Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:196–204.
LÁSZLÓ SZARKA
Ethnopolitik und ethnische Konflikte in Zentraleuropa vor und nach 1918
„Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache” – so wurde das wichtigste ethnopolitische Prinzip „des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder” vom 21. Dezember 1867 formuliert.1
Demgegenüber ging das ungarische „Gesetz über die Gleichheit der Nationalitäten” vom 6. Dezember 1868 vom staatsnationalen Begriff „der einheitlichen und unteilbaren ungarischen politischen Nation” aus, innerhalb dessen „alle Mitbürger aller Nationalitäten gleichberechtigte Mitglieder” sind. Die anderen Völker sollten in dem politisch einheitlichen Ungarn nur ihre sprachliche Unterschiedlichkeit bewahren, und die Forderungen der Nichtmagyaren um ihre Gleichheitsberechtigung wurden grundsätzlich nur im Sprach- und Schulbereich anerkannt.2
József Eötvös, der als Minister der revolutionären ungarischen Regierung resignierte, hat in seiner politischen Schrift „Über die Gleichberechtigung der Nationalitäten in Österreich” aufgrund der negativen ethnischen Konflikte der Revolutionszeit festgestellt: „Alle nationalen Bestrebungen stehen im direkten Gegensatz mit den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit”, weil zwischen den Begriffen der Freiheit und Gleichheit einerseits, und dem der gesonderten Nationalität andererseits, nicht nur in der Idee, sondern auch im Leben ein nie zu beseitigender Gegensatz bestehe”.3 Nach Eötvös wollten alle nationalen Bewegungen ihre Selbständigkeitsidee gnadenlos durchsetzen und damit erreichen, dass die bestehenden Staaten aufgelöst werden. Die Teilung des Staates nach der Sprache und Nationalität hat Eötvös in dieser Zeit als eindeutig negative Alternative gesehen, und gegenüber den Vorteilen eines Vielvölkerstaates bezeichnete er die diesartige Entwicklung als einen Rückschritt in der Realisierung der politischen Freiheit und Gleichheit.
Er ist aufgrund seiner Erfahrungen und Analysen dazugekommen, dass „das Prinzip nationaler Gleichberechtigung in seiner Entwicklung notwendig zur Auflösung der Monarchie führe”.4 Deshalb hat Eötvös sein Lösungskonzept eindeutig auf die sprachlichen Rechte und auf die individuellen Rechte aufgebaut: als eine adäquate Lösung der Ansprüche der Nationalitäten bezeichnete er „die freie Kommunalversammlung und durch die dem Einzelnen gebotene Möglichkeit, sich zur Wahrung der sprachlichen Nationalität mit seinem Sprachgenossen zu vereinigen, mit einem Worte, durch einen hohen Grad individueller Freiheit”.5 Eötvös hat später in seiner Studie über die Nationalitätenfrage eine strenge Selbstkritik geübt, aber die Angst vor einem durch die Autonomiebestrebungen beschleunigten Zerfall des Staates ist bei ihm auch weiter geblieben.6
Die drei politisch am besten organisierten nichtmagyarischen Nationalitäten Ungarns – die slowakische, rumänische und die serbische nationale Bewegung – formulierten ihren Anspruch auf einen autonomen staatsrechtlichen Status bereits im Laufe der Jahre 1848/49 in mehreren politischen Programmen, nationalen Deklarationen, Memoranden und Gesuchen, und von Seiten aller drei Bewegungen wurde als höchstes Ziel die Ablösung von Ungarn und die Gründung von abgesonderten Provinzen als Garantie für ihre nationale Autonomie betrachtet.
