Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:257–265.
CSABA CSAPÓ
Das Szegediner Burgverlies
In meinem Vortrag gehe ich folgender Frage nach: Inwieweit entsprechen die Geschichten über Gedeon Rádays Tätigkeit in Szeged (1869–1872), nach denen er als königlicher Kommissar mit beispielloser Grausamkeit die Betjarenwelt vernichtet hat, der Wahrheit? Die Bestätigung oder das Verwerfen dieser These hätte im letzten Jahrhundert viel größere Bedeutung erlangen können, als die Beweisführung eines Geredes; es handelte sich vielmehr um einen kompletten Gedankenkreis, der mit der Vorstellung des „guten Betjaren” verknüpft war. Der Grund des Mythos war die Unbesiegbarkeit der gelobten Person, welche ausschließlich mit Verrat oder mit anderen gemeinen Mitteln niederzuschlagen war. In diese Glaubenswelt der Bauern konnte keinesfalls ein unbekannter Graf gepasst haben, der als Vorläufer einer neuen Epoche die Ungarische Tiefebene innerhalb eines Monats von den gesellschaftlichen Widerstand verkörpernden Personen, von den sogenannten „Beschützern” des armen Volkes gesäubert hat, und zwar nur mit besonders dafür ausgewählten Angestellten sowie mit dem für einen Beamten ungewöhnlichen Fanatismus. Deshalb bedürfte es einer Erklärung, was die „durch Gewähr” unbesiegbaren Betjaren zur Aussage und zum Schuldbekenntnis genötigt hat.
Die traditionellen Methoden der Geschichtswissenschaft bieten in diesem Fall keinerlei Möglichkeit zur Beweisführung, da unserem Wissen nach zur damaligen Zeit keinerlei Erhebung oder Untersuchungen in Verbindung mit dem vermuteten Missbrauch geführt wurden, die nun dokumentiert werden könnten. Es stehen uns aber viele Quellen zur Verfügung (Inventar- und Kassentagebücher, Hafthauptbücher, Todesausweise, usw.), bei denen die Methoden der Mikrogeschichtsforschung verwendend sich solche Schlüsse ziehen lassen, die unser bisheriges Wissen bestätigen, oder die es widerlegen können. Statt zielbewussten und evtl. vergeblichen Suchens, versuchen wir die Umstände und die Möglichkeiten zur Sprache zu bringen. Die in der Szegediner Burg, besonders in deren Zellen herrschenden Zustände des alltäglichen Lebens sowie die evtl. daraus resultierende Überlebenschancen der Gefangenen selbst, werden dabei gesondert hervorgehoben. Wir werden auch kurz über die Persönlichkeit von Ráday sprechen, da diese eine entscheidende Rolle im Verlauf der Geschehnisse spielt. Weitere Aspekte des königlichen Kommissariats, die Zeit vor der Inhaftierung bzw. nach der Befreiung der Gefangenen sowie die Gerichtsverhandlung als solche bleiben dabei unbeachtet. Unsere Beachtung gilt also nicht der in Untersuchungshaft verbrachten Zeit sowie dem Einfluss der Abläufe auf den Alltag.
Nochmals also unsere Frage: Warum sind während der 4jährigen Zeitperiode der Tätigkeit des königlichen Kommissariats von 1597 Gefangenen 415 Personen gestorben?
Die in der Árpádenzeit gebaute, später mehrmals niedergerissene und neugebaute Burg wurde im 19. Jahrhundert nur als Kaserne und Gefängnis verwendet. Wegen ihres Zustandes wurde sie 1856 auch aus der Festungsliste gestrichen, zu einem Abriss kam es jedoch nicht.1
Ráday kam im Januar 1869 zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit nach Szeged. Seine erste Amtshandlung war der Transport der städtischen Gefangenen aus dem Stadtgefängnis sowie eine Übertragung des Aufgabengebietes der Stadtwache, die er für unzuverlässig und bestechlich hielt, auf das Militär.2 Die unbewohnten Gebäude wurden benutzbar gemacht, die Kasematten unter der Burgmauer in kleinere Räume geteilt, die Zellen mit schweren Türen und mit Schlössern ausgestattet. An den Fenstern, die zur Stadt gingen, befestigte man hölzerne Blenden, um einen geringen Lichteinfluss von außen zu gewährleisten, es jedoch nicht zu ermöglichen, hinauszusehen. Wegen der Überwachung der Festgenommenen und der Nähe des neuen Gerichtssaals wurde innerhalb und außerhalb der Burg ein langer Zaun gebaut, obwohl „die Stiefelmacher vom Ort gemeinschaftlich zu dem Bürgermeister gegangen waren, um dagegen zu protestieren, dass ihre uralten Rechte beeinträchtigt werden sollen.”3 Sie verkauften nämlich ihre Waren auf dem dortigen Wochenmarkt.
