter (wie z.B. zentralistische Monarchien, Städtebünde und die ersten bundesgenossenschaftlichen Strukturen). In der Folge bestimmte die ‘ethnische Verteilung’ Art und Kosten der Sprachstandardisierung in den Territorialstrukturen. Die einsetzende territoriale Konsolidierung – insbesondere nach dem Westfälischen Frieden 1648 – erweiterte die Möglichkeiten der Durchsetzung gemeinsamer Standardsprachen für die zeremonielle, administrative und juristische Kommunikation.8 Parallel zu diesen Prozessen ergaben sich Änderungen im ökonomischen Bereich. So stieg im Zuge der kommerziellen Revolution9 die Nachfrage nach Arbeitskräften, die in der ‘Kunst’ des Lesens und Schreibens ausgebildet waren: „the universities, once important agents responsible for the maintenance of Greek and Latin, also began to produce professionals in the vernacular languages“ (ebd., 69).
Für die Bedeutung des Begriffs der (modernen) Nation stellt die Französische Revolution eine historische Wasserscheide dar: verstand man ursprünglich darunter die Gesamtheit der Personen, die innerhalb eines bestimmten Raums geboren wurden (pays de naissance), umfasste er nun alle Personen, die innerhalb des Territoriums des französischen Staats lebten und den Dialekt der Île-de-France sprachen. Durch die Nationenbildung wurde also die wechselseitige Verstehbarkeit der Dialekte innerhalb eines Territoriums betont, um strategisch eine größere Identität mit dem ‘Zentrum’ herzustellen. An dieser Stelle soll auf die Arbeit Benedict Andersons verwiesen werden, der die Nation als vorgestellte (‘kreierte’) Gemeinschaft definiert.10 Er betont die Bedeutung neuer Wahrnehmungsformen von Zeit (bzw. Gleichzeitigkeit). Als zentral für die Geburt der vorgestellten Gemeinschaft der Nation nennt Anderson in dieser Hinsicht Roman und Zeitung (später das Radio), welche die technischen Hilfsmittel im Sinne von Repräsentationsmöglichkeiten für das Bewusstsein der Nation lieferten (vgl. Anderson 1997, 32).
Einen weiteren Schritt stellte die Industrielle Revolution dar. Aus ihr wuchs die Nachfrage nach Arbeitskräften, welche in der Lage waren, Instruktionen zu lesen sowie sich neue Fertigkeiten und Techniken über den Weg der Schriftsprache anzueignen. Diese Entwicklungen beschleunigten das Aufbrechen der alten Strukturen. Es entstand ein territorial erweiterter Markt, gekennzeichnet durch eine Vielzahl neuer Berufsgruppen. Die Folge war, dass eine große Anzahl von Personen ihre peripheren und marginalen Konditionen verließen und zunehmend in Kontakt mit der sich neu ausprägenden und zunehmend auf der schriftlichen Kommunikation basierenden territorienweiten Kultur kamen. Diese Entwicklungen stärkten einerseits die etablierten linguistischen Standards und schwächten andererseits die vererbten patois und Dialekte der Peripherien. Der Wandel der ökonomischen Prozesse schuf wiederum neue Möglichkeitsstrukturen bezüglich der Sprachwahl, was einen zentralen Einfluss auf das Schicksal peripherer Idiome hatte. Grundsätzlich gilt, dass sich die Überlebenschancen dieser Sprachen erheblich reduzierten, wenn sie vor dem Einsetzen der industriellen Entwicklung noch nicht standardisiert waren.
Auf der Grundlage des bisher Dargestellten propagierten Rokkan und Urwin (vgl. 1983, 70) ein analytisches Modell (four-step model), welches die drei zentralen Ebenen (Ökonomie, politischer und sprachlicher Wandel) zusammenführt. Die abhängige Variable stellt dabei die ‘Stärke der peripheren Sprache’ dar: ihre offizielle Anerkennung, die Zahl der Sprecher, ihre Position in den Massenmedien und ihre Rolle im Bildungswesen. Die vorangehenden kulturellen Entwicklungen – frühe/späte Alphabetisierung, frühe/späte Standardisierung und die chronologische Entwicklung des Bildungswesens – gingen jeweils einher mit parallelen ökonomischen und territorialen Entwicklungen. Durch die Kombination zweier Dimensionen, nämlich des Status jeder einzelnen Sprache und des Sprachsystems des jeweiligen Territoriums, ergeben sich sechs Kategorien der Sprachklassifizierung, die als Ansatz bei der Analyse ‘peripherer Eigenständigkeit’ dienen11 (vgl. Rokkan/Urwin 1983, 71-107):
(1) erfolgreiche Zentren: in diesen Fällen wird die einzige zentrale Sprache kontinuierlich gestärkt (Beispiele: Portugal, Dänemark, Schweden, Niederlande England, Frankreich, Deutschland und Italien).
(2) multilinguale Strukturen: in diesen Fällen koexistieren zwei oder mehrere Sprachen innerhalb desselben politisch definierten Territoriums durch Föderalisierung relativ friedlich (Schweiz, Belgien, Spanien).
(3) siegreiche Peripherien: hier konnte ein eigenständiger Standard erfolgreich etabliert und erhalten werden, dem die Mehrheit der Territorialbevölkerung loyal verbunden blieb. Darüber hinaus erlangten diese Gebiete die politische Unabhängigkeit (Finnland, Norwegen, Schweden, Island, Dänemark und Luxemburg).
(4) Peripherien mit schwachem Standard, aber einem gewissen Grad an Autonomie: in diesen Fällen erwiesen sich die Peripherien als unfähig, einen eigenen Standard wirkungsvoll zu etablieren oder zu erhalten. Dennoch schafften sie es, ein gewisses Maß an politischer (und später auch sprachlicher) Autonomie oder Unabhängigkeit zu erlangen (Baskenland, Galizien, Sardinien).
(5) marginale12 Peripherien: in diesen Fällen konnte weder ein effektiver Standard noch ein signifikanter Grad an Autonomie erlangt werden (die okzitanisch- und bretonischsprachigen Gebiete Frankreichs, Ladinien).
(6) Pufferzonen-Lösungen: hier geht es um Fälle im ‘Kreuzfeuer’ zentraler Sprachgemeinschaften. Durch den langen Prozess der territorialen Restrukturierung Westeuropas nach dem Ende Roms entstanden verschiedene Gebietseinheiten unterschiedlicher Größe entlang der Staatsgrenzen (Südtirol, Val d’Aosta, Elsaß, Lothringen).