Das Programm der Bildung von autonomen nationalen Gebieten als Ziel der nationalen Bewegungen ethnoregionalen Charakters in Ungarn tauchte in den Arbeiten zur Verfassungsrekonstruktion zwischen 1860–1867, sowie in den Diskussionen dieser Zeit wiederholt und betont auf. Obgleich die Erfahrungen im Zusammenhang mit den Nationalitätenkonflikten aus dem Jahre 1848 sowohl für die ungarische als auch die nicht-ungarische Seite eine wichtige Rolle in diesen bewegten Zeiten spielten, gelang es doch nicht, in dem Nationalitätengesetz Ungarns aus dem Jahre 1868 einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Mihal Polit, serbischer liberaler Politiker in Ungarn, ging davon aus, dass in Ungarn die Demokratie in keiner Weise mit der ungarischen nationalen Ausschließlichkeit zu vereinbaren sei: „Die Konsequenz der Demokratie in Ungarn kann nur die sein, dass sie nicht einen Nationalstaat, sondern einen Nationalitätenstaat schafft.”7
Im Gegensatz dazu versuchten von ungarischer Seite die Politiker, die in der Zeit vor dem Ausgleich von bestimmender Bedeutung waren, so beispielsweise József Eötvös und Ferenc Deák, den Geist des Szegediner Nationalitätengesetzes aus dem Jahre 1849 von Szemere, der nach der sprachlich-kulturellen Gleichberechtigung trachtete, in die neuen politischen Verhältnisse hinüberzuretten. Den Anspruch auf die politische Einheit des Landes, auf dessen einheitliche Gesetzgebung und staatliche Regierung verwirklichte der Entwurf des Nationalitätengesetzes aus dem Jahre 1868, der von Deák eingebracht worden war, in der Weise, dass die Nationalitäten innerhalb der Kategorie der einheitlichen und ungeteilten ungarischen politischen Nation nur in ihren sprachlichen und kulturellen Rechten gesondert behandelt wurden.
Der Grundbegriff des ungarischen Staatsgedankens, „die ungarische politische Nation” wäre – als staatsbürgerliche Gemeinschaft – in sich selbst kein unüberwindbares Hindernis zur Versöhnung mit den Nationalitäten gewesen. Dies belegt die Tatsache, dass im Zusammenhang mit dem Nationalitätengesetz dieser Begriff auch von zwei nicht-ungarischen Anträgen verwandt wurde. Der erste Paragraph des rumänisch-serbischen Entwurfes von Vlad und Popoviå lautete beispielsweise: „Die anderssprachigen Völker, die in Ungarn auf verschiedenen Gebieten in größerer Zahl und Dichte leben, namentlich die Rumänen, Slawen, Serben, Russen und Deutschen, sind als mit den Ungarn gleichberechtigte Nationen anzuerkennen, und die Gesamtheit dieser bildet die politische Nation Ungarns.”8
In Wirklichkeit bedeutete das tatsächliche Problem, dass der Begriff der politischen Nation auf verschiedene Weise interpretiert wurde. Die mehrheitliche ungarische Meinung, sowie die entscheidende Mehrheit der ungarischen politischen Elite verstanden unter der politischen Nation den Wirkungskreis der Entfaltung der ungarischen ethnischen Nation, seine innere Expansion, die politische und sprachliche Assimilation.
Nach dem anderen Standpunkt, für den die Namen Deák und Eötvös standen, doch der in den Jahrzehnten nach der Verabschiedung des Gesetzes nur von einer Minderheit vertreten wurde, bedeutete die Kategorie der politischen Nation, dass neben dem absoluten Primat der Wahrung der Staatseinheit (territorial, staatsrechtlich und administrativ) das kulturelle Institutionensystem der sprachlichen Gleichheit der Nationalitäten staatliche Unterstützung genossen hätte, was eine Vorstellung war, die in Richtung einer Art kulturellen Autonomiemodells wies.
Gemäß des zeitgenössischen nicht-ungarischen politischen Standpunktes war dies ein Begriff föderativer Struktur, in dem die ungarische nur eine der „sechs reichsbildenden Nationen” war. Der Entwurf zum Nationalitätengesetz, der von den Abgeordneten der Nationalitäten eingebracht worden war, drängte als Grundlage der Reform des Verwaltungswesens, die mit einer inneren Föderalisierung gleichwertig war, auf die den „Nationalitäten entsprechende Gestaltung” der Komitate. Auf den Gebieten der politischen Vertretung, der Ämterverteilung, des Etats mit nationalem Ziel usw. wurde hingegen die Proportionalität, das heißt die Einführung des Prinzips der nationalen Parität gefordert.