Die gewählte Vorsichtsmaßnahme in Form eines neuen Bretterzaunes kann nicht als überflüssig betrachtet werden. Die örtliche Presse berichtete nämlich in eineinhalb Jahren über insgesamt vier Fluchtversuche: beim ersten Mal versuchten drei Gefangene durch den Schornstein zu fliehen, ein andermal ist durch die Burgmauer ein Loch gegraben worden, bzw. nach einer gelungenen Flucht wurde der Räuber in Arad festgenommen. Trotz allem hat man den nicht Ungarisch sprechenden Soldaten von galizischem Ursprung mehrmals eine Belohnung zukommen lassen, manchmal wegen der Verhinderung der Fluchten, manchmal wegen der Anzeige des Bestechens, oder einfach wegen des musterhaften Dienstes im Dezemberschneesturm.4 „Der ehrenhafte Böhme gehört genau auf diesen Platz – hat der Berichterstatter der Szegediner Zeitung „Hon” geschrieben – er kennt keinen höheren Anspruch als das Schnitzel und den Seidelwein, so kann er nicht bestochen werden; er folgt nur dem Befehl seines Vorgesetzten, demzufolge kann er nicht irregeleitet werden; und er sieht alles Schwarz auf Weiß.”5 Die sprachliche Differenz und dadurch die Erschwerung einer Wärter-Häftling-Beziehung haben aber nicht nur die Korruption verhindert, sondern einmal eine schwere Tragödie verursacht. Im Dezember 1870 forderte ein Wärter die sich der auf der verbotenen Promenade neben der Burg nähernden Personen fünfmal vergebens zum Stehenbleiben auf. Diese verstanden den Befehl nicht und so forderte der darauf folgende Waffengebrauch ein Todesopfer.6
Bei der Anordnung der Burggebäude handelt es sich um eine örtliche Gegebenheit, die – je nach Bedarf – vielleicht verändert werden kann. Sie spiegelt jedoch keinesfalls eindeutig die Ziele und Bestrebungen ihrer Benutzer wieder oder weist auf deren Persönlichkeit hin. Unter den offiziellen Dokumenten ist es außerordentlich schwierig, solche Quellen zu finden, die zumindest teilweise diesem Mangel abhelfen. Weil es sich aus ihrem Charakter ergibt, sind sie meistens streng mit der Amtsführung verknüpft. Im Falle des Szegediner königlichen Kommissariats bestand aber den strengen und regelmäßigen finanziellen Revisionen zufolge ein besonders ausführliches Beschaffungsinventar, in dem alle Gegenstände angegeben waren, die aus dem Staatbudget gekauft wurden.7 Ein bei der Liquidierung des königlichen Kommissariats aufgenommenes Protokoll bekam den Namen „nicht inventarisierte Gegenstände”, und enthielt wahrscheinlich die vom Militär nach Abzug verbliebenen Mittel.8
Der Umfang der zu beschaffenden Gegenstände, die sich aus dem Ziel der Untersuchungen und des Gefängnisses ergeben, ist begrenzt. Meiner Meinung nach kann der Charakter der Personen, die die Untersuchungen geführt oder das Gefängnis im Betrieb gehalten haben, dort aufgedeckt werden, wo auch die Qualität in den Vordergrund gestellt wird. Hiermit denke ich z.B. an die Möbel der Büros, an die Einrichtung des Gefängnisses sowie an deren Zahl und Qualität.
