Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:299–310.
ANDREAS RESCH
Kartelle in Österreich
Ein Forschungsprojekt
1.
Im vorliegenden Beitrag werden erste Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt über Kartelle in Österreich von der Wende zum 20. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre präsentiert. Gemäß dem Rahmenthema „Ausgewählte Fragestellungen der Epoche des Dualismus” beschränken sich die Ausführungen auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.
Die Wirtschaft in der späten Habsburgermonarchie gilt in der Literatur als ein Paradebeispiel für eine hochgradig kartellierte Ökonomie. Dies regte bereits zeitgenössische Wissenschafter zu einschlägigen Forschungsarbeiten an. Als Beispiele seien etwa genannt: Friedrich Kleinwächter, Die Kartelle. Ein Beitrag zur Frage der Organisation der Volkswirtschaft, Innsbruck 1883; Josef Grun(t)zel, Über Kartelle, Leipzig 1902, Markus Ettinger, Die Regelung des Wettbewerbes im modernen Wirtschaftssystem, I. Teil, Die Kartelle in Österreich, Wien 1905; Max Freiherr von Allmayer-Beck, Materialien zum österreichischen Kartellwesen, Wien 1910; Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Berlin 1910; Jenő Varga, Magyar kartellek (Ungarische Kartelle), Budapest 1912; sowie 12 Bände, die vom k.k. Handelsministerium über die große Kartell-Enquete im Jahre 1912 publiziert wurden.
Auch in den neueren wirtschaftshistorischen Werken über die späte Habsburgermonarchie finden sich Hinweise auf die große ökonomische Bedeutung des Kartellwesens, zum Beispiel in den Arbeiten von Iván T. Berend und György Ránky, David F. Good, Herbert Matis, Roman Sandgruber, u.a.1
2.
Um der Bedeutung des historischen Kartellwesens nachgehen zu können, ist zum ersten zu untersuchen, inwieweit Kartellorganisationen überhaupt bestanden haben. Zum zweiten soll abgeschätzt werden, welchen Einfluss sie auf die Wirtschaft bzw. Wirtschaftsentwicklungen auszuüben vermochten.
Demgemäß sei zuerst ein zahlenmäßiger Überblick versucht, in welchem Ausmaß sich die Kartellierung bis zum Ersten Weltkrieg in organisierter Form zu entfalten vermochte. Ettinger2 führt im Anhang zu seinem 1905 erschienenen Werk über Kartelle in Österreich 104 Organisationen an, Allmayer-Beck nennt für das Jahr 1910 eine Zahl von 120 Kartellen in Österreich.3 Um 1910 scheint die Kartellbewegung an Intensität gewonnen zu haben, denn für 1912 wird die Anzahl der Organisationen bereits auf über 200 geschätzt.4
Auf der Grundlage einer genauen Auswertung der zeitgenössischen Publizistik und diverser Archivquellen kann folgender tabellarischer Überblick über das österreichische Kartellwesen im Jahre 1912 gegeben werden5:
Tabelle 1
GESCHÄTZTE ANZAHL VON INDUSTRIEKARTELLEN IN ÖSTERREICH |
||
Industrie |
Anzahl1 |
|
Untergruppe |
Anzahl in der Untergruppe2 |
|
Glasindustrie |
|
15 |
Z.B. Kartell der Glasflaschenfabrikanten |
1 |
|
Ziegel, Steine, Keramik |
|
26 (29) |
Zementkartell (e) |
1 (4) |
|
Regionale Ziegelkartelle |
9 |
|
Regionale Kartelle für Kalk |
6 |
|
Andere |