Nach der Einführung dieses historisch-funktionalen Ansatzes als Grundlage zur Analyse sprachlicher Besonderheit in multilingualen Territorien werden im Folgenden sozialpsychologische Theorien in den Analyserahmen aufgenommen, um motivationalen und soziostrukturellen Elementen Geltung zu verschaffen. Grundsätzlich scheinen diese Ansätze auch geeignet, die europäische Ebene in die Untersuchung einzubeziehen.13
1.2 Gruppenidentitäten und Sprache aus sozialpsychologischer Sicht
Dem Grundkonzept der Sozialen Identitäts-Theorie (SIT) folgend (vgl. u.a. Tajfel 1981; 1982), dienen die (kognitiven) Prozesse der sozialen Kategorisierung und des sozialen Vergleichs zur motivationalen Aufrechterhaltung und Verteidigung der sozialen Identität, welche sich durch die Zugehörigkeit zu positiv bewerteten Gruppen ableitet. Eine weitere wesentliche Komponente im Kontext der SIT stellt das Modell der sozialen Struktur dar, das sich mit den Statusrelationen zwischen den jeweiligen Gruppen respektive Kategorien und dem Wettbewerb um Ressourcen (Macht, Rechte) beschäftigt. Den Statusunterschieden (z.B. zwischen Staaten oder Regionen) kommt insbesondere im Konfliktfeld des sich erweiternden EU-Europas eine besondere Bedeutung zu, da diese ein Hauptproblem der Integration bilden (vgl. Lilli 1998). Die Theorie der Sprachanpassung (Speech Accomodation Theory, SAT) von Howard Giles (vgl. Giles et al. 1977), welche auf der SIT aufbaut, verdeutlicht in dieser Hinsicht, dass insbesondere die Sprache in den genannten sozialen und psychologischen Prozessen eine zentrale Stellung einnimmt. Ziel der SAT ist es, das Phänomen des code switching14 vor dem Hintergrund sozialpsychologischer Prozesse, sowohl auf der interpersonalen als auch auf der Intergruppenebene zu erklären.15 In diesem Kontext kommt den sozialen Kategorisierungsprozessen eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Tajfel 1982). Das Hauptaugenmerk der SAT liegt diesbezüglich auf den Phänomenen der sprachlichen Konvergenz (speech convergence), der sprachlichen Abweichung (speech divergence) und der sprachlichen Aufrechterhaltung (speech maintenance). Speech convergence bezieht sich auf Gesprächspartner (interlocutor), die sich im Prozess der Konversation dem Gegenüber angleichen. Im Gegensatz dazu beschreibt speech divergence Gesprächspartner, die linguistische Unterschiede zwischen ihnen und anderen akzentuieren. Diese Phänomene ereignen sich oft gleichzeitig auf verschiedenen sprachlichen Ebenen (Inhalt, Stil, Akzent, etc), wobei sich die Sprecher ihres ‘Codewechsels’ nicht immer bewusst sind. Verschiedene Untersuchungen (vgl. u.a. Bourhis 1983) legen in dieser Hinsicht nahe, dass die Ebene des Bewusstseins der Sprecher im Rahmen von speech divergence höher ist als bei speech convergence (vgl. Sachdev/Bourhis 1990, 296f.).
Der Wunsch nach psychologischer Distinktheit ist im Sinne des Konzepts der SIT das Ergebnis des Zusammenspiels zwischen dem Prozess der Kategorisierung, (sozialer) Identitätsbildung und sozialem Vergleich. Nach Tajfel und Turner reicht soziale Kategorisierung per se (z.B. durch willkürlich zusammengestellte Gruppen) aus, um Intergruppendiskriminierung zu bewirken. So zeigte sich, dass selbst die Diskriminierung ‘minimaler Gruppen’ die motivationale Erfüllung positiver sozialer (Eigengruppen)Identitäten befriedigte (vgl. Tajfel/ Turner 1986). In multilingualen Intergruppenkontexten nutzt SAT die SIT als Basis zur Analyse von language maintenance, divergence und convergence. Diesbezüglich sind zwei Gründe zu nennen, die für die Bedeutung von Sprache stehen: erstens ist Sprache ein sich ständig aktualisierendes und bedeutendes menschliches Attribut. Zweitens ist sie ein komplexer Prozess und das Hauptinstrument der interpersonalen Kommunikation. In mehrsprachigen Kontexten dient Sprache als zentrales Hilfsmittel zur Erstellung sozialer Kategorien und wird häufig als die bedeutendste Dimension von Gruppenidentitäten angesehen. So bedient sie Individuen mit einem Vorrat von Verhaltensweisen, um psychologische Andersheit zu kommunizieren. Die unterschiedlichen Vorgehensweisen von (ethnischen) Gruppen, sich auf der Basis von Sprache zu unterscheiden, lassen sich, nach der Theorie der Sprachanpassung, als Strategien zur Herstellung von psycholinguistischer Distinktheit beschreiben (vgl. Giles et al. 1977).
Neben den motivationalen Aspekten spielen auch soziostrukturelle Faktoren eine bedeutsame Rolle. Die Kontrastierung ethnolinguistischer Gruppen wird beeinflusst durch Anzahl, Macht und Status der Gruppen. Aus diesem Grund führten Giles et al. (vgl. ebd.) das Konzept der ethnolinguistischen Vitalität ein. Es beinhaltet eine Taxonomie von Faktoren, die hypothetisch die ethnolinguistische Vitalität von Gruppen beeinflussen, d.h. die Fähigkeit, sich als eigenständige und aktive Einheiten in Intergruppensituationen zu behaupten. Nach Giles et al. machen der Status der Gruppen, die demographische Stärke, die institutionelle Unterstützung und Kontrollfaktoren die ethnolinguistische Vitalität aus. Statusvariablen beziehen sich auf das soziohistorische Prestige der Sprachgruppen, den sozialen und ökonomischen Zustand, sowie auf den nationalen und internationalen Status der jeweils benutzten Sprachen. Demographische Stärke meint die zahlenmäßige Stärke und ihre Verteilung in urbanen, regionalen und nationalen Räumen. Außerdem beinhaltet diese Kategorie auch Raten und Bedeutung von Ein- und Auswanderung, Endogamie und Geburtenraten. Institutionelle Unterstützung bzw. Kontrollfaktoren schließen die verschiedenen Bildungssysteme, politische, religiöse, ökonomische sowie kulturelle Institutionen und die Massenmedien ein (vgl. Sachdev/Bourhis 1990, 299).
Es wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der (sozialen) Funktion von Sprache in multilingualen Gesellschaften zwangsläufig zum Gegensatz von Funktionalität und den Einstellungen der Sprecher gegenüber den unterschiedlichen Idiomen führt. Sprache besitzt offensichtlich einen funktionalen Aspekt, da wir sie benutzen, um zu kommunizieren. Sie bezieht sich also einerseits auf die unterschiedlichen Kompetenzen von Individuen und Kollektiven und fungiert als Mittlerin. So dient sie dem Menschen als Medium, durch das er seine Kultur und Umwelt erfasst und begreift und sich ihr begreifbar macht.
Andererseits verkörpert sie aber auch den Anspruch auf Eigenart. Die Benutzung von Sprache als Ausdruck des Selbst führt in der Regel zu Grenzziehungen zwischen Mehrheiten und Minderheiten durch Eigen- und Fremdkategorisierungen. In diesem Kontext dient Sprache auch als Symbol für (ethnische) Identität und kulturelle Solidarität und kann so zu einer Art politischer Währung mutieren. Bezogen auf Intergruppenbeziehungen wird sie beispielsweise benutzt, um die ingroup an ihr kulturelles Erbe zu erinnern, Gruppengefühle zu vermitteln, und Mitglieder der outgroup von ihren internen Transaktionen auszugrenzen. Weiterhin kann Sprache (unter Bedingungen ethnischer Bedrohung) durch den zielgerichteten Gebrauch von Akzent, Inhalt und bestimmter lexikalischer Spezifika ingroup membership signalisieren bzw. betonen (vgl. Giles et al. 1977).16 Dabei stehen Sprachen in der Regel für die nationalen/regionalen/lokalen Gruppen die sie sprechen, sowohl in der Selbstwahrnehmung der Gruppen als auch in der Fremdwahrnehmung durch die outgroup. In diesem Zusammenhang wird hier davon ausgegangen, dass die Zukunft der jeweiligen Sprache verbunden ist mit dem Schicksal der Gruppe, die sie spricht. Aufstieg und Niedergang einer Sprache hängen nicht von ihren linguistischen Eigenschaften ab, mit ‘stärkeren’ oder ‘besseren’ Sprachen die ‘weniger starke’ oder ‘schlechte’ ersetzen. Vielmehr ist der symbolische und kommunikative Status von Sprache untrennbar verbunden mit dem sozialen und politischen Vermögen der Sprecher (vgl. O´Reilly 2003, 20; Fishman 1991).
Aufgrund des hier entwickelten Theorierahmens lassen sich zusammenfassend folgende Fragen an die Fallanalysen herantragen:
1. Welche historischen Zusammenhänge zwischen Sprache und Identitätsbildungsprozessen (bezogen auf die sprachliche, kulturelle und politische Eigenständigkeit) lassen sich in Luxemburg und Südtirol identifizieren?
2. Wie ist die Bedeutung der Sprache bei der Durchsetzung psychologischer Distinktheit der jeweiligen Sprachgruppen einzuschätzen?