Es lohnt sich deshalb, die Büros des königlichen Kommissars zu untersuchen, denn sie verraten ziemlich viel über die Denkweise von Ráday. Das Inventar des Zimmers, das im Gebrauch des Grafen stand, war wie folgt: eine mit schwarzer Wachsleinwand bezogene Couch, 2 mit schwarzer Wachsleinwand bezogene Sessel, ein polierter Schreibtisch, ein mit Furnierholz bedeckter Schreibtisch und ein kleinerer Tisch, 2 Buchregale, ein Schrank, 2 Rohrsessel (einer davon mit Lederrücklehne), eine Pendeluhr, ein Tintenfass aus Stein, das Porträt von Franz Joseph, die Landkarte Ungarns, ein Papierkorb aus Eisen, ein grüner Vorhang an der Tür sowie ein Federwisch.
Die Liste ist relativ kurz aber vielsagend. Man kann schon auf den ersten Blick sehen, dass die Büros des königlichen Kommissars, der auf einem riesigen Gebiet mit unbeschränkter Kompetenz Maßnahmen getroffen hat, dem Obergespan Befehle ausgeteilt hat, und der – aber überwiegend vielleicht aus Zwang – ziemlich viel repräsentiert hat, vorsichtig ausgedrückt puritanisch sind. Das gleiche gilt in erhöhtem Maße für das Büro des Sekretärs. Im Inventar sind die Einrichtungsgegenstände des Dienerzimmers angegeben, aber später wurden diese gestrichen, weil er das Zimmer eher mit seinen eigenen Gegenständen möbliert hat. Dies ist ein Hinweis dafür – und dies wird von der ganzen Persönlichkeit von Ráday suggestiert –, dass sich dort alles nur um Arbeit dreht, zumal er selbst Unbequemlichkeiten in Kauf nimmt, die er auch von anderen erwartet. Diese Tatsachen charakterisierten die ganze Tätigkeit des königlichen Kommissariats, und das in dieser Epoche außergewöhnliche Arbeitstempo hat mehrmals spürbares Befremden bei den Landesbehörden erweckt, wo man bisher überwiegend mit gemütlicher Gelassenheit Maßnahmen getroffen hat.
Der charakteristische Gegenstand der Einrichtung ist das Porträt von Franz Joseph, was unter den Amtslokalen – ausgenommen Rádays Zimmer – nur im Gerichtssaal zu finden war. Die Erscheinung des königlichen Porträts symbolisiert einen über meine Arbeit weit hinausweisenden Prozess, und macht uns auf einen der größten Widersprüche der Anfangsepoche des Dualismus aufmerksam. Es hat einerseits einen pflichtbewussten Beamten gegeben, dessen Ernennung der König bestätigt hat. Somit ist von ihm die Loyalität dem König gegenüber zu erwarten. Deren Erscheinung im Gerichtssaal gewinnt aber schon einen bedeutenden weiteren Sinn und kann die Kraft des Bildes, das im Büro des königlichen Kommissars hängt, verstärken. Die zwei Bilder zusammen verpflichten nämlich nicht mehr zur passiven Annahme, sondern sie bewegen eher zur aktiven Handlung. Es genügt nicht, das Urteil des Gerichtes hinzunehmen, sondern man soll bedingungslos so handeln, wie der Vermittler des königlichen Willens, Ráday, es von einem erwartet. Diese These kann auch durch die Annahme bekräftigt werden, wonach 1869/70, in den ersten Jahren nach dem Ausgleich, die Aushängung der königlichen Porträts eher als ein Drohmittel, das das Ausführen der Befehle betont, als eine bedingungslose Verehrung betrachtet wird. Beim inneren Kampf des einerseits seinem König gegenüber loyalen Beamten und andererseits den Freiheitskrieg als Kavallerieleutnant neben Lázár Mészáros, Dembinsky und Bem zu Ende Kämpfenden, nach dem Ausgleich Deák-Unterstützer, aber gleichzeitig mit Kálmán Tisza eine enge Freundschaft pflegenden Politikers, setzte sich eindeutig die Pflichterfüllung durch.