ca. 10 |
|
Eisen & Stahl |
|
9 (26) |
Eisen |
1 (18) |
|
Regionale Kartelle der Wiener Eisenhändler |
3 |
|
Andere (Röhren, Draht und Drahtstiften, etc. ) |
ingefähr 5 |
|
Eisen- und Metallwaren, Maschinenbau |
|
33 |
Maschinenbaukartell (Rest des Kartells nach 1911) |
1 |
|
Waggonkartell |
1 |
|
Lokomotivkartell |
1 |
|
Brückenbaukartell |
1 |
|
(Bleche und Drähte) aus Kupfer, Zinn und Zink |
3 |
|
Internat. und österr. Kartell für Emailwaren |
1 |
|
Andere, ungefähr |
ungefähr 25 |
|
Elektroindustrie |
|
5 (7) |
Glühlampen |
1 |
|
Kabel |
1 (etwa 3) |
|
Industrie für Starkstromgeräte |
1 |
|
Organisation von Elektrizitätswerken |
1 |
|
Fabriken für Bleikabel |
1 |
|
Holz, Möbel |
|
14 |
Reg. Sägewerkskartelle |
3 |
|
Möbel (z.B. Bugholzmöbelkartell) |
2 |
|
Andere (div. Produkte, Holzhändlerkartell, ...) |
etwa 9 |
|
Papier, Druck |
|
10 |
Packpapier (Papierunion) |
1 |
|
Div. Sorten von Papier (Karton, Rotationsdruckpapier, |
5 |
|
Andere |
etwa 4 |
|
Chemische Industrie |
|
29 |
Leim |
1 |
|
Magnesit |
1 |
|
Mineralöl |
2 |
|
Div. Produkte (z.B. Sauerstoff, Salzsäure, ...) |
etwa 25 |
|
Leder, Textilien, Bekleidung |
|
50 |
Baumwollspinner |
1 |
|
Baumwollwebereien |
1 |
|
Div. Baumwollprodukte |
10 |
|
Bleicher, Färber, Drucker, Appreteure, etc. |
13 |
|
Andere |
etwa 25 |
|
Nahrungsmittel |
|
10 (12) |
Zucker |
1 (3) |
|
Bier |
3 |
|
Süßwaren |
1 |
|
Spiritus |
5 |
|
Zusammen |
|
201 (225) |
1 In Klammern: Anzahl einschließlich Unterorganisationen für bestimmte Regionen oder Untergruppen von Waren. 2 In Klammern: Anzahl der Unterorganisationen für bestimmte Regionen oder Untergruppen von Waren. |
Diese Tabelle weist eine intensive Kartellierung aller wesentlichen Industriezweige in Österreich vor dem Ersten Weltkrieg aus. Die meisten Kartelle bestanden in der Textilindustrie, gefolgt von Eisen- und Metallwaren und Maschinenbau sowie von der chemischen Industrie und der Eisen- und Stahlerzeugung.
Auch in Ungarn entstanden in der Periode von der Jahrhundertwende bis 1914 zahlreiche stabile Kartelle in wichtigen Industriezweigen; etwa im Bereich der Eisenindustrie, der Zucker-, Spiritus- und Brauindustrie, der Mühlenindustrie, Ziegelfabriken u.a.m. In einigen bedeutenden Industriezweigen kam es zu Abkommen zwischen den ungarischen und österreichischen Kartellorganisationen; etwa für die Eisenindustrie, Zuckererzeugung, phasenweise auch für die Petroleumindustrie. Es ist somit zu konstatieren, dass in dieser Entwicklungsperiode tatsächlich die österreichisch-ungarische Wirtschaft in einem hohen Ausmaß kartelliert war.6
3.
Es bleibt jedoch zu klären, welchen Einfluss die Kartelle tatsächlich auf die wirtschaftliche Entwicklung ausübten. Generell können Kartelle als gemeinsame Organisationen rechtlich selbständiger Unternehmen definiert werden, die dem Zweck dienen, die Ertragslage der Mitgliedsfirmen zu verbessern.7 Dies kann durch eine gemeinsame Erhöhung der Preise in Richtung Monopolpreis und/oder durch Kosteneinsparungen durch gemeinsame Organisationsformen erzielt werden.
