Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:353–356.
FERENC GLATZ
Solange der Geist lebendig ist...
Péter Hanák (1921–1997)
Ein Mann des Geistes
„Es lohnt sich nur solange zu leben, solange der Geist lebendig ist. Solange ich arbeiten kann” – sagte Péter Hanák vor einigen Jahren an einem Dienstag beim Kaffee im Anschluss an das übliche gemeinsame Mittagessen im Europa Institut. Ihm stand eine schwere Bypass-Operation bevor. Zuvor war es ihm schlecht gegangen, er hätte jeden Augenblick sterben können oder – wovor er sich am meisten fürchtete – sein Zustand hätte sich dermaßen verschlechtern können, dass er die letzten Monate seines Lebens hilflos ausgeliefert verbringen müsste. Die Operation wurde erfolgreich ausgeführt. Mit minutiöser Genauigkeit hat Hanák diesen Prozess niedergeschrieben, die Situation durchlebt, ja sogar die seelische Verfassung des operierenden Arztes. So, wie er sein ganzes Leben lang schon immer die seelischen Konflikte der Mitmenschen und Mitarbeiter durchlebt hatte und darum bemüht war, ihre Gesichtspunkte zu verstehen. Aus der Beschreibung der Operation ging eine leidenschaftliche Schrift hervor. So wie er auch voller Leidenschaft über den österreichisch-ungarischen Ausgleich, die Revolution von 1848 sowie über Verfasser und Leser der Soldatenbriefe aus dem Ersten Weltkrieg schrieb.
Wunschgemäß hat er die letzten Jahre seines Lebens so gelebt, wie die vorangehenden Jahrzehnte: von morgens bis abends immer in Eile. In einer geistigen Hast, im Wettlauf mit der Zeit, auf der Suche nach immer wieder neuen Erlebnissen als Forscher und Schriftsteller. Und er jagte im Wettkampf mit Raum und Zeit von einer Konferenz zur anderen, um die Ansichten anderer, ihre Forschungsergebnisse kennenzulernen, die Auffassungen anderer mit den eigenen zu konfrontieren. Niemals verlor er jenes Prinzip aus den Augen, dass Wissen und Kultur der Denkweise der Menschheit nur dann entwicklungsfähig sind, wenn jeder dem „gemeinsamen Ganzen” seine eigenen kleinen Bausteine hinzufügt – neue Erkenntnisse oder auch Gedankenblitze.
Verpflichtung gegenüber Forschung und Gesellschaft
Über das Leben von Péter Hanák wäre eine zeithistorische Studie zu schreiben. In meinem Tagebuch sind viele Seiten jenen Gesprächen gewidmet, in denen er von seiner frühen Kindheit und jungen Jahren berichtete, von jenen Eindrücken, die er derzeit sammelte. Sie zeugen von seiner Treue zur Geburtsstadt Kaposvár, von seinen Erlebnissen im sich in den Weltkrieg stürzenden Ungarn, von seinen seelischen Ängsten der gesellschaftlichen Ausschließung wegen, von den persönlichen Leiden jenes jungen Mannes, dem es zur Zeit der Judengesetze nicht gestattet war, dieser von ihm so geliebten Gemeinschaft anzugehören. Wahrscheinlich ist in jenem Zeitraum 1938–1945 diese leidenschaftliche Liebe zur Gemeinschaft verwurzelt, die ihn bis zu seinem Tode anspornte. Aus diesem Grunde fiel er nicht dem uns Autoren so oft verführenden Lebensgefühl, dem Egoismus zum Opfer.
Einen Großteil seiner Zeit und Energie widmete er dem Management und der Unterstützung der Tätigkeit anderer. Schon in jungen Jahren redigierte er. Für kurze Zeit arbeitete er in der Redaktion der Századok (‘Jahrhunderte’), war dann in den 60er Jahren ein Redakteur der die Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie aus einem neuen Gesichtspunkt vorstellenden Bücherreihe, des den Zeitraum 1849–1918 abhandelnden Universitätslehrbuches (1972), danach Chefredakteur des Bandes 7 der Geschichte Ungarns (1978). Letzterer ging auf den Niedergang des Dualismus, auf die Jahre 1890–1918 ein. Viele erachten das Redigieren als Knechtsarbeit, andere als Satzgestaltung und Streit mit den Autoren. Er genoss das. Mehrmals unterhielten wir als leidenschaftliche Redakteure uns darüber, dass ein ständig frischer Geist, der kontinuierliche Lernprozess, die Menschen zur Redaktionstätigkeit treibt.