Unter den Einrichtungsgegenständen des Burgbüros soll in erster Linie die „Steindruckerei” hervorgehoben werden. Sie hat deshalb eine Bedeutung, weil sie mit einem weit verbreiteten Glauben verknüpft ist, und die Arbeitsmethoden der Angestellten von Ráday gut illustrieren kann. Laut Ferenc Móra hat der Untersuchungsrichter Laucsik im Gefängnis Zeitungen in einem Exemplar gedruckt, um mit den falschen Nachrichten darin Sándor Rózsa, den berühmtesten Betjaren irrezuführen und ihn zum Geständnis zu bringen. Der Plan sollte gelingen, und Sándor Rózsa könnte nur so gebrochen wurden. Es kann bewiesen werden, dass er weder schreiben noch lesen konnte. Wir wissen noch, dass er in Szeged immer 1–2 Zellengenossen hatte, also theoretisch bestand die Möglichkeit, dass ihm Zeitungsartikel vorgelesen werden.9 Das Dasein der Druckerei an sich beweist natürlich nichts, aber es gab eine Möglichkeit zum Drucken der Zeitung. Die Kassentagebücher beweisen aber, dass die Druckerei zu einem bestimmten Zweck verwendet wurde, denn ein Schreiber hat monatlich wegen der Handhabung der „Lithographia” 10 Forint Zulage bekommen, und 1871 hat man 361 Forint für die Kosten der Druckerei gezahlt. Die zur Amtsführung nötigen Formulare wurden aber zur gleichen Zeit aus einer Pester Druckerei geholt.
Der bemerkenswerteste Teil des Inventars ist zweifellos die Einrichtung des Gefängnisses. Die Zellen wurden wahrscheinlich nach gesellschaftlichem Rang und vielleicht nach der Gefahrenstufe der Gefangenen in Klassen I–IV eingeordnet. Dieser Annahme könnte jedoch die Tatsache widersprechen, dass es sich in vorliegendem Fall um die Untersuchungshaft handelt, d.h. die vom Gericht verurteilten Personen wurden in absehbarer Zeit (schlimmstenfalls nach 3–5 Monaten) wieder abtransportiert. Innerhalb dieses Zeitpunktes differenzierten die ungarischen Gefängnisse jedoch nicht nach dem Grad der Gefährlichkeit der jeweiligen Gefangenen. Das Inventar der Gefängniseinrichtung ermöglicht es nur bedingt, Rückschlüsse auf das Fassungsvermögen der einzelnen Zellen zu ziehen. Obwohl über die Anzahl der Personen nirgends ein Hinweis zu finden ist, kann man jedoch anhand der angegebenen Zahlen der Strohsäcke auf die Anzahl der Gefangenen schließen.
Zu dem Gefängnis der ersten Klasse gehörten 20 Zellen, insgesamt mit 124 Gefangenen; in den Zellen wurden 2–13 Personen untergebracht. Zu der Ausrüstung der Zellen gehörten je ein Zuber und eine Wasserkanne, an zwei Stellen ein Bettuch, in einer Zelle ein Kübel, an vier Stellen eine Decke (z.B. auf 10 Personen entfällt 1 St., und auf 11 Personen entfallen 2 St.), in fünf Zellen Öfen (in zwei Zellen davon gab es auch Decken, also in dieser Kategorie deuteten sie auf einen „hervorgehobenen” Raum hin). Im Allgemeinen gab es in jeder Zelle ein Bett, dessen Länge 1 Klafter (= 1 m 90 cm) war. Die Breite wurde so bestimmt, dass alle Personen 60–80 cm hatten, d.h. insgesamt konnte es sogar 5–8 m breit sein. Die Gefängnisausrüstung zweiter Klasse hat sich von der 1. Klasse in nichts unterschieden, aber in 24 Zellen wurden nur 77 Gefangene untergebracht, in jeder Zelle 2–6 Personen. Im Gefängnis dritter Klasse war die Zahl der Häftlinge in den Zellen ein bisschen höher, aber die bessere Ausrüstung kompensierte dies. An 11 Stellen gab es Decken, an 15 Stellen Öfen und praktisch in jeder Zelle eine Waschschüssel.