Die Einschätzungen von Kartellen in der ökonomischen Literatur weisen eine große Bandbreite auf. Sie reichen von der Verurteilung von Kartellen als monopolistische Organisationen, die sich Extraprofite auf Kosten der Gesamtwirtschaft sichern und innovative neue Unternehmen behindern bis zur Argumentation, dass Kartelle durch planmäßige Investitionen dem Fortschritt dienen, durch bessere Organisation Kosten senken, Konjunkturschwankungen dämpfen und Arbeitsverhältnisse verstetigen.8
Ein gängiger wirtschaftswissenschaftlicher Zugang zur Kartellforschung, der eine differenzierte Einschätzung der Organisationen gestattet, ist das „Structure-Conduct-Performance”-Paradigma. Dieses besagt, dass Kartelle je nach der Struktur der jeweiligen branchenspezifischen Märkte ein unterschiedliches Verhalten der Akteure, unterschiedliche Organisationsformen und ein unterschiedliches Ausmaß an wirtschaftlicher Macht mit sich bringen, wodurch sie auch einen unterschiedlichen Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg der jeweiligen Firmen bzw. der Gesamtbranchen ausüben.
Zur Beschreibung des Zusammenhanges zwischen ökonomischer Performance und Marktstruktur verwenden Ökonomen mathematische Formulierungen, etwa Regressionsgleichungen, in denen die Profitabilität als Funktion des Grades der Konzentration, der Höhe der Zutrittsbarrieren für neue Konkurrenten etc. ausgedrückt wird.9
Angesichts der Datenlage eignet sich für die historische Kartellforschung besser ein nicht-mathematischer Zugang, der sich aber durchaus auch des analytischen Musters des Structure-Conduct-Performance-Paradigmas bedienen kann. Um eine entsprechende Kategorisierung und Analyse verschiedener industrieller Märkte vornehmen zu können, seien die gemäß der einschlägigen Literatur wichtigsten strukturbestimmenden Merkmale wie folgt aufgelistet:
1. Größe des Marktes: Tendenziell ist es schwieriger, in großen Märkten eine effektive Marktmacht zu organisieren, gelingt es aber trotzdem, so werden die gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen stärker sein, als wenn kleine Teilmärkte organisiert werden.
2. Grad der Konzentration: davon bestimmte Marktformen sind Konkurrenzmarkt, Oligopol und Monopol. Als ein gängiges, auch für die historische Forschung anwendbares Maß für den Grad der Konzentration kann die Concentration Ratio 4, also der Anteil der 4 größten Firmen am Gesamtmarkt herangezogen werden. Als weitere allenfalls auch eruierbare Indikatoren können Maße wie die Konzentration des Kapitals, der Anteil der wichtigsten Betriebe an der Gesamtheit der Arbeitskräfte in einer Branche, die Gesamtzahl der Marktteilnehmer, etc. berechnet werden.
3. Differenzierung: Von Bedeutung sind insbesondere Produktdifferenzierung, räumliche Differenzierung von Märkten, etc.
4. Zutrittsschranken (entry barriers) für in den Markt neu eintretende Firmen (newcomers): Der Zutritt kann zum Beispiel gehemmt werden durch Kapitalintensität, Economies of Scale für bereits etablierte Firmen, First mover Advantages, drohende hohe Sunk Costs, etc.
5. Organisationsmacht von Banken, Konzernen, etc. kann Kartellen zusätzliche Festigkeit verleihen.
6. Politische Regulierung: Schutzzölle, Zugangsregelungen, Konzessionsregelungen, etc. stellen wesentliche Rahmenbedingungen für die Entfaltungsmöglichkeit der Marktmacht von Kartellen dar.
7. Struktur der Nachfrage: kontinuierlicher Verkauf auf atomistischen Märkten vs. diskontinuierliche Großaufträge von wenigen Nachfragern.
Was Organisationsstruktur und Verhalten von Branchen (conduct) betrifft, so ist gerade aus der Sicht der Historiker darauf hinzuweisen, dass es nicht genügt, diese zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beschreiben, um ihre Wirkungen abschätzen zu können. Faktoren, wie die Etablierung einer Verbandsbürokratie, von gängigen Geschäftsusancen etc. tragen dazu bei, dass Organisationen tendenziell im Laufe der Zeit mehr Stabilität gewinnen. Andererseits können Faktoren, wie neue Technologien, Veränderungen der Märkte, Reaktionen auf Außenseiter etc., eine Umorganisation oder sogar Auflösung von bestehenden Organisationen bewirken. Daher kann die Wirksamkeit von Organisationsformen zur Etablierung von Marktmacht nur abgeschätzt werden, indem man sie über Zeiträume von wenigstens einigen Jahren betrachtet.10
Als Merkmale des ökonomischen Erfolgs (performance) sind Indikatoren heranzuziehen, die die Profitabilität beziehungsweise die Effizienz der einzelnen Industrien anzeigen, z.B. Gewinne und Dividenden, Anteil der Firmen, die Verluste ausweisen müssen, Preisentwicklung, Produktivität etc.