3. Welche Implikationen ergeben sich für den Begriff der Mehrsprachigkeit und eine Identifikation mit der europäischen Ebene?
2. Luxemburg und Südtirol: ein sprach- und soziohistorischer Vergleich
2.1 Luxemburg
Historischer Überblick
Luxemburg gilt nach der Kategorisierung Rokkans und Urwins (vgl. 1983) als siegreiche Peripherie. Die historische Situation Luxemburgs, nach der Gründung im Jahr 963, war bereits früh geprägt durch konstanten kulturellen und politischen Einfluss aus dem germanischen und romanischen Sprachraum. So entstand schon bald eine multilinguale Situation (vgl. Gilles/Moulin 2003). Seit dem späten 14. Jahrhundert dominierte zunehmend die kulturelle Abkapselung von der Germania, charakterisiert durch die ausgeprägte Einbindung in den romanisch-flandrischen Kulturkreis. Diese Situation änderte sich auch nicht, als Luxemburg 1482 an die spanischen Habsburger fiel, 1684 wiederum Frankreich einverleibt wurde und von 1714 bis 1795 unter der Herrschaft der österreichischen Habsburger existierte. Im Zuge der Französischen Revolution kam Luxemburg, als Département des Fôrets, wieder an Frankreich. Auf dem Wiener Kongress (1815) wurde es dann zu einem souveränen Staat erhoben. Obwohl es nun als unabhängiges Großherzogtum galt, beherbergte Luxemburg, paradoxerweise, als Mitglied des Deutschen Bundes preußische Truppen und wurde andererseits dem König der Niederlande (Wilhelm I.) als persönliches Eigentum zugesprochen. Unter dem Einfluss Wilhelms I. wurde Französisch alleinige Amtssprache. Als Luxemburg in der Folge der Belgischen Revolution (1830) alle wallonischen Gebiete (die heutige belgische Province du Luxembourg) an Belgien abtreten musste, wurde der verbleibende germanophone Landesteil zum unabhängigen Großherzogtum Luxemburg (in den Grenzen von heute) ernannt (festgelegt im Londoner Vertrag, 1839). Dies führte zu einer zunehmenden Germanisierung, auch, weil Wilhelm I. den romanischen Westen durch die belgischen Annexionsgelüste nun als Gefahr ansah und entsprechend einen Politikwechsel forcierte. Das Gebilde blieb Mitglied im Deutschen Bund und durch Personalunion mit den Niederlanden vereint (vgl. Berg 1993,15f.).
Nach dem Erreichen politischer Autonomie stieg das nationale Selbstbewusstsein, und Merkmale einer genuinen Identität der Luxemburger wurden, zunächst ex negativo, also als Ablehnung alles Nicht-Luxemburgischen (vgl. ebd.), formuliert. In der nationalen Identitätskonstruktion berief man sich gleichzeitig auch auf Einflüsse des romanischen und germanischen Kulturraums. So prägte die flexible Anpassung an die beiden gewichtigen Nachbarn Frankreich und Deutschland stets die Sprachenfrage: beide exoglossischen Standards fanden und finden bis heute in Verwaltung und Justiz Verwendung, und die Akademikerelite Luxemburgs wurde in der Regel in einem der beiden großen Nachbarländer ausgebildet. Die erstmalige Festschreibung der offiziellen Zweisprachigkeit (Französisch und Deutsch) ist in der Verfassung von 1848 verankert (vgl. Weber 2002). Gleichzeitig übernahm die in Luxemburg gesprochene Sprachvarietät eine bedeutende Rolle und konnte bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts, vor allem aber nach dem II. Weltkrieg17, zum Nationalsymbol aufsteigen, als die Aversion gegen alles Deutsche bewusst identitätsbildend wirkte (Rokkan 2000).18
Von gesellschaftshistorischer Relevanz ist die steigende Bedeutung der Stahlindustrie (um 1870) im Kontext der Industrialisierung, die relativ spät einsetzte. Bis zu diesem Zeitpunkt ist Luxemburg als armes Agrarland ohne städtische Kultur zu charakterisieren. In der Folge des Prozesses der Industrieansiedlung, der im Wesentlichen auf den Süden des Landes beschränkt blieb, kam es zu einer vermehrten Zuwanderung auch ausländischer Arbeitskräfte – zunächst waren dies überwiegend Deutsche und Italiener. Die Ausrichtung auf die Stahlindustrie (bis zur Stahlkrise zu Beginn der 1970er Jahre) machte Luxemburg nach dem II. Weltkrieg zu einem europäischen Land der ‘ersten Stunde’ (Montanunion). Luxemburg gehörte später als Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Römische Verträge, 1957) quasi zum ‘Kern’ des befriedeten und sich vor allem ökonomisch integrierenden Westeuropas nach 1945. Die europäische Ebene spielt seitdem eine besondere Rolle für die luxemburgische Gesellschaft und die Politik des relativ kleinen Landes: so ermöglicht der Europabezug einerseits die Konturierung einer genuinen Außenpolitik. Andererseits verstärken die Ansiedlung der EU-Institutionen und die geographische Nähe zu Brüssel das Selbst- und Fremdverständnis als eine zum Zentrum (West)Europas gehörende Gesellschaft. Darüber hinaus trägt die ökonomische Prosperität fraglos zur Aufwertung der nationalen Eigengruppe im europäischen Kontext bei.19 Potentiell fördert dies aber auch Zweifel an der Effizienz der (erweiterten) transnationalen Ebene und Skepsis gegenüber der EU-Erweiterung.20
Bis heute ist der hohe Ausländeranteil prägend für die luxemburgische Gesellschaft. Eine weitere Einwanderungswelle von hauptsächlich Portugiesen erfolgte zu Beginn der 1970er Jahre. Diese stellen seit 1978 die größte Einwanderergruppe dar. Gegenwärtig beläuft sich der Ausländeranteil der Gesamtbevölkerung auf ca. ein Drittel. Hinzu kommen ca. 90.000 tägliche ‘Grenzgänger’ aus Frankreich, Belgien und Deutschland, die in Luxemburg arbeiten (vgl. Schmit 1998). Dieser ‘multinationale’ Arbeitsmarkt (ca. 50% der Arbeitskräfte sind Ausländer) bildet die Grundlage für die ‘gelebte’ Mehrsprachigkeit der gegenwärtigen Gesellschaft Luxemburgs.
Der sprachliche Kontext
Die heutige Sprachpolitik Luxemburgs wird, der Typologie Siguans (vgl. 2001) folgend, als institutionalisierte Mehrsprachigkeit bezeichnet. In diese Kategorie fallen jene Staaten, die zwei oder mehr Sprachen als Nationalsprachen betrachten und deren Sprachpolitik ihren Gebrauch uneingeschränkt im ganzen Land berücksichtigt. Luxemburg stellt, aufgrund der drei dort offiziell verwendeten Sprachen – Lëtzebuergesch, Französisch, Deutsch –, in dieser Hinsicht das eindeutigste Beispiel in Europa dar.
Die drei Sprachen der luxemburgischen Gesellschaft stehen in einem triglossischen Verhältnis zueinander. Geht es um die Kommunikation der Luxemburger untereinander, wird in der Regel von medialer Diglossie gesprochen und zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachgebrauch unterschieden (vgl. Gilles/Moulin 2003). Die einzige Umgangssprache der Luxemburger untereinander ist Lëtzebuergesch (sie findet z.B. auch in den meisten Parlamentsreden oder der Ansprache des Großherzogs zum Nationalfeiertag Verwendung). Nur im sprachlichen Umgang mit Ausländern sprechen Luxemburger Französisch oder Deutsch. Nach Gilles (vgl. 1999, 9) lässt sich die ‘intranationale Mündlichkeit’ Luxemburgs demnach als strikt einsprachig bezeichnen. Auch existiert kein code switching innerhalb der luxemburgischen Sprachgemeinschaft. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Deutsch und Französisch reine Funktionssprachen sind, die dem Lëtzebuergeschen so fern stehen, dass emotionaler bzw. unbewusster Sprachwechsel (in den Richtungen Lëtzebuergesch–Deutsch und Lëtzebuergesch–Französisch) nicht auftritt (vgl. Berg 1993, 134).