Es ist jedoch eine Tatsache, dass ohne die Gleichberechtigung der Nationalitäten und die grundlegende innere Reform des Verwaltungswesens dies von vornherein eine chancenlose Alternative blieb. Sehr gut erkannte dies beispielsweise Polit-Desančić, der den archimedischen Punkt der Nationalitätenfrage in der Reform des Verwaltungswesens sah: „Die Nationalitätenfrage in Ungarn ist keine staatsrechtliche Frage, aber auch keine Frage der Sprache, sondern eine rein staatsrechtliche Frage.”9
Ein Teil der liberalen ungarischen Politiker und die politischen Führungspersönlichkeiten der Nationalitäten stimmten also darin überein, dass das Terrain und Instrument der politischen Gleichberechtigung der Nationalitäten die durch die Nationalitäten gelenkten Komitate, beziehungsweise die regionalen Einheiten der Komitate nach Nationalitäten hätten sein können.
Die staatsnationale Funktion der ungarischen politischen Nation und eine derartige föderalistische Herangehensweise der Emanzipation der Nationalitäten schlossen sich jedoch gegenseitig aus. Der federführende Ideologe des ungarischen liberalen Nationalismus, Gusztáv Beksics, fasste im Zusammenhang mit dem Nationalitätengesetz aus dem Jahre 1868 dies folgendermaßen zusammen: „Diese Deklaration (d.h. Präambel) des Gesetzes, die das zuvor als Paria behandelte Rumänentum auch zu einem gleichberechtigten Mitglied der ungarischen Nation machte, hat damit, dass es auf diese Weise die unauflösbare Einheit der ungarischen Nation feststellte, jegliche föderative Bestrebung im Voraus ausgeschlossen. Denn wo der subjektive Begriff des Staates, die Nation einheitlich ist, dort ist notwendigerweise auch der Staat selbst einheitlich.”10
Es bleibt die Frage, ob die ethnopolitischen Grundsätze nach dem Ausgleich in Trans- und Zisleithanien wirklich und konsequent und ohne Korrektionen eine diametrale Entwicklung geschaffen haben. Und wenn wir diese, ohne Zweifel sehr verschiedenen Entwicklungslinien in ihrer Komplexität mit den unterschiedlichen ethnoregionalen, ethnosozialen Strukturen, Traditionen, Zielsetzungen erklären, bleibt es noch immer zu beantworten, warum die Endphase des Zerfalls in beiden Hälften des Reiches eigentlich ebenso gelaufen ist.
Ich möchte mich jetzt mit einer wichtigen Dimension der ungarischen Nationalitätenpolitik kurz beschäftigen, die man in der ungarischen Geschichtsschreibung gleichzeitig als eine ständige ethnische Konfliktquelle und eine wichtige ethnopolitische Zielsetzung betrachten kann.
Es geht um die ethnoregionale Dimension der ungarländischen nichtmagyarischen nationalen Bewegungen, bzw. um die teilweise fehlende regionale Behandlung dieser Bewegungen in der ungarischen Regierungspolitik. Es gehört zu den phrasenhaften Feststellungen der ungarischen Geschichtsschreibung, dass die ungarische Regierungspolitik in der Anfangsphase des Zeitalters des Dualismus eigentlich am tiefsten durch die Diskussion über die Vor- und Nachteile der zentralistischen, bzw. der dezentralisierten Staatspolitik gekennzeichnet war.
Die Ohnmacht und die Schwäche des ungarischen Staates gegenüber der österreichischen Reichshälfte auf einer Seite, und die Hegemonieansprüche und die panslawistischen und großrumänischen Phobien auf der anderen Seite, haben diese politischen Diskussionen am Ende für die zentralistische Lösung entschieden. So wurde auch die traditionelle Idee der Autonomie der Komitatenpolitik geopfert, und gerade dies hat dann auch für die ethnopolitische Radikalisierung der Komitatenpolitiker gegenüber den Nationalitäten eine sehr negative Motivation gegeben. Und dieser immer stärker zentralisierende Kurs hat auch dazu beigetragen, dass selbst die – immer mehr nur auf die individuellen Sprachrechte beschränkte – Gleichberechtigungsidee stufenweise isoliert geblieben ist. Die zentralistische ungarische Staatspolitik hat dann in der Mitte der 1890er Jahren ihren stärksten ideologischen Hintergrund in dem Staatsnationalismus gefunden.