Von jungen Jahren an bis zu seinem Tode hat er die Voraussetzungen für das Wirken anderer geschaffen und die Jugend gefördert – als Abteilungsleiter des Institutes für Geschichte (1964), als Professor an der ELTE (1980) und später dann an der CEU (1991), ebenso wie als einer der Gründungsprofessoren des Europa Institutes (1990–1997). (Zu seinem größten Leidwesen konnte er der 50er Jahre wegen erst 1980 wieder das Katheder besteigen.) Nie war er sich zu schade, seine Gedanken und Ideen mit anderen zu teilen und die stundenlangen Gespräche mit den Jugendlichen hat er ausgesprochen genossen. Weitergeben, nützlich sein, helfen, an den Angelegenheiten der Gesellschaft teilhaben – das war die Devise seines Lebens. Zumindest jedenfalls in den letzten 30 Jahren, die ich erst aus gewisser Entfernung und dann aus nächster Nähe mit ihm verbrachte. Sein ganzes Leben lang war er eine führende Persönlichkeit des gesellschaftlichen Hochbetriebs in Ungarn und gleichzeitig einer der bedeutendsten Teamarbeiter.
Individuum und „Team”
Leidenschaftlich klammerte er sich an jene kleinere Gemeinschaft, „das Team”, welches sich in der ungarischen Geschichtswissenschaft in den 60er Jahren konstituierte und dieser zu einem Rang von Weltniveau verhalf. Organisatorische Basis dieses Teams war das Institut für Geschichte, wo infolge eines glücklichen Zufalls die Grössten ihrer Zeit zusammen arbeiteten (István Barta, Kálmán Benda, Domokos Kosáry, Elemér Mályusz, Oszkár Paulinyi), jene der mittleren Generation (Gusztáv Heckenast, Endre Kovács, Emil Niederhauser, Pál Zsigmond Pach) und die damaligen jungen Leute (Miklós Lackó, Zsuzsa Nagy, György Ránki, Jenô Szûcs, Loránt Tilkovszky, Antal Vörös, Károly Vörös) – und es traten bereits die Allerjüngsten in Erscheinung, vor allem die Schüler von Ránki und Hanák. Dieses Team hat in Ausnutzung der Konsolidierungsbestrebungen des Sowjetsystems eine fachliche Revision der Diktatur des Proletariats in den 50er Jahren vorbereitet.
Auf diese Weise war die 10-bändige Geschichte Ungarns geboren, eine neue Lehrbuchreihe, ebenso wie die auf reichhaltigem Archiv-Quellenmaterial beruhenden, fachlich fundierten Arbeiten über die Geschichte Ungarns im 19.–20. Jahrhundert. Auch in Ungarn machen sich jene neuen fachlich-methodischen Bestrebungen bemerkbar, die selbst in der westlichen Historiographie noch zu den „Neuen” zählen, wie in erster Linie die zeitgemäße Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte. In diesem Team ist Hanák hinsichtlich der Entfaltung der ungarischen bürgerlichen Gesellschaft (1848–1918) erstrangiger Forscher und Synthetisierender bzw. anregender Organisator und Betreibender gesellschaftshistorischer Forschungen. (Führende Persönlichkeit in Bezug auf Forschungen zur ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts ist der um 10 Jahre jüngere György Ránki.) Hanák ist Leiter der sich mit der Epoche des Dualismus befassenden Forschungsabteilung und zwischen 1965 und 1990 auch aller bedeutenden Unterfangen, während Ránki die Abteilung 20. Jahrhundert leitet, wobei ihm auf diesem Posten Miklós Lackó folgt.