Am Arbeitsplatz wird in der Regel Französisch gesprochen, wobei erwähnenswert ist, dass die Kompetenz der ausländischen Bevölkerung und der Grenzgänger im Lëtzebuergeschen in den letzten Jahren signifikant gestiegen ist (vgl. Fehlen 2002). Die Domänen des Schriftgebrauchs dominieren das Französische (Verwaltung, Justiz) und das Deutsche (Presse). Allerdings genießt das Lëtzebuergesche mittlerweile auch einen gewissen Status als Literatursprache (vgl. Gilles 1999, 8).
Der mehrsprachige Charakter des Landes wird besonders auf der Bildungsebene deutlich: in den Vorschulen wird ausschließlich Lëtzebuergesch gesprochen. Es bleibt auch später die mündliche Verkehrssprache zwischen Schülern und Lehrern. Mit Beginn der Schulpflicht wird Lesen und Schreiben zunächst in deutscher Sprache unterrichtet. Ein Jahr später wird das Französische eingeführt. In der Folge werden einige Fächer in deutscher, andere in französischer Sprache unterrichtet. Hinzu kommt eine Wochenstunde Lëtzebuergesch, die häufig zur Vertiefung von Lehrinhalten genutzt wird (vgl. Siguan 2001, 77; Gilles 1999). Insgesamt kommt dem Lëtzebuergeschen im Bildungssystem Luxemburgs die Funktion einer Hilfssprache zu. Für die Kinder ausländischer Herkunft, die durch die ‘Schulsprache Deutsch´ teilweise vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt werden, dient das Lëtzebuergesche auch als Integrationssprache (vgl. Weber 2002).
Das Lëtzebuergesche gilt seit 1984 (Loi sur le régime des langues) offiziell auch als Amtssprache. Jedoch hatte diese Hervorhebung zur Nationalsprache keine praktischen Konsequenzen zur Folge (vgl. Kramer 1992), weder hinsichtlich einer weiteren Standardisierung, noch eines vermehrten Gebrauchs im Schulsystem. Ziel war wohl vielmehr, die Bedeutung der Sprache als Nationalsymbol hervorzuheben, weniger jedoch die funktionale Stellung des Lëtzebuergeschen gegenüber den beiden anderen Standards auszubauen (vgl. Gilles 1999, 10). Neben dem symbolischen Wert der Sprache als Zeichen der nationalen Identifikation kann die Aufwertung als Schutzmaßnahme für eine – durch die niedrige Sprecherzahl und das relativ geringe Prestige – vom Aussterben bedrohte Sprache gesehen werden. Weber (vgl. 2002, 158) weist diesbezüglich darauf hin, dass sich die Aufwertung des Lëtzebuergeschen bereits positiv ausgewirkt hat: einerseits ist eine erhöhte Nachfrage nach Sprachkursen, Lern- und Bildmaterial etc. im Land und in den angrenzenden Regionen zu verzeichnen. Andererseits besteht die Bereitschaft auf luxemburgischer Seite, dieser zu entsprechen.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass den verschiedenen offiziellen Sprachen in Luxemburg jeweils unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen zukommen. Während das Lëtzebuergesche als zentrales Symbol nationaler Identifikation zur Herstellung positiver psycholinguistischer Distinktheit fungiert, tragen die exoglossischen Standards Französisch und Deutsch zur Ausbildung einer spezifischen und komplexen multilingualen Situation bei, die, auch bedingt durch den von Ausländern geprägten transnationalen Arbeitsmarkt, ein zentrales Merkmal der luxemburgischen Gesellschaft ist. Die spezifische Art der Mehrsprachigkeit fungiert als Teil der luxemburgischen Identitätskonstruktion. Natürlich gibt es auch in Luxemburg abgrenzende (nationalistisch-sprachpuristische) Strömungen, und die politischen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse innerhalb des Landes sind oft unübersichtlich und werden auf verschiedenen und sich teilweise überlappenden Ebenen geführt. Insgesamt ergibt sich aber die Perspektive einer Gesellschaft, die in der Lage war, eine inklusive Form der Mehrsprachigkeit erfolgreich (politisch) zu integrieren.
2.2 Südtirol
Historischer Überblick
Südtirol ist nach Rokkan und Urwin (vgl. 1983) ein Beispiel für eine (historische) Pufferzonenlösung zwischen zwei zentralen Sprachgemeinschaften, nämlich der italienischen und der deutschen, sowie einer marginalen Sprachgemeinschaft, der ladinischen21, die über keinen signifikanten Autonomiegrad verfügt. Von den etwa 460.000 Einwohnern Südtirols gehören ca. zwei Drittel der deutschen, ca. 30.000 der ladinischen und ein schwaches Drittel der italienischen Sprachgruppe an (vgl. Rainer 2002).
Tirol war seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Teil des Habsburgerreichs und in Phasen des 19. Jahrhunderts auch Teil Bayerns. Als Venedig und dessen Hinterland 1866 von Österreich an den neu konstituierten italienischen Staat abgetreten wurde, blieb ein Landdreieck südlich der Alpen, Südtirol, österreichisch. Dieser Gebietserhalt Österreichs war einerseits strategisch, andererseits durch den großen deutschsprachigen Bevölkerungsteil auf diesem Territorium motiviert. Allerdings gab es dort bereits eine starke italienischsprachige Minderheit sowie eine kleine ladinische Bevölkerungsgruppe in den Dolomitentälern.
Die italienischsprachigen Gebiete Südtirols galten in Italien fortan als Irredenta – d.h. als unerlöstes italienisches Territorium. Nach dem I. Weltkrieg wurde Südtirol Italien als Gegenleistung für dessen Kriegseintritt auf der Seite der Alliierten zugesprochen (1919).22 Unter der faschistischen Herrschaft Mussolinis (seit 1922) erfolgte die Initiierung einer Italianisierungspolitik, die das Problem der unterschiedlichen ethnischen Gruppierungen verschärfte. Ziel des faschistischen Programms war die zwanghafte Integration der lokalen Bevölkerung in die nationale Einheitskultur. Dies sollte erreicht werden durch die Anwendung von Zwangsmaßnahmen wie Umsiedlungen und die gewaltsame Durchsetzung der (italienischen) Nationalsprache.23 Die durchgeführten Umsiedlungen betrafen die italienische und die deutsche Sprachgruppe: während italienischsprachige Bevölkerung aus allen Teilen Italiens angesiedelt wurde, fand eine Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung als Folge der zwischen Hitler und Mussolini vereinbarten Option24 statt (vgl. Baur et al. 1998).
Nach der Besetzung Südtirols und Norditaliens durch Deutschland, die viele Südtiroler als eine Befreiung vom ‘italienischen Joch’ empfanden, kam es zu einem de facto Anschluss Südtirols an das Reich. Staatsrechtlich aber blieb Südtirol ein Teil Italiens. Als Italien 1945 die Regierungsgewalt wieder übernahm, wurde eine ‘Re-Italianisierung’ initiiert (z.B. durch die Wiederaufnahme einer verstärkten Einwanderungspolitik und die Einrichtung gemischtsprachiger Schulen) (vgl. Steininger 2000).