Der ungarische Staatsnationalismus, war in dieser Region eigentlich die erste nationalistisch geprägte radikale Staatsidee, praktisch eine Mischung der historisierenden und Modernisierung orientierten Integrations- und Assimilationspolitik. Die langverlorenen historischen Großmachtpositionen des mittelalterlichen Ungarns, die ebenso langverlorene klare ethnische Mehrheit und Reinheit des ungarischen Staatsgebietes waren ebenso wichtige Motive in der Argumentation der Assimilationspolitik, wie der erfolgsreiche Urbanisations- und Industrialisierungsprozess, oder die Modernisierung des Schulsystems.
Die ungarische Nationalitätenpolitik auf der Regierungs- und paradoxerweise auch auf der Komitatenebene in dem zweiten und vor allem in dem letzten Drittel der Dualismuszeit können wir mit diesem Zentralisations- und Assimilationskurs charakterisieren. In Rahmen dieser ist für die ethnoregionalen, und maßgebend autonomistisch geprägten Nationalitätenbewegungen kein Spielraum und keine Anpassungsmöglichkeit geblieben. Sie konnten sich in der Staatspolitik höchstens in die politische Passivität zurückziehen oder eine loyale Politik führen. Die oppositionellen rumänischen, slowakischen, serbischen und teilweise auch die deutschen und ruthenischen politischen Kreise haben sich aber für eine andere Alternative entschieden, und begannen ihre ethnopolitische Basis innerhalb ihrer eigenen Regionen neu zu organisieren und eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Unterstützung, ein Hinterland bei den Nachbarn, unter Sprachverwandten oder eben bei den Mutternationen zu suchen.
Diese zwei parallelen ethnopolitischen Konzepte – der zentralisierende und assimilierende ungarische Staatsnationalismus und der seine ethnopolitische Basis ausbauende nichtmagyarische Ethnoregionalismus – wurden dann schon vor dem Ersten Weltkrieg öfters miteinander konfrontiert.
Die Erfolge der Assimilation waren nur in den slowakischen und deutschen Regionen so bedeutend, dass man die Assimilationspolitik langfristig als ein Lösungskonzept annehmen konnte. Aber auch bei diesen meistens integrierten und assimilierten zwei Volksgruppen konnte man immer öfter die Zeichen des Ethnoradikalismus registrieren, während bei den Rumänen und Serben ihre ethnoregionale und autonomistische Entwicklung immer deutlicher wurde. Das alles hat schon vor dem Ersten Weltkrieg dazu geführt, dass unter dem Druck der außenpolitischen Faktoren der Kriegsvorbereitungen selbst der ungarische Ministerpräsident István Tisza eine Kompromisspolitik – eine Art der Paktpolitik – gegenüber den drei stärksten Nationalitäten Ungarns iniziierte.
Eine systematische nationale Gleichberechtigung der Nationalitäten wurde in der ganzen Monarchie nicht erreicht, obwohl es theoretisch ein gemeinsames Lösungskonzept für die positiven ethnopolitischen Überlegungen und Zielsetzungen auf der Regierungsseite ebenso sein konnte, wie auf der Seite der Nationalitäten. Während Österreich in dieser Richtung doch ziemlich große Schritte tat und in seiner tschechischen, polnischen und teilweise südslawischen ethnoregionalen Politik auch neue politische Institutionen durchsetzte, hat in Ungarn der Zentralismus und der Assimilationskurs eine solche Entwicklung bis 1910– 1912 total blockiert.
Diese zweifache Entwicklung hat dann auch dazu beigetragen, dass die tschechoslowakischen, serbokroatischen und großrumänischen Einheitsbewegungen ebenfalls ihre innere, österreichische-zisleithanische politische Unterstützung gehabt haben.