Öffnung im Wissenschaftsorgan
Die Revision der Wissenschaftlichkeit der 50er Jahre zeigte auch im Wissenschaftsorgan Wirkung. Man nutzt jene Gelegenheit, welche die spezifische Positionierung Ungarns in der internationalen Arbeitsteilung des sozialistischen Lagers bietet. Ungarn ist das „halb geöffnete Tor” zum Westen hin. Die führenden Persönlichkeiten der Geschichtswissenschaft (unter ihnen diesbezüglich vor allem Ránki und Hanák) nutzen diese politische Möglichkeit: das Institutionssystem der ungarischen Geschichtswissenschaft integrieren sie stärker als je zuvor in die internationale Wissenschaftlichkeit. Péter Hanák erkennt jene Gelegenheit, die diese wissenschaftspolitische Öffnung in fachlich-methodischer Hinsicht bietet: er ist Gastprofessor in Amerika, Deutschland und Österreich, Stipendiat in Frankreich und Italien. (Wie er zu sagen pflegte: noch als 60-jähriger übte er sich regelmäßig in Fremdsprachen.) In jenen Ländern erforscht er nicht wie seine Altersgenossen die derzeit beliebte Geschichte der staatlichen Beziehungssysteme, sondern neueste fachlich-methodische Strömungen der globalen Historiographie. Mit Vorliebe befasst er sich mit der Gesellschaftsgeschichte und innerhalb dieser mit der Alltagsgeschichte. (Er und Ránki haben uns jungen Leuten gegenüber immer betont: neben akribischer Forschung in Archiven müssen moderne Historiker ständig dem Lesen und den Konferenzen viel Zeit widmen, um so moderne fachliche und methodische Neuerungen kennenzulernen.)
Die ausgedehnten internationalen Beziehungen Hanáks und sein brennendes Interesse für neueste fachliche Verfahren sind eine Erklärung dafür, warum ein Großteil seiner Lebenswerk-Bibliographie fremdsprachig und im Ausland publiziert wurde. An dieser Stelle muss besonders betont werden: er trat hinsichtlich der ungarischen Geschichtsschreibung entschieden für die Erschließung der gemeinsamen mitteleuropäischen Traditionen ein.
Weltbürgertum und Ungartum
Der Intellektuelle unserer Epoche ist meiner Meinung nach zugleich Kosmopolit, im edelsten Sinne des Wortes Weltbürger und Patriot. Hanák war ein solcher. Das „Team” hat sich in den 70er Jahren – nun bereits auf Anregung der Jüngeren – breiten Gesellschaftsschichten, dem Publikum zugewandt, um die sich zur Jahrhundertwende herausbildenden Zunftgrenzen zu überwinden, sich aktiv für Ansprüche der Gesellschaft zu interessieren – für die wir ja unsere Arbeiten schreiben; um offen zu sein für die dem breiten Publikum naheliegenden historischen Gattungen. Dieses Grundprinzip haben bereits die Allerjüngsten formuliert und Gestalter, Entfalter dieser Vorstellungen sind wiederum György Ránki und Péter Hanák. (In dieser Richtung wirkte außerdem der ständige Co-Autor Ránkis, Iván T. Berend als herausragende Persönlichkeit des heimischen öffentlichen und Politlebens.) Hanák war ein Frontkämpfer. Seine aus jungen Jahren datierende gesellschaftliche Verpflichtung, sein Wunsch nach gesellschaftlichem Nutzen treiben ihn, als er in der Provinz – und nicht nur in Großstädten – Vorträge hält, Konsultationen, populärwissenschaftliche Beiträge leistet, im Fernsehen und Rundfunk historische Programme und Serien gestaltet. Er ist einer der Helfer jener jungen Mannschaft, die das Zustandekommen der für ein breites Publikum geschriebenen Zeitschrift „História” unterstützt. Regelmäßig weilt er in seiner Geburtsstadt Kaposvár, hält dort Vorträge. Mit derselben Sorgfalt bereitet er sich auf diese Auftritte vor, er sprach mit derselben Leidenschaft von Geschichte und Gesellschaft, wie bei seinen Vorträgen in London, New York, Paris oder Wien. Für Ihn waren die Zuhörer, die Menschen zu denen er sprach gleichberechtigt, egal ob im Middlewest, in Transdanubien oder auch in Moskau. Die Wissenschaft an sich hat ihn interessiert, und die Menschen – für die er arbeitete und schrieb – hat er als solche, für ihr menschliches Sein geliebt. Fest im Alltagsleben zu stehen erachtete er als die Voraussetzung einer guten Arbeit als Historiker.