Grundlage für die Rechte der deutschen Sprachminderheit in Südtirol ist der Pariser Vertrag von 1946.25 In der Folge gestand der italienische Staat in Verhandlungen mit Österreich dem Gebiet ein erstes Autonomiestatut (1948) zu, allerdings für eine erheblich größere Region, genannt Trentino/Alto Adige, in dem sich nun die Deutschsprachigen insgesamt deutlich in der Minderheit befanden. Durch den andauernden Unwillen Roms zur Umsetzung des Abkommens, sich ausdrückend in ethnischer, sprachlicher und ökonomischer Diskriminierung der nicht-italienischen Sprachgruppen, lag die (politische) Hauptlast der Verwirklichung bei der 1945 (von ‘Dableibern’) gegründeten südtiroler Sammelpartei SVP (Südtiroler Volkspartei), die gleichzeitig die ladinische Bevölkerungsgruppe vertrat, da diese in dem Vertragstext nicht berücksichtigt wurde (vgl. Steininger 2000). Der konstruktive Politikansatz eines autonomiepolitischen modus vivendi zwischen Bozen und Trient scheiterte zu Beginn der 1950er Jahre an der zunehmenden Polarisierung wie auch an den vergeblichen Versuchen der Südtiroler, ihr Autonomiestatut zu verbessern, und dem dadurch entstehenden inneritalienischen Konfliktpotential. Dieses doppelte Konfliktfeld führte zu einer belastenden regionalpolitischen Stimmung und in der Folge zur Eskalation der Situation, sich manifestierend in terroristischen Anschlägen, die bis in die Mitte der 1960er Jahre anhielten (vgl. Langer 1996).
Die von Österreich (als Schutzmacht) – vor allem nach der Wiedererlangung der Souveränität und der Anerkennung der Neutralität nach dem Grundlagenvertrag 1955 – unterstützte Opposition der Deutschsprachigen und die zunehmende Bereitschaft auf italienischer Seite, das Problem anzugehen,26 führte zum so genannten Paket (1969) bzw. im Jahre 1972 zu einem zweiten Autonomiestatut, das die Grundlage für die heutige Regelung des Zusammenlebens in Südtirol nach dem Konkordanzprinzip darstellt. Im Rahmen dieses zweiten Autonomiestatuts übertrug man den beiden Provinzen Trient und Bozen weitgehende wirtschaftliche und kulturelle Kompetenzen. Weiterhin wurden auf der Basis des zweiten Autonomiestatuts Durchführbestimmungen zum ethnischen Proporz und zur Zweisprachigkeit erlassen (vgl. Zappe 1996: 79).27
Neben dem Konflikt der Sprachgruppen in Südtirol soll hier noch auf die zentrale Bedeutung hingewiesen werden, die die europäische Einigung nach dem II. Weltkrieg für Südtirol hatte. Italien gehörte – wie Luxemburg –zu den Gründungsmitgliedern der EGKS und der EWG. So profitierte Südtirol während der gesamten Nachkriegsperiode von EU-Förderprogrammen.28 Die intensive Regionalpolitik im Kontext der europäischen Integration verstärkte in der Folge die Ausbildung einer spezifischen südtiroler Identität, die sich z.B. auch von Nordtirol abgrenzt. In der Selbstwahrnehmung unterscheidet sich Südtirol von seinen Nachbarn vor allem durch die Mehrsprachigkeit und das Zusammenleben verschiedener Kulturen, was gleichzeitig als Grundlage für die ökonomische Prosperität angesehen wird.29 So ist die nationale Ebene der Identifikation für die deutschsprachigen Südtiroler kaum noch von Bedeutung. Als Ebene der Identifikation gilt vornehmlich die lokale bzw. regionale, wobei die europäische Ebene die nationale als zusätzliche Ebene der Identifikation verdrängt hat. Ähnliches gilt für die Ladiner Südtirols, obwohl hier die Loyalität zum italienischen Nationalstaat die zu Europa noch übertrifft. Die italienische Sprachgruppe identifiziert sich wiederum hauptsächlich mit dem italienischen Nationalstaat und erst an zweiter Stelle mit der Region. Europa spielt hier nur eine marginale Rolle.30
Der sprachliche Kontext
Zwar ist die Mehrsprachigkeit in Südtirol auch institutionalisiert, jedoch in einem juristisch viel restriktiveren Maße als in Luxemburg. Südtirol ist daher in der Kategorie sprachliche Autonomie im Rahmen der sprachpolitischen Typologie Siguans (vgl. 2001) zu verorten. Die Bezeichnung sprachliche Autonomie ist kennzeichnend für die Sprachpolitik in Staaten, die zwar über eine Nationalsprache verfügen, anderssprachigen Gebieten aber politische Autonomie einräumen. Diese Gebiete innerhalb der Nationalstaaten erhalten dadurch die Möglichkeit, ihre eigene Sprachpolitik voranzutreiben und einen co-offiziellen Status ihrer Sprachen durchzusetzen.
Die aktuelle Situation in Südtirol ist durch die formal-juristische Festlegung der Sprachgruppenzugehörigkeit als Volksgruppenzugehörigkeit gekennzeichnet. Diese, aus Gründen des Minderheitenschutzes für die deutsche und ladinische Sprachgruppe eingeführte Regelung, hat beispielsweise den Besuch strikt getrennter Schulen bis hin zur Vergabe von Arbeitsstellen im öffentlichen Dienst und sozialen Förderungsmaßnahmen nach dem ethnischen Proporz zur Folge.31 Die Ausnahme im Schulsystem bilden die ladinischen Ortschaften in Südtirol, die eine paritätische Regelung einführten, in deren Rahmen zu gleichen Teilen Deutsch und Italienisch unterrichtet wird und Ladinisch als Hilfssprache dient. Deutsch und Italienisch sind offizielle Sprachen, das Ladinische genießt einen besonderen Schutz, erfährt allerdings im restlichen Italien keine Förderung. So sind die Ladiner als zahlenmäßig kleine Minderheit zwar rechtlich anerkannt, vom Proporz allerdings in der Regel nur unzureichend berücksichtigt.
Alle drei südtiroler Sprachgruppen verfolgen das Ziel der sprachlich-kulturellen Eigenständigkeit. Insbesondere die deutsche Sprachgruppe beharrt auf dem Schulseparatismus, weil sie den Verlust der Gruppenidentität durch Sprachassimilierung sowie Niveauverlust durch gemischte Schulen fürchtet. Initiativen wie der so genannte Immersionsunterricht an italienischsprachigen Schulen, in dem auch Sachkunde in der zweiten Sprache gelehrt werden soll, gelten der deutschen Sprachgruppe als existenzielle Bedrohung für ihre Sprache in der Region (vgl. Atz 1999: 131). Andererseits gibt es in der sehr heterogenen italienischen Sprachgruppe32 – nicht zuletzt wegen der obligatorischen Zweisprachigkeit – auch einen Widerstand gegen das Erlernen der deutschen Sprache. Hinzu kommt das Problem des deutschen Dialektes in Südtirol, der auch auf deutschsprachige Italiener ausgrenzend wirkt.33 Die ladinische Sprachgruppe scheint durch das effizientere Schulsystem von der gegenwärtigen Sprachsituation zu profitieren. Es ist jedoch fraglich, ob der sprachliche Assimilierungsprozess der Ladiner, trotz eines relativ starken Bewusstseins der Eigenständigkeit, aufgehalten werden kann, da die Bedeutung des Deutschen und des Italienischen, aber auch des Englischen, im europäischen Kontext zunimmt.
Die ethnopluralistische Regelung in Südtirol im Zuge der Paketlösung, welche den sprachlichen Bekenntniszwang mit dem ethnischen Proporz z.B. bei der Stellenvergabe verknüpft, hat zu einer Verfestigung ethnonationaler Denkmuster und zu Re-Ethnisierungsprozessen geführt. Die obligatorische Zweisprachigkeit und die Tatsache, dass es außer im Berufsleben kaum sprachgruppenübergreifende Kontakte gibt, bewirken eine Spaltung der südtiroler Gesellschaft in verschiedene Subgesellschaften. So erzeugt der Hegemonieanspruch der deutschsprachigen Mehrheit gleichzeitig eine Revitalisierung des Nationalbewusstseins der italienischen Sprachgruppe. Als Konsequenz dominiert die ethnisch-nationale Zuordnung andere identitätsstiftende Faktoren (vgl. Baur et al. 1998, 271ff.). Sprache dient hier vor allem als exklusiver Identitätsmarker.