Hat der Zerfall der Monarchie die Ängste von Baron Eötvös bewiesen? Warum sind die, für die ungarische Nationalitätenpolitik positiven Reformgedanken für die ganze Periode der Dualismuszeit apriori illusorisch und utopisch geblieben? Und das alles trotz der Tatsache, dass selbst Eötvös in den 1870er Jahren die einzige Möglichkeit der inneren Lösung der nationalen Fragen in einer grundsätzlich durchgeführten ethnopolitischen Reform der Monarchie, aufgrund sprachlicher, ethnoregionaler Autonomisierung und Föderalisierung gesehen hat, ebenso, wie seinerzeit Palacký, und im Spätherbst 1918 auch Oszkár Jászi, der Nationalitätenminister der ungarischen Regierung.
Um eine richtige Antwort auf diese Frage zu finden, möchte ich ganz kurz auf die ministerielle Tätigkeit von Oszkár Jászi skizzieren. Das Hauptziel des Jászi-Ministeriums kann damit gekennzeichnet werden, dass er bestrebt war, die Politik der westlichen Großmächte durch Übereinkommen mit den Nachbarvölkern zu mäßigen. Gleichzeitig wusste Jászi genau, dass sich die durch ihn angebotene Kantonisierung Schweizer Typs, die Helvetisierung, also das System der regionalen Autonomien innerhalb Ungarns, mit der Gründung eines unabhängigen nationalen Staates im Gegensatz zu dem Anschluss an die Sprachverwandten als eine ziemlich aussichtslose Konzeption erwies.11
Trotzdem es ist ja für die Entwicklung der ungarischen ethnopolitischen Konzepte sehr wichtig, dass erst zu dieser Zeit der Gedanke der Herausbildung von nationalen Autonomien, der inneren Föderalisierung als letzte Möglichkeit zur inneren Lösung auftauchte. Parallel dazu gelangte Jászi von seinem im Frühjahr 1918 erstellten Entwurf der Vereinigten Donaustaaten, in dem er einen monolithischen Ungarn-Plan entwickelte, im Laufe der Monate November-Dezember allmählich ebenfalls zur Schaffung eines Systems nationaler Autonomien.12
Nach dem Misserfolg der rumänischen Verhandlungen in Arad am 13./14. November bewertete Jászi die Bereinigung der slowakischen Frage, indem er die Entstehung des tschechoslowakischen Staates in Betracht zog, bereits sehr viel realistischer: „Leider jedoch, muss ich es als zweifelhaft ansehen, dass uns eine Einigung mit ihnen in den gegensätzlichen Fragen gelingen könnte, denn ebenso wie bei den Rumänen, kompliziert auch bei dem slowakischen Nationalitätenrat die Entstehung eines äußeren Staates die Frage. Infolge der tschechischen Bestrebungen kann auch in der slowakischen Frage vermutlich ebenfalls nur die nationale Friedenskonferenz eine Entscheidung fällen. Bis dahin können wir nur streben, dass wir eine Übergangsordnung schaffen und die anarchistischen Erscheinungen von Plünderung und Raub verhindern, die sowohl für Ungarn als auch für Slowaken gleichermaßen nur Schmerz und Leid bedeuten.”13
Nach Jászis Auffassung versuchte die provisorische ungarische Nationalitätenpolitik, die in dieser kurzen Übergangsperiode auf der Einigung mit den Nationalitäten basieren sollte, dreierlei Ansprüchen Genüge zu tun:
Zur Verwirklichung des als allgemeingültig betrachteten nationalen Selbstbestimmungsprinzips nach Wilson hätte die Anbietung der kulturellen und regionalen Autonomien ganz zu Beginn ohne Zweifel einen revolutionär neuen Verhandlungszustand bedeuten können.
Mit der Regelung der inneren Ruhe des Landes und der Zusammenarbeit der Nationalitäten zur Sicherung der öffentlichen Versorgung gab es Hoffnung auf die praktische Verwirklichung der Kooperation der autonomen Einheiten.
Durch die „Helvetisierung” des Landes geschahen auch Vorbereitungen zur Schaffung des nationalen Kantonsystems. Mit der Versetzung derer auf gesetzliche Grundlagen hätte die Stabilisierung des Provisoriums zugleich die innere Entfaltung der Selbstbestimmung und die Aufrechterhaltung des Prinzips der territorialen Integrität bis zur Entscheidung der Friedenskonferenz bedeuten können.