4.
Nach den genannten Kriterien zur Analyse der Marktstrukturen können die großen österreichischen Industrien vor 1914 in vier Gruppen eingeteilt werden, die jeweils charakteristische Organisationsformen der Kartelle hervorgebracht haben. Im weiteren Text wird nur auf beispielhafte Großindustrien eingegangen, die vor dem Ersten Weltkrieg in der österreichischen Reichshälfte einen Bruttoproduktionswert von zumindest 100 Millionen Kronen hervorbrachten.11 (In der folgenden Tabelle werden als Ergänzung jedoch in Klammer auch beispielhafte kleinere Märkte angegeben.) Zu den Großindustrien gemäß obiger Definition gehörten vor 1914: Zuckererzeugung, Textilindustrie, Maschinenbau, Eisen- und Stahlerzeugung, Brauindustrie, Papiererzeugung, Petroleumindustrie und Spiritusindustrie. Die Petroleumindustrie wird bei den weiteren Betrachtungen nicht berücksichtigt, denn sie bedürfte aufgrund sehr spezifischer Einflüsse (Ambitionen ausländischer Konzerne, massive Staatsintervention) einer eigenen Spezialstudie.
Die jeweils besonders charakteristischen Strukturmerkmale, die die einzelnen Märkte von den anderen Kategorien unterschieden, sind fett hervorgehoben:
Tabelle 2
CHARAKTERISTISCHE MARKTSTRUKTUREN UND ORGANISATIONSFORMEN VON KARTELLEN IN AUSGEWÄHLTEN INDUSTRIEZWEIGEN |
||
Marktstruktur (7 Hauptmerkmale) |
Charakterist. Form |
Industrien |
1. Kartellierung und Marktmacht durch Marktstruktur begünstigt: |
Stabiles Kartell mit starker, zentraler Kontrolle |
Eisen- und Stahlindustrie (vergleichbare kleinere Industrien: Waggonbau, |
2. Marktmacht von Kartellen durch niedrige entry barriers und Substituierbarket geschwächt: |
Zahlreiche, wenig mächtige Kartelle |
Textilindustrien, |
3. Große Märkte durch räumliche Differenzierungstrukturiert |
Föderatives Kartell* |
Bier, |
4. Individuelle Lieferanten-Kundenbeziehungen |
Unstabile Versuche der Kartellierung, fortschreitende Konzentration |
Maschinenbauindustrie |
*) Kleine Unterorganisationen, die in einer gemeinsamen Organisation zusammenarbeiten um die organisatorische Effizienz von kleinen Gruppen und die Stärke von großen Gruppen zu erlangen, können als föderative Gruppen bezeichnet werden. Vgl. Mancur Olson, The Logic of Collective Action, Harvard 1965, Kapitel II. und V.C. |
In der hier gebotenen Kürze seien einige Anmerkungen zu den vier Marktkategorien, denen die großen österreichischen Industrien vor dem Ersten Weltkrieg zuzuordnen sind, jeweils anhand eines Beispieles erläutert:
Die Eisenindustrie wies praktisch hinsichtlich aller Merkmale der Marktstruktur ideale Bedingungen für die Organisation einer stabilen, starken Marktmacht auf. Insbesondere der hohe Konzentrationsgrad (auf die vier größten Unternehmen entfielen mehr als 95 Prozent der gesamten österreichischen Roheisenproduktion12), die hohen Zugangsbarrieren für Neueinsteiger wegen des hohen Investitionsbedarfs und der massive Zollschutz, der es gestattete, die Preise im Inland hoch zu halten, seien besonders hervorgehoben. Nach einer Phase der Destabilisierung im Jahre 1902 wurde der österreichisch-ungarische Eisenmarkt von 1903 bis zum Ersten Weltkrieg von einer beide Reichshälften umfassenden Organisation geregelt.