Der südtiroler Fall bietet daher unterschiedliche Perspektiven: auf der einen Seite die gelungene Befriedung eines ethnischen (Minderheiten-)Konfliktes auf gesetzlicher Basis. Andererseits ergibt sich vor allem in Bezug auf Sprache ein Bild der Kategorisierung und Abgrenzung der Sprachgruppen voneinander, das dem Gedanken eines vereinten Europas widerspricht. Hier besteht die Gefahr, dass eine historische Chance vertan wird: zwar existieren alle Voraussetzungen und Strukturen für die Umsetzung einer gelebten Mehrsprachigkeit, faktisch wird dies jedoch durch politische Verteilungskämpfe verhindert. Andererseits führt das südtiroler Beispiel die möglicherweise nicht zu überwindenden Grenzen vor Augen, denen sich eine idealisierte, stark normative Vorstellung Europas stellen muss.
3. Exkurs: Erweiterung der Perspektive am Beispiel Ungarns
Während die Perspektive hier bisher die Westeuropas war, soll nun ein Blick auf die neuen Mitgliedsländer der EU geworfen werden. Im Zuge der Erweiterungsprozesse ist es zukünftig unabdingbar, die oft noch vorherrschende (stillschweigende) Gleichsetzung von Europa und europäischer Kultur mit dem geographischen Westen zu überwinden (vgl. Jaworski 1991). Insbesondere die Frage nach der sprachlichen Identität und – eng mit ihr verbunden – die Minderheitenfrage, ist bei der Betrachtung der Länder, die am 1. Mai im Zuge der Osterweiterung der EU beitreten, von großer Bedeutung. Der hier vorgeschlagene Theorierahmen könnte auch als Hintergrund für eine diesbezügliche Untersuchung dienen. Nachfolgend werden einige zentrale Aspekte skizziert, die bei der Betrachtung sprachlicher und identitärer Prozesse in den Ländern Ost-, Ostmittel- bzw. Südosteuropas – insgesamt verstanden als Raum zwischen Deutschland und Russland34 –, im Unterschied zu Westeuropa, von zentraler Bedeutung sind:
1. Die Auseinandersetzung mit Identitätsbildungsprozessen verlangt eine intensivere Betrachtung der komplexen Geschichte des Raums (Wanderungsbewegungen und Neuansiedlungen seit dem 12. Jahrhundert; der Auflösungsprozess der Habsburger Monarchie und des Osmanischen Reichs; Grenzziehungen nach den Weltkriegen; kommunistisches Zeitalter; politische Wende nach 1989 und national-ethnisches ‘Revival’). Das ‘historische Bewusstsein’ ist grundsätzlich ausgeprägter und spielt auch in der aktuellen politischen Auseinandersetzung eine relativ bedeutende Rolle (exemplarisch zu Ungarn, vgl. Kiss 1996). Verglichen mit den hier untersuchten Fällen sind diesbezüglich Parallelen zu Südtirol erkennbar.
2. Die Komplexität der Minderheitenproblematik lässt sich am Beispiel Ungarns verdeutlichen: dort leben 13 nationale und ethnische Minderheiten, die, je nach Erhebung und Schätzung, zwischen zwei und zehn Prozent der Gesamtbevölkerung (ca. 10 Millionen) ausmachen35 (vgl. Eiler/Kovács 2002). Gleichzeitig leben ca. vier Millionen Ungarn in den angrenzenden Staaten (die Mehrzahl in Rumänien und der Slowakei). Hier werden zwei politische Konfliktlinien deutlich: (a) die internationale, etwa zwischen Ungarn und der Slowakei bezüglich der Behandlung der jeweiligen Minderheit durch die Titularnation, und (b) eine nationale, zwischen der ungarischen Regierung und den Minderheiten in Ungarn bezüglich der Verteilung der (finanziellen) Ressourcen.
3. In Bezug auf Sprache ist es von Interesse, (a) wie weit sprachliche Assimilierungstendenzen36 fortgeschritten sind, (b) welche Mittel aufgewendet werden, um das Fortbestehen der Minderheitensprachen zu sichern (z.B. Lehrerausbildung, Schulen, Kindergärten, etc.) und die diesbezüglichen politischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse, (c) unter welchen Einflüssen traditionelle Varietäten verschwinden bzw. neue Kontaktvarianten entstehen und (d) ob Auswirkungen durch Europäisierung und Globalisierung (Einflüsse des Englischen und neuer Medien, wie des Internets) zu beobachten sind.
4. Ein letzter Punkt beinhaltet die gesetzliche Regelung des sprachlichen Minderheitenschutzes bzw. dessen tatsächliche Umsetzung.
4. Fazit
Der Vergleich von Luxemburg und Südtirol verweist zunächst auf die zentrale Rolle geopolitischer und eigenständiger (staatlicher) Strukturen, die unterschiedliche Voraussetzungen bzw. Grundlagen für die jeweiligen gesellschaftlichen (und identitären) Differenzierungsprozesse schufen. Bezogen auf die sprachliche Situation bietet der Fall Luxemburg strukturell die Perspektive einer gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit, die das Konzept der Identität inkludierend vermittelt und somit eine zentrale gesellschaftliche Funktion erfüllen kann. Dem Lëtzebuergeschen kommt dabei eine wichtige Funktion bei der Ausbildung einer positiven psycholinguistischen Distinktheit der nationalen Eigengruppe zu. Gleichzeitig wurden aber auch Einflüsse aus den angrenzenden Kulturräumen in die Identitätskonstruktion aufgenommen. Bei allen Problemen im Kontext von Europäisierung und Globalisierung, denen sich natürlich auch die luxemburgische Gesellschaft gegenüber sieht, erleichtert die institutionalisierte Mehrsprachigkeit die Integration des großen Anteils ausländischer Arbeitskräfte sowie die vermehrte Identifikation mit der europäischen Ebene. Allerdings fördert die gesellschaftliche und politische Verortung des Landes im ‘Kern’ (West-)Europas die Skepsis gegenüber Erweiterungsfragen.
In Südtirol führt die Segregation der Sprachgruppen zu einer exklusiven Form der Mehrsprachigkeit, die dem idealtypischen Grundsatz einer unity in diversity (der offiziellen kulturellen Formel für Europa) widerspricht. Der prägende Einfluss der konfliktbehafteten Vergangenheit und des ethnischen Proporzes auf die Gesellschaft Südtirols sowie das Politikverhalten im Rahmen des Konkordanzsystems verhindern die Durchsetzung integrativer Tendenzen. Die Dominanz der Vergangenheitsperspektive in der politischen Auseinandersetzung wird hier als Hindernis im europäischen Integrationsprozess angesehen, da es die Konstruktion emotionaler Konventionen und den Abbau kultureller Schranken, hervorgerufen durch Ideologisierung und Stereotypisierung, letztlich erschwert.
Europäische Identität?
Obwohl die Anzahl der Studien zu ökonomischen Organisationen und politischen Institutionen der europäischen Gemeinde kaum noch überschaubar ist, wird den kulturellen und psychologischen Fragen nach der Bedeutung von Werten und Symbolen im europäischen Kontext relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erst nach der Auflösung der Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam, verstanden als europäische Wiedervereinigung, und vor dem Hintergrund des ‘Mythos des friedlichen Verständigungshandelns’ der ostmitteleuropäischen Revolutionen setzt sich langsam das Bewusstsein durch, dass ökonomische Prosperität nicht (mehr) ausreicht, um Europäizität zu demonstrieren (vgl. Kraft 2003, 35).