Das Gefängnis vierter Klasse unterschied sich von dem obengenannten „nur” darin, dass die Zahl der Decken (15) und der Öfen (20) noch höher war. In der Burg wurden monatlich bedeutende Summen für das Verglasen von Fenstern bezahlt, wobei sich jedoch heute nicht mehr nachvollziehen lässt, ob die ausgeführten Arbeiten auch die Zellen selbst oder lediglich die Büros betrafen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass ein höheres Niveau der Zellen nicht unter dem Aspekt der Bequemlichkeit, sondern unter dem Aspekt der Anzahl der vorhandenen Öfen und Decken zu sehen war, die eine höhere Überlebenschance gewährleisteten. Das Gefängnis wurde also nicht nach Bequemlichkeit, sondern nach Einfachheit und Zweckmäßigkeit, wie etwa die Büros, eingerichtet. Der Vergleich des Zellenniveaus des Szegediner Gefängnisses mit den staatlichen Strafanstalten kann das bisherige, vielleicht negative Bild gewissermaßen verändern. In Szeged sind durchschnittlich weniger als 10 Personen pro Zelle zu finden. Nach einer Aufnahme von 1866–67 wurden in Munkács 8–86 (!), in Szamosújvár 20–48, in Lipótvár 8–38 Personen in einer Zelle untergebracht.
Neben der niedrigen Zahl der Gefangenen muss es unbedingt als Fortschritt beurteilt werden, dass die Häftlinge in Klassen eingeordnet wurden, obwohl – wie schon gesagt – wir nicht wissen, nach welchen Kriterien. Nur eins ist sicher, dass die Frauen auf einem von Männern abgeschlossenen Gebiet der Burg, und die vornehmen Gefangenen nicht in den Kasematten, sondern in einem separaten Gebäude untergebracht wurden. Wir können ebenso annehmen, dass die Mütter, die – den damaligen Gewohnheiten entsprechend – ihre Kinder ins Gefängnis mitbrachten, in besser ausgestatteten Zellen eingekerkert wurden. Gegen diese Vorstellung spricht – aber vielleicht kann es als ein Hinweis auf die von dem Gewohnten abweichende humane Denkweise des Gefängnispersonals betrachtet werden – eine Kassenrechnung, mit der im Mai 1871 44 Ft. „für den Transport von Kindern der weiblichen Strafgefangenen in die Pester Kinderkrippe” bezahlt wurden.10 Ein anderes Mal sollte eine Frau mit ihrem Kind nur eine einzige Nacht im Gefängnis verbringen. Solche kurze Aufenthaltszeit kam in viereinhalb Jahren – solange die Gefangenen festgenommen waren – nie mehr vor. Zum Vergleich lohnt es sich zu betonen, dass es in Szamosújvár keine Separierung gab. In Munkács berücksichtigte man mehrere Unterscheidungsmerkmale. Als Grundlage wurde die Religionszugehörigkeit beachtet, da zur selben Zeit 52 Zigeuner, „die mit den anderen Gefangenen nicht auskommen konnten”, im Keller eingekerkert wurden. Des Weiteren war der Bildungsstand und das Alter der jeweiligen Gefangenen – ähnlich wie in Lipótvár – ausschlaggebend für die Trennung über Nacht.
Die in vorläufige Haft genommenen und in der Szegediner Burg inhaftierten Personen wurden vor allem einem kurzen Verhör unterworfen. Ihre Personaldaten wurden aufgenommen und sie wurden über ihr Verbrechen befragt. Sie sollten ihre Kleider gegen durch Stempel markierte Sträflingsanzüge tauschen, die sie von diesem Zeitpunkt an bis zu ihrer eventuellen Befreiung nicht mehr auswaschen durften. Es bestand keinerlei Möglichkeit mehr zum Waschen und Rasieren, und jegliche Kontakte zur Außenwelt wurden abgebrochen. Mangelnde Hygiene war in den ungarischen Gefängnissen üblich. Meist wurden die Gefangenen ausschließlich auf ärztliche Anordnung gebadet. Das Rauchen war wegen Feuergefahr verboten, obwohl die Öfen mit Holz geheizt wurden. Die Zeit verging im Gefängnis langsam, nur der tägliche Spaziergang, der nur einige Minuten lang dauerte, hat die Monotonie gemildert. Aber bei dieser Gelegenheit sollten die Gefangenen eine schwarze Maske tragen – so versuchte man die Kontakte zwischen ihnen zu verhindern. Von Anfang an gab es viele Beschwerden über die Qualität und Quantität der Speisen, deshalb wurde das Kostgeld pro Kopf zwischen 1869 und 1872 um ca. 40 Prozent erhöht.11 Obwohl die Qualität unterschiedlich war, bekam jeder täglich 0,5 kg Brot, einen Teller Suppe und sonntags sogar etwas Rindfleisch. Die Gefangenen erhielten einmal am Tag Nahrung – ebenso wie in anderen staatlichen Gefängnissen, sogar die Portionen stimmten. Trotzdem ließen sich mehrere Häftlinge von ihren Verwandten Essen bringen.