In den Textilindustrien hingegen hatte sich nur eine sehr mäßige Unternehmens- und Betriebskonzentration herausgebildet. Zum Beispiel verfügten in Österreich die vier größten Baumwollspinnereien 1912 zusammen nur über einen Marktanteil von 15 Prozent. Kapazitätserweiterungen und Neugründungen von Betrieben waren angesichts des vergleichsweise niedrigen Investitionsbedarfs leicht möglich. Es entstanden zwar ungefähr ab 1907 zahlreiche Konditionenkartelle, mit denen man versuchte, die Geschäftsbedingungen für die Unternehmen gemeinsam zu verbessern, Neueintritte und Betriebsausweitun- gen waren jedoch durch diese Kartellorganisationen kaum zu verhindern. Etwa ab 1910 kam es mehrmals zu Ansätzen, durch kollektive Vereinbarungen Kapazitätsreduktionen herbeizuführen, um die Preise erhöhen zu können. Diese Bemühungen scheiterten jedoch, sofern sie überhaupt wirksam wurden, immer wieder nach relativ kurzer Zeit. Auch ein ambitioniertes Projekt der Baumwollspinner und Baumwollweber, gemeinsam Auslandsmärkte zu erobern, scheiterte. Von 1911 bis 1913 fanden intensive Verhandlungen statt. Um Verkäufe im Ausland zu ermöglichen, sollten die Baumwollspinner den Webern Garne unter dem Selbstkostenpreis überlassen, und diese daraus Stoffe erzeugen und im Ausland zu Preisen anbieten, die auch ihre Kosten nicht deckten. Von dieser Dumping-Aktion erhoffte man sich eine bessere Auslastung der Fabriksanlagen, dadurch eine Senkung der Durchschnittskosten und somit eine Gesundung der Textilindustrie, die von 1910 an in eine schwere Krise geraten war. Die Verhandlungen zogen sich von 1911 bis 1913 hin und scheiterten schließlich gänzlich.13
Die Zucker- und die Brauindustrie wiesen hinsichtlich der Neugründung von Betrieben nur einen geringfügig höheren Kapitalbedarf als die Textilindustrie auf. In diesen Branchen entstanden aber stark räumlich differenzierte Märkte und Kartellorganisationen. Dies hing einerseits mit den regional gebundenen Möglichkeiten der Beschaffung von Rohmaterialien von entsprechenden landwirtschaftlichen Betrieben zusammen und andererseits auch mit den relativ hohen Transportkosten der Erzeugnisse, gemessen an ihrem Wert pro Gewichtseinheit. Daher ergaben sich aus dieser Marktstruktur relativ stabile „föderale” Kartelle, das heißt regionenweise strukturierte Gruppierungen, die gemeinsame Dachorganisationen entwickeln konnten.14
Die Maschinenbauindustrie zeigte eine Sonderentwicklung. Hier ist die Periode der Kartellierung von 1907 bis 1911 als Übergangsphase von einem Stadium vergleichsweise geringer Unternehmenskonzentration hin zu einer wesentlich höheren Konzentration anzusehen. Dieser Vorgang erhielt dadurch, dass die Mitgliedsfirmen der gemeinsamen Kartellzentrale und somit auch ihren Konkurrenzunternehmen weitgehenden Einblick in ihre geschäftliche Entwicklung gewähren mussten, ein spezifisches Gepräge.15
5.