Mehr als dies erhoffte in der immer drückenderen diplomatischen Isolation des Landes, inmitten der zunehmenden militärischen Bedrohungen bereits Anfang Dezember niemand mehr. Auch die zarten Hoffnungen, die in das Prinzip der Volksbestimmungen gesetzt wurden, knüpften sich hieran: „Die ungarische Volksregierung akzeptierte vorher die Zuständigkeit der Friedenskonferenz für die Entscheidung über eine Volksbestimmung, aufgrund derer die auf dem ungarischen Staatsgebiet lebenden Rumänen, Serben und Ruthenen ihr Recht selbst bestimmen können, welchem Staatsgebiet sie sich anzuschließen wünschen.” So formulierte dies der „kleine Katechismus”, der die Grundprinzipien der Arbeit des Ministeriums zusammenfasste.14 Untersucht man diese drei Zielsetzungen, ist es notwendig zu betonen: Trotz jeglicher Erfolglosigkeit bei den Verhandlungen, trotz der bedeutenden Misserfolge hatte das Ministerium in einer außerordentlich kurzen Zeit, praktisch innerhalb eines Monats jene Propositionen ausgearbeitet, deren Verwirklichung in den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Weltkriegs als eine revolutionär neue Lösung der Nationalitätenfrage Ungarns gefeiert – oder eben verurteilt – worden wäre.
Bei den bereits erwähnten Verhandlungen in Arad warf Jászi neben Alajos Kovács, der das siebenbürgische Kantonsystem darlegte, den Gedanken des siebenbürgischen Planes zu einem ungarisch-rumänischen Kondominium auf. Gerade jene Tatsache, dass in den geplanten siebenbürgischen Kantonen die ungarischen, rumänischen beziehungsweise sächsischen Minderheiten unter zwanzig Prozent geblieben wären, deutet darauf hin, dass selbst die Institutionalisierung der siebenbürgischen nationalen Abgrenzung nicht von vornherein eine vollkommen hoffnungslose Unternehmung war.
Daneben ließ er mit seinem skizzenhaften Entwurf des „slowakischen Imperiums”, der als Verhandlungsbasis bei den Einigungen mit den Slowaken diente, indem zu der Zeit im ungarisch/slowakischen Verhältnis das Ziehen einer Sprachgrenze noch relativ genau rekonstruierbar war, ein anderes Modell aufblitzen – das Modell des einheitlich nationalen autonomen Gebietes. Dies wurde später in Ruska/Krajna beziehungsweise dem wendischen Komitat und der deutschen Autonomie (letztere zwar ohne gebietliche Präzisierung) weiter konkretisiert.15
Ein derartiger theoretischer Ausbau der östlichen Schweiz scheint zu bezeugen, dass der Mangel an einer inneren ethnisch-territorialen Abgrenzung – was sich bei uns im Vergleich zu der österreichischen Entwicklung immer als ein grundlegendes nationalitätenpolitisches Negativum erwiesen hat – mit entsprechenden politischen Entscheidungen ersetzbar, lösbar gewesen wäre. Obgleich sich der ungarische Kantonentwurf, der unter den ministeriellen Schriftstücken am 2. Dezember „ad acta” gelegt wurde, bereits zweifelsohne als Anachronismus erwies.16
Die ethnopolitischen Konzepte der ungarischen Regierungspolitik während des Dualismus sind wegen der beschränkten und stufenweise abgebauten Elemente der nationalen Gleichberechtigungspolitik in die totale Sackgasse geraten, wo keine Kompromisspolitik mehr helfen konnte. Die ethnoregionale Organisationsarbeit der Nationalitäten demgegenüber hat ihnen ermöglicht, ihre ethnische und territoriale Basis gegenüber der zentralistischen Staatsmacht auszubauen und zu festigen.
Im Zerfallsprozess der Österreich-Ungarischen Monarchie hat die unterschiedliche ethnopolitische Entwicklung in beiden Hälften des Reiches unmöglich gemacht, eine reale innere und auch für die Betroffenen günstige und annehmbare Alternative gegen die Kleinstaaterei anzubieten.
Die ethnischen Konflikte waren auch während des Desintegrationsprozesses relativ harmlos und kurzfristig, weil jenem schon eine neue Großmachtkonstellation folgte.