Im Rahmen der Beantwortung der Frage nach einer (kulturellen) europäischen Identität, die potentiell in der Lage ist, lokale, regionale und nationale Identitäten zu transzendieren, stößt man zwangsläufig auf gesellschaftliche Ungleichheiten: die Diversität kulturellen Zusammenlebens, die Schwierigkeit, sich über die Grenzen Europas zu einigen (Stichwort: Türkei), die anhaltende Stärke der Nationalstaaten sowie die charakteristische ethnische und linguistische Pluralität. Europäer unterscheiden sich also untereinander und gegenüber Nicht-Europäern37 in Bezug auf Sprache, Territorien, Rechtstraditionen, Religionen, politischen Systemen und Geschichte sowie den ethnischen und kulturellen Kontext. Andererseits werden verschiedene Traditionen und kulturelle Erbschaften – wenn auch nicht von allen in gleichem Maß – doch geteilt. Vor dem Hintergrund dieser nur partiell gemeinsamen kulturellen Traditionen erscheint es sinnvoll, dem normativen Begriff der unity in diversity mit Anthony D. Smith den einer family of cultures zur Seite zu stellen (vgl. Smith 1992, 70).
Es existieren verschiedene Bereiche, in denen gemeinsame europäische Charakteristika und Erfahrungen vermutet werden. Der hier fokussierte ist Sprache. Dabei wird davon ausgegangen, dass Mehrsprachigkeit eine zentrale Rolle bei der Ausbildung einer potentiellen europäischen Identität spielen kann. Ein bedeutender Faktor könnte diesbezüglich das Erlernen der Sprache des Nachbarn im Kontext grenzübergreifender (auch kultureller) Kooperation sein. Weiterhin erscheint eine europaweite Kompetenz des Englischen sinnvoll, da es schon jetzt als die de facto lingua franca Europas anzusehen ist.38 Der Unterricht des Englischen ist demnach wichtig, jedoch nur als Ergänzungssprache, nicht aber als glottophagische Verdrängungssprache (vgl. Nelde 2003). Ein weiterer zentraler Punkt ist die ‘positive Diskriminierung’ (affirmative action) von (Sprach-) Minderheiten, um Assimilierungstendenzen entgegenzuwirken und die kulturelle und sprachliche Vielfalt Europas als Charakteristikum aufrechtzuerhalten.
Letztlich geht es hier um die Auflösung des Dilemmas bezüglich des Raums für Individualität bzw. für spezifische Solidaritäten und der (sprachlichen) Effizienz. Eine Erweiterung der analytischen Perspektive um die Länder, welche im Zuge der Osterweiterung der EU beitreten, verspricht in dieser Hinsicht – wie das Beispiel Ungarn verdeutlicht – neue Aspekte, Fragestellungen und Erkenntnisse.
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Anmerkungen
1
Mehrsprachigkeit bedeutet hier Bi- oder Multilingualität, verstanden als psychologischer Zustand eines Individuums, welches Zugang zu zwei oder mehreren linguistischen Codes (Sprache, Dialekt) als Kommunikationsmittel hat. Im Kontext bi- oder multilingualer Kommunikation sind in der Regel verschiedene ethnolinguistische Gruppen beteiligt (vgl. Sachdev/Bourhis 1990, 293).
2
Die Arbeitslosigkeit liegt jeweils unter drei Prozent.
3
Luxemburg war eigenständiges Mitglied der ersten supranationalen Koordinations- und Kontrollbehörde (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS, 1952), Südtirol wiederum durch die Mitgliedschaft Italiens in die Organisation eingebunden. Beide können demnach als Gründungsmitglieder des sich vereinenden und gleichzeitig integrierenden (zunächst West) Europas angesehen werden.
4
So werden die Fälle Luxemburg und Südtirol in der zugrunde liegenden Arbeit (vgl. Rokkan/Urwin 1983) als Peripherien kategorisiert. Wenn es hier auch im Wesentlichen um Sprache geht, so würde im gegenwärtigen Kontext der EU niemand ernsthaft Luxemburg als Peripherie bezeichnen. In Bezug auf das Überleben von (sprachlicher und identitärer) Eigenständigkeit bietet das Modell dennoch eine ideale Grundlage für komparative Analysen.
5
Dieser Abschnitt basiert auf der bereits erwähnten Arbeit Stein Rokkans und Derek W. Urwins (1983).
6
So wird in der Regel ein Zusammenhang in Richtung ‘relative Armut = kulturelle Abgrenzung und umgekehrt’ angenommen. Diverse Beispiele (Baskenland, Katalonien, Schottland) widerlegen diese vereinfachende Kausalität.
7
Rokkan/Urwin (1983, 22) identifizieren in dieser Hinsicht mindestens sieben zentrale Ereignisse: „(1) the Celtic expansion; (2) the long series of Roman conquests; (3) the multiple invasions of Germanic tribes into the crumbling western Roman Empire during the fourth and fifth centuries; (4) the eighth century wave of Arab conquests; (5) the succession of Viking raids and conquests; (6) the westward drift of the Slavs and Finno-Ugric peoples into the territories to the landward side of the Germanic tribes; (7) finally, from the twelfth century, the return expansion eastwards of the Germans, part of the great drive to Christianize the rest of Europe, but accompanied by well-planned efforts to colonize and improve poorly used agricultural land“.
8
Rokkan/Urwin (1983, 69) schreiben: „In Western Europe these processes of standardization advanced between the eighth and twelfth centuries. The alphabetization of vernaculars in the monasteries and church schools tended to stabilize standards and to prepare the ground for the unification of national languages. The first standard languages owe much to Gutenberg and the early printers (…). At least in the Protestant countries, the introduction of compulsory mass education later increased the pressures of standardization.”
9
Diese war gekennzeichnet durch einen sprunghaften Anstieg sowohl administrativ-juristischer als auch militärischer Einrichtungen und in der Folge durch die Ausbildung eines territorienweiten Marktes.
10
Anderson unterscheidet sich diesbezüglich wiederum von Ernest Gellner, einem weiteren prominenten Vertreter der Nationsforschung, für den Nationen ‘dort’ (vom Nationalismus) erfunden werden, wo es vorher keine gab. Die Schwäche dieses Ansatzes liegt nach Anderson darin, dass Gellner ‘Erfindung’ mit ‘Herstellung von Falschem’ assoziiert. Auf diese Weise gibt er zu verstehen, dass Gemeinschaften existieren, die sich von der Nation vorteilhaft absetzen. Nach Anderson ist jedoch jede Gemeinschaft oberhalb von (dörflichen) Face-to-Face-Kontakten eine vorgestellte Gemeinschaft (vgl. Anderson 1997, 16). Die übermäßige ‘Betonung des Konstruierten’ ist jedoch gleichzeitig eine Grundkritik am Ansatz Andersons.
11
Im Zusammenhang mit der getroffenen Kategorisierung räumen Rokkan und Urwin ein, dass einige dazwischenliegende Fälle ‘übrig’ bleiben, deren Klassifizierung schwierig und zweifelhaft sei.
12
Rokkan/Urwin weisen darauf hin, dass es offensichtliche Probleme bei der Einteilung unterschiedlicher Klassen von Peripherien gibt, da Marginalisierung nur eine zusammenfassende Bezeichnung für einen multidimensionalen Klassifizierungskomplex ist.
13
Mit ‘europäischer Ebene’ ist hier die sich gegenwärtig erweiternde EU gemeint, bzw. der Rahmen, der durch sie vorgegeben wird. Die historische Betrachtung europäischer Entwicklungen zeigt, dass die sprachlichen und identitären Probleme nicht der EU entspringen, diese aber momentan als die geeignetste politische Form erscheint, sie besser zu behandeln, mildern und vielleicht sogar lösen zu können (vgl. Schmierer 1996, 28).
14
Code switching in multilingualen Kontexten kann definiert werden als der wechselnde Gebrauch zweier oder mehrerer Sprachen in derselben Äußerung bzw. Konversation (vgl. Grosjean 1982 nach Sachde’/Bourhis 1990, 294).
15
Giles ‘neuer´ theoretischer Ansatz zur Erklärung des code switching stellte ursprünglich die Antwort auf die ‘normative Verzerrung’ der traditionellen Soziolinguistik dar. Diese führte den Sprachwechsel in multilingualen Kontexten ausschließlich auf soziale Normen, Regeln und Grundsätze zurück. Die SAT geht hingegen davon aus, dass Sprachwechsel auch in Abwesenheit von bzw. trotz bestehender Normen auftritt (Sachdev/Bourhis 1990, 296).