Gemäß den Annahmen des Structure-Conduct-Performance-Paradigmas müsste besonders starke Marktmacht die höchsten Profite der betreffenden Branche gewährleisten. In dem folgenden Diagramm wird der Gewinn der Aktiengesellschaften einer Industrie in Prozent ihres nominellen Stammkapitals als Indikator dafür herangezogen. Die Darstellung bestätigt auf überzeugende Weise die Vorannahmen:
Tabelle 3
GEVINN DER INDUSTRIEAKTIENGESELLSCHAFTEN IN AUSGEWÄHLTEN BRANCHEN IN PROZENT IHRES NOMINELLEN AKTIENKAPITALS |
||||||
|
1907 |
1908 |
1909 |
1910 |
1911 |
1912 |
Eisenindustrie |
19,8 |
20,3 |
18,1 |
18,3 |
20,1 |
24,9 |
Baumwollwebereien |
14,8 |
7,6 |
10,2 |
6,4 |
2,4 |
5,6 |
Baumwollspinnereien |
10,9 |
6,7 |
6,1 |
3,5 |
-4,4 |
0,1 |
Bauindustrie |
6,9 |
4,0 |
3,8 |
5,8 |
7,5 |
6,7 |
Maschinenbau |
10,6 |
8,7 |
12,8 |
12,4 |
11,8 |
12,0 |
Quelle: Materialien zur österreichischen Produktions- und Betriebsstatistik. Zusammengestellt im Auftrage des k.k. Handelsministeriums vom k.k. Handelsmuseum, Wien 1916. |
In der Tat vermochte jene Industriebranche, die von den Voraussetzungen der Marktstruktur her die stärkste Kartellorganisation ausbilden konnte, nämlich die Eisenindustrie, die höchsten Gewinne zu erzielen. Das Ergebnis scheint somit zeitgenössische Stimmen zu bestätigen, die insbesondere dieser Branche vorwarfen, dank ihrer organisierten Marktmacht Extraprofite auf Kosten der von ihr abhängigen Wirtschaftsbereiche (z.B. Maschinenbauindustrie) und zum Schaden der Gesamtwirtschaft zu erzielen.
Die in einem föderalen Kartell organisierte Brauindustrie wurde ebenfalls vor dem Ersten Weltkrieg häufig von Seiten der Verbraucher und Gastwirte wegen angeblich zu hoher Preise angefeindet. Bierpreiserhöhungen zogen immer wieder sogenannte Bierkrawalle nach sich16 und Politiker aller politischen Lager stimmten in Unmutsäußerungen gegen die Brauwirtschaft ein.17 Zwar wies die Brauindustrie insgesamt gemäß obigem Diagramm einen recht stabilen Geschäftsgang auf, die Gewinne bewegten sich allerdings im allgemeinen nicht in spektakulärer Höhe. Diese Tatsache spielte jedoch im Diskurs wenig Rolle, der vor allem davon bestimmt wurde, dass die Bierkonsumenten und Gastwirte von Preiserhöhungen jeweils sehr hart getroffen wurden.
Die Textilindustrien konnten trotz diverser Organisationsanstrengungen (ungefähr ab dem Jahr 1907) ihren Niedergang nicht aufhalten und die Maschinenindustrie erfreute sich sowohl während der Phase der Kartellierung (1907–1911) als auch 1911 und 1912 einer insgesamt relativ stabilen und eher überdurchschnittlichen Gewinnsituation.
6.
Resumierend kann angemerkt werden, dass die Anwendung des Structure-Conduct-Performance-Paradigmas eine wesentliche Differenzierung des Bildes vom österreichschen Kartellwesen, welches die schlichte Zähltabelle am Anfang dieses Beitrages vermittelt, gestattet hat. Während diese Tabelle den Eindruck intensivster Kartellierung insbesondere im Bereich der Textilindustrie vermittelt, hat die weitere Analyse ergeben, dass gerade die große Zahl von Kartellen in dieser Branche die Machtlosigkeit und Vergeblichkeit der Organisationsansätze widerspiegelt. Im Gegensatz dazu hat die Eisenindustrie, die überwiegend in einem einzigen mächtigen Verband organisiert war, die größte Marktmacht entfalten und die höchsten Profite erzielen können.
Zur besseren Fundierung sind die Ergebnisse aber in eine breiter angelegte historische Betrachtung einzubetten. Zum Beispiel erscheinen die ökonomischen Erfolge der Eisenindustrie etwas weniger glanzvoll, wenn man mitbedenkt, dass dieser Industriezweig vom Jahr 1873 an mehrere Jahrzehnte schmerzhafter Restrukturierungen und ertragsarmer Unternehmensentwicklung durchzustehen hatte. Die Aktionäre wurden also sozusagen in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mit einer Periode hoher Renditen dafür belohnt, dass sie vorher lange Zeit hindurch ihren weitgehend ertraglosen Unternehmen die Treue gehalten hatten.18 Dadurch relativieren sich auch die zeitgenössischen Vorwürfe von Seiten der eisenverarbeitenden Industrien etwas.