In dem kleinstaatlichen Zwischen-Europa hat sich die ethnische und staatliche Struktur der Region nicht nur total verändert, sondern auch die Logik der Geschichte wurde modifiziert. Es ging nicht mehr nur um die Gleichberechtigung der Nationen und Nationalitäten, sondern um die Bewahrung der nationalstaatlichen Souveränitäten und gleichzeitig auch um den Minderheitenschutz. Der Kampf zwischen diesen zwei gegensätzlichen Grundprinzipien – zwischen dem Souveränitäts- und Selbstbestimmungsprinzip – hat bedeutend dazu beigetragen, dass im kleinstaatlichen Zwischen-Europa die nationalstaatliche Realität zu einer Quelle der militanten Konflikte geworden ist.
Die nationalen Kleinstaaten haben ihre Staatsideen von Anfang an auf den Staatsnationalismus gebaut, und damit haben sie ein Autonomisierungs-, bzw. Föderalisierungskonzept apriori ausgeschlossen. Die Signatarmächte des Versailler Friedenssystems mit ihrer Passivität haben das nicht nur toleriert, sondern auch wesentlich dazu beigetragen, dass die nationalstaatliche Ordnung Ostmitteleuropas ebenso zum Kriegskonflikt geworden ist, wie die ethnopolitische Entwicklung in dem Staatensystem vor dem Ersten Weltkrieg.
Anmerkungen
1
Urbanitsch, Peter–Wandruszka, Adam (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Die Völker des Reiches III/2. Bd. Wien 1980. S. 782.
2
Kemény, G. Gábor (Red.): Iratok a nemzetiségi kérdés történetéhez Magyarországon a dualizmus korában, Bd. I. Budapest 1952. 161.
3
Eötvös, Joseph: Über die Gleichberechtigung der Nationalitäten in Österreich. Pesth 1850 S. 62.
4
Ebenda, S. 106.
5
Ebenda, S. 132.
6
Über die Entwicklung Eötvös’s Auffasung vgl. z. B. Gángó, Gábor: Eötvös József az emigrációban. Debrecen, Kossuth Egyetemi Kiadó, 1999. 118–120, 174–178; Galántai, József: Nemzet és kisebbség Eötvös József életművében. Budapest, Korona Kiadó, o. s. d.; Péter, László: Az Elbától keletre. Budapest, Osiris Könyvkiadó, 1999. 234–240.
7
Képviselõházi Napló, 1872–1875. XI. Bd. S. 190
8
Kemény, G. Gábor: Iratok... Bd. I. S. 45.
9
Képviselõházi Napló, 1875–1878. Bd. I. S. 79.
10
Beksics, Gusztáv: A román kérdés és a fajok harca Magyarországon. Budapest 1895. S. 89.
11
Haslinger, Peter: Arad, November 1918. Oszkár Jászi und die Rumänen in Ungarn 1900– 1918. Böhlau Verlag, Wien–Köln–Weimar 1993. S. 122–140.; Szarka, László: A Jászi-féle nemzetiségi minisztérium működése 1918 októberétõl 1919 márciusáig. In: Grad, Cornel–Ciubota, Viroel (ed.): Sfarsit si inceput de epoca. Korszakvég – korszakkezdet, Lekton, Zalu 1998. S. 355–370.
12
Über die zeitgenössischen Alternativen der staatsrechtlichen Lösungsmöglichkeiten: Schönwald, Pál: A magyarországi 1918–1919-es polgári demokratikus forradalom állam és jogtörténeti kérdései. Budapest, Akadémiai Kiadó, 1969. S. 44–51.
13
Budapester Tageszeitung „Világ” 28. November 1918.
14
Domokos, László: Kis Káté a Magyarországon élő nemzetek önrendelkezési jogáról. Budapest 1919. S. 13.
15
Schönwald, P.: A magyarországi..., S. 64–87.
16
Der Text des Kantonentwurfes: Szarka, László: Duna-táji dilemmák. Nemzeti kisebbségek – kisebbségi politika a 20. századi Kelet-Közép-Európában. Budapest, Ister Kiadó, 1998. S. 332–334.