16
Sprache wird vor diesem Hintergrund zum wichtigsten der vom Bewusstsein der Beteiligten weitgehend unabhängigen (objektiven), im Gegensatz zu den handlungsrelevanten (subjektiven), Ausprägungen des Wir-Bewusstseins.
17
Als zentrales Ereignis ist hier die von der deutschen Besatzungsmacht durchgeführte Volkszählung im Jahre 1941 zu nennen: die Luxemburger gaben einstimmig ‘Luxemburgisch’ oder ‘Lëtzebuergesch’ als Muttersprache an, obwohl die Suggestivfragen im Rahmen des Plebiszits darauf hinwiesen, dass es keinen luxemburgischen Staat mehr gebe, und dass auch nur noch eine wahre Hochsprache existiere, nämlich das Deutsche. Das peinliche Ergebnis aus Sicht der Nationalsozialisten führte zum Scheitern des Plebiszits und zur Aufwertung der nationalen Identität der Luxemburger über die Sprachenfrage (vgl. Berg 1993; Trausch 1995).
18
Die lokale Sprachvarietät wurde 1912 als Pflichtsprache in den Schulunterricht eingeführt.
19
Luxemburg konnte, bedingt durch vorteilhafte Steuerregelungen, in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre als Bankenzentrum etabliert werden, was wesentlich für den heutigen Wohlstand und die Ausbildung und Ausweitung des gegenwärtigen transnationalen Arbeitsmarktes verantwortlich ist.
20
Umfragen des Eurobarometer nach der ‘europäischen Identität’ ergeben für Luxemburg europaweit die höchsten Werte in den Kategorien ‘nur europäisch (15%)’ und ‘erst europäisch, dann national (14%)’. Gleichzeitig ist die Zahl der befragten Luxemburger am geringsten, die sich nur über die Nationalität identifizieren (24%). 77% der Luxemburger sehen die EU-Mitgliedschaft ihres Landes als vorteilhaft (ebenfalls der höchste Wert). Die Erweiterungsfrage wird in Luxemburg eher negativ beantwortet: ein Drittel der Befragten sind gegen eine Erweiterung. Nur 15% sind offen gegenüber einer Vergrößerung um alle Staaten, die Teil der EU sein wollen (vgl. Eurobarometer 2003 u. Eurobaromètre 2003).
21
Ladinisch wird in der Sprachwissenschaft unter das Rätoromanische subsumiert. Dieses wiederum gilt als eine der zehn romanischen Sprachen (vgl. Siller-Runggaldier 1999).
22
Dies wurde den Italienern in Verhandlungen im Jahre 1915 vor ihrem Kriegseintritt auf Seiten der Entente-Mächte zugesichert.
23
Den ideologischen und sprachlichen Unterbau lieferte der italienische Nationalist Ettore Tolomei. Die vollständige Verbannung der deutschen Sprache aus dem alltäglichen Leben (Auflösung der deutschen Kindergärten und Schulen, Zwangsversetzung der deutschen Lehrkräfte und deren Ersetzung durch italienische) führte in der Folge zur Gründung der so genannten Katakombenschulen (in Erinnerung an die verfolgten Christen im alten Rom), als Inbegriff des südtiroler Widerstands gegen den Faschismus. Mit Hilfe dieses Geheimschulnetzes (auf Dachböden, in Kellern und Scheunen) konnte die deutsche Sprache weiter unterrichtet werden. Aufgrund der Lateranverträge von 1929 durfte zumindest der Religionsunterricht in deutscher Sprache – allerdings außerhalb der Schule – durchgeführt werden (vgl. Steininger 2000, 198f.).
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Die Option stellt ein trauriges Kapitel der südtiroler Geschichte dar, welches von den Südtirolern selbst geschrieben wurde: sie spaltete die deutsche Sprachgruppe in ‘Geher’ (Optanten) und ‘Dableiber’. Die südtiroler Nationalsozialisten, organisiert im Völkischen Kampfring Südtirols (VKS), der sich anfangs noch gegen die Umsiedlung aussprach, schwenkten radikal um. Es folgte ein Propagandakrieg, in dem auch vor Terror gegenüber ‘Dableibern’ nicht halt gemacht wurde, was zu einer starken Polarisierung führte (vgl. Steininger 2000, 200). Insbesondere nach dem II. Weltkrieg hatte dies freilich auch Auswirkungen auf Identitätsbildungsprozesse.
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Auch bezeichnet als Gruber-Degasperi-Abkommen nach den beiden Außenministern Österreichs und Italiens, die das Abkommen aushandelten.
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Ein wichtiger Aspekt war in dieser Hinsicht die Internationalisierung des Konflikts durch Einschaltung der UNO.
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1992 deklarierte Österreich offiziell die Beilegung des Konfliktes mit Italien über Südtirol vor den Vereinten Nationen.
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Dies betrifft vor allem den Agrarbereich, der in Südtirol einen besonderen Stellenwert einnimmt (vgl. Magliana 2000).
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So wird häufig von ‘deutscher Disziplin’ und ‘italienischer Lebensfreude’ gesprochen, um die besondere südtiroler Identität zu charakterisieren (vgl. Magliana 2000, 90). Trotz der fehlenden gesellschaftlichen Integration sind hier – vergleichbar mit Luxemburg – Tendenzen der Aufnahme zweier Kulturräume in die jeweilige Identitätskonstruktion festzustellen.
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Die hier getroffenen Aussagen werden durch Erhebungen im Rahmen der ASTAT Jugendstudie (1994) bestätigt (vgl. Magliana 2000, 89f.).
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Rechtliche Voraussetzung für alle öffentlichen Stellen ist der Nachweis der Zweisprachigkeit (Deutsch und Italienisch) durch einen Test (patentino=Zweisprachigkeitsschein).
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Diese Heterogenität ist auf die starke Zuwanderung der Italiener nach Südtirol aus allen Teilen des Landes zurückzuführen. Außerdem ist eine klare Stadt-Land-Trennung zu beobachten: während die Italiener überwiegend in den Städten siedeln (Bozen ist z.B. zu 80% italienischsprachig) und vornehmlich im Dienstleistungsbereich arbeiten, ist das durch die Landwirtschaft geprägte Umland von Deutschsprachigen dominiert.
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Eine aktuelle Tendenz unter den deutschsprachigen Südtirolern ist die Angst vor Fehlleistungen bei der Benutzung der deutschen Hochsprache. Dadurch entwickelt sich der Dialekt in der deutschen Sprachgruppe mehr und mehr zur Hauptkommunikationssprache (z.B. auch für das Verfassen von E-Mails am Arbeitsplatz).
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Die Begriffe sollen hier nicht weiter spezifisiert werden. Zu Definitionen vgl. Segert (2002), Jaworski (1991), Seewann (2000).
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Die größte Minderheit in Ungarn stellen die Roma (ca. 500.000). Aufgrund großer linguistischer bzw. kulturellen Unterschiede und vorherrschender Stereotype wird diese Gruppe in Ungarn, im Gegensatz zu den anderen Minderheiten, vornehmlich als soziales Problem wahrgenommen (vgl. Eiler/Kovács 2002). So sind die Roma kaum in die ungarische Gesellschaft integriert. Ähnliches gilt für die Roma in der Slowakei.
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Hier muss zwischen natürlicher und erzwungener Assimilierung unterschieden werden.
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Im Rahmen der Konstruktion eines gemeinsamen europäischen Raums taucht natürlich auch die Frage auf, gegen was sich das zukünftige Europa abgrenzen sollte. Hier besteht die Gefahr der verstärkten Exklusion nicht-europäischer Gruppen im Sinne eines Euronationalismus.
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Es spricht Vieles dafür, dass sich bereits eine europäische Varietät des Englischen sui generis herausgebildet hat, die man als euroenglish bezeichnen könnte.