Die kommerzielle Entwicklung der Schwerindustrien und der Textilerzeugung wurden auch von den Balkankrisen unterschiedlich beeinflusst. Während die einen von Rüstungsaufträgen profitierten wurden die anderen vom Ausfall traditioneller Exportgebiete und der Zurückhaltung des Publikums bei der Anschaffung nicht unbedingt sofort notwendiger Konsumgüter getroffen. Somit ist die Textilkrise vor dem Ersten Weltkrieg gewiss nicht allein mit der unstabilen Organisationsstruktur dieses Marktes zu erklären.
Das Structure-Conduct-Performance-Paradigma erlaubt einen Zusammenhang zwischen spezifischen Merkmalen von Märkten und damit zusammenhängenden, charakteristischen Mustern von möglichen Kartellorganisationen zu erkennen. Dieser sehr schematische Zusammenhang wurde natürlich in der historischen Entwicklung von zahlreichen anderen Determinanten überlagert. So spielten bei manchen erfolgreichen Kooperationen aber auch bei kostspieligen Konflikten zwischen Unternehmen persönliche Entscheidungen und Ambitionen von einzelnen, handelnden Akteuren eine große Rolle. Zum Beispiel war das Maschinenbaukartell vor allem der Initiative des Generaldirektors der Skodawerke, Georg Günther, zu verdanken. In der Phase des Zerfalls dieses Kartells tat sich dann der Leiter der Prager Maschinenbau AG, Richard Sohr, mit einer besonders aggressiven Expansionspolitik hervor. Diese brachte jedoch schließlich 1913 das von ihm gelenkte Unternehmen in akute finanzielle Schwierigkeiten, woraufhin Sohr von den Großaktionären abgesetzt wurde.19
Auch der Rhythmus der peridoisch wiederkehrenden Ausgleichsverhandlungen und der jeweils mit ihnen einhergehenden Umgestaltungen des Zolltarifs wirkte sich auf die Gestaltung der Kartelle aus. Die meisten der in den Jahren um 1910 abgeschlossenen Kartellverträge sahen ein Auslaufen der Vetragsverpflichtungen im Jahr 1917 vor, also in jenem Jahr, in dem die nächste Runde von Ausgleichs- und Zolltarifverhandlungen zu erwarten war. Somit wirkte sich auch der Dualismus unmittelbar auf die Gestaltung vieler Kartellverträge aus.
Betrachtet man die Kartellierung im gesamten österreichisch-ungarischen Bereich, so ist zu konstatieren, dass die Zollunion keinen einheitlichen Kartellraum bildete. Die meisten Kartelle, die beide Reichshälften umfassten, wie das Eisenkartell und das Zuckerkartell, bestanden aus einer österreichischen und einer ungarischen Organisation, die miteinander verhandelten und schließlich zu Abkommen für die gesamte Monarchie gelangten.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es die Unterschiedlichkeit der Marktstrukturen der diversen Industrien auch mit sich brachte, dass sie in ungleicher Weise von der Auflösung der Habsburgermonarchie nach dem Ersten Weltkrieg betroffen wurden. Während sich die Rahmenbedingungen für Industrien, die strukturell auf großräumige Massenmärkte angewiesen waren, besonders negativ veränderten, waren Branchen, die vor allem mit kleineren, regional differenzierten Märkten verbunden waren, von der Zersplitterung der ehemaligen Zollunion zweifellos weniger betroffen.
Anmerkungen
1
Vgl. etwa Ivan T. Berend, György Ránki: Ungarns wirtschaftliche Entwicklung 1849–1918, in: Alois Brusatti: Die wirtschaftliche Entwicklung (Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band 1), Wien 1973, 516 ff; David F. Good: Der wirtschaftliche Aufstieg des Habsburgerreiches 1750–1914. Wien, Köln, Graz 1986, 186 ff; Herbert Matis, Karl Bachinger: Österreichs industrielle Entwicklung, in: Brusatti, Die wirtschaftliche Entwicklung, 134 ff; Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik, Wien 1995, 292 ff.
2
Ettinger, Die Regelung des Wettbewerbes, 267.
3
Allmayer-Beck, Materialien zum österreichischen Kartellwesen, 6.
4
Friedrich Hertz: Die Produktionsgrundlagen der österreichischen Industrie vor und nach dem Kriege. 4. Auflage, Wien, Berlin (1919).
5
Ausgewertet wurden die in der Einleitung sowie in Fußnote 1 bis 4 genannten Werke, weiters die Kartell-Rundschau 1 (1903) – 11 (1913), die Neue Freie Presse und der Österreichische Volkswirt sowie der Bestand im Österreichischen Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Handelsministerium, Faszikel 1207, 1209 und 1211 (Materialien des Gewerberates und des Industrierates zur Kartellfrage).
6
Vgl. Berend, Ránki, Ungarns wirtschaftliche Entwicklung, 516 ff; Good, Aufstieg, 186 ff.
7
Vgl. Egon Tuchfeldt, Kartelle, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Vierter Band, Stuttgart u.a. 1978, 447.
8
Näheres dazu in Andreas Resch, Kartelle und Kollusionen in Österreich von der Jahrhundertwende bis in die dreißiger Jahre – Vorüberlegungen zu einem Forschungsprojekt, in: Alice Teichova, Herbert Matis, Andreas Resch: Business History. Wissenschaftliche Entwicklungstrends und Studien aus Zentraleuropa (Veröffentlichungen der österreichischen Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, Band 21), Wien 1999, 145–154.
9
Vgl. Frederic M. Scherer/David Ross: Industrial Market Structure and Economic Performance. Boston, Mass. u.a., dritte Auflage 1990; George Symeonidis, Are Cartel Laws Bad for Business? Evidence from the UK, mimeo, University of Essex 1999; Jean Tirole, The Theory of Industrial Organization, Cambridge, Mass u.a. 1990.
10
Vgl. Mancur Olson: The Rise and Decline of Nations. New Haven, London 1982, 38 ff.
11
Zur Schätzung von Bruttoproduktionswerten siehe etwa: Friedrich von Fellner: Das Volkseinkommen Österreichs und Ungarns. Sonderabdruck aus dem September-Oktober-Heft der Statistischen Monatsschrift, Jg. XXI, Wien 1917. Fellners Berechnungen sind zwar in manchen Details korrekturbedürftig, sie geben aber doch einen Eindruck von der branchenweisen Gliederung des Volkseinkommens in Österreich-Ungarn vor 1914.
12
Vgl. Compass 1914, Band II und IV; Verhandlungen der vom k.k. Handelsministerium veranstalteten Kartellenquete, Band VIII, Eisenindustrie, Wien 1912, 445.
13
Vgl. Kartell-Rundschau 5 (1907) – 11 (1913).
14
Verhandlungen der vom k.k. Handelsministerium veranstalteten Kartellenquete, Band I, Zuckerindustrie, Wien 1912; Band IV, Brauindustrie, Wien 1912.
15
Vgl. etwa Kartell-Rundschau, 9 (1911), 813 f; Der Österreichische Volkswirt, 6 (1914), 288.
16
Vgl. etwa Helmut Konrad: Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich. Wien, München, Zürich 1981.
17
Zwei Beispiele seien angeführt: Vom christlichsozialen Abgeordneten Doblhofer und Genossen wurde im Abgeordnetenhaus am 2. Juli 1908 eine Anfrage an den Ministerpräsidenten wegen der Verteuerung der Bierpreise gerichtet. Darin forderte man, dass „ein die Regelung des Kartellwesens betreffender Gesetzesentwurf der Regierung mit tunlichster Beschleunigung vorzulegen” sei. Kartell-Rundschau, 5 (1908), 668 f. Das Exekutivkomitee der tschechischen sozialdemokratischen Partei rief im August 1913 nach einer Preiserhöhung zum Bierboykott auf. Duxer Zeitung, 6.8.1913; Kartell-Rundschau, 10 (1913), 698.
18
Vgl. Otto Hwaletz: Die steirische Montanindustrie 1871–1917. Unpubl. Manuskript. Dem Autor sei für die Erlaubnis, sein unpubliziertes Manuskript zu verwenden, gedankt.
19
Vgl. Österreichischer Volkswirt, 6 (1914), 288.