Man versuchte, die mangelhafte Ernährung durch verbesserte Versorgung im medizinischen Bereich zu ersetzen. Das Gefängnis besaß einen eigenen Arzt sowie eine Spitalsabteilung und monatlich wurde eine enorme Summe in die Beschaffung von Medikamenten investiert. Offizielle Meldungen sowie Materialrechnungen jedoch dokumentieren, dass der Anschaffung von mehr Fleisch, frischem Gemüse sowie von Schnaps und Wein im Interesse einer Verbesserung des körperlichen Zustandes der Kranken mehr Bedeutung beigemessen wurde als dem Kauf von Medikamenten.
Nach diesem kurzen Überblick über die Ausrüstungsbedingungen sowie die Haftumstände ist es unbedingt notwendig, sich die von der Untersuchungshaft betroffenen Personen näher anzusehen, da deren Abstammung und bisherige Lebensumstände verdeutlichen, mit welcher psychischen und physischen Kraft sie die außerordentlich lange und oft ungerechte Haft ertrugen.
Die in Szeged inhaftierten Personen hatten im Allgemeinen die gleiche gesellschaftliche Position wie der übrige Landesdurchschnitt. Die als „Tagelöhner, Knecht und Ackerbauer” bezeichneten Personen bildeten die größte Gruppe, die fast 57 Prozent aller Verdächtigten ausmachte. Die überwiegende Mehrheit der von der Landwirtschaft Lebenden wurde des Diebstahls, in geringerem Maße des Raubes und des Mordes verdächtigt. Wir müssen diese Tatsache deshalb betonen, da diese Daten beweisen, dass die Relativität der Schuld in dieser Gesellschaftsschicht besonders berücksichtigt wurde. Als Schuld wurde in erster Linie nicht die Übertretung des Gesetzes, sondern die Verletzung eines von einer klar abgrenzbaren Gruppe aufgestellten Normsystems gehalten. Dieser Vortrag beabsichtigt nicht deren detaillierte Vorstellung, aber die Hervorhebung eines Beispiels lohnt sich vielleicht dennoch. Die Wertung eines Diebstahles unterschied sich vom Lande zur Stadt, von arm zu reich, und bei den Hirten wurde es sogar eindeutig als „Mannesmut” angesehen. So charakterisierte ein alter Richter z.B. die Hirten: „Alle, die mehr als zehn Jahre als Hirten gearbeitet haben, können ruhig aufgehängt werden.”12
Unter den Verhafteten ist das Verhältnis der Anzahl der Handwerker mit Fachausbildung gegenüber der Anzahl der von der Landwirtschaft Lebenden außerordentlich niedrig. Bei den Händlern jedoch ist es umgekehrt. Somit kann erklärt werden, dass diese Gruppe über einen sehr ausgebreiteten „Bekanntenkreis” verfügte. Sie haben also als Hehler einen bedeutenden Teil des Gewinns aus gestohlenen Waren abgeschöpft. Ihre Wertigkeit, die sie innerhalb der Kriminalität spielten, war viel größer als ihre Anzahl. Somit wurde ihnen Rádays besondere Aufmerksamkeit zuteil. Bei der Analyse der Gefangenen erscheint als neues Element eine Gesellschaftsgruppe, die nicht mehr nur nach Berufs-, sondern auch nach ethnischen Charakteristika definiert wurde: das Judentum. Seine bestimmende Rolle im Handel Ungarns kann ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachgewiesen werden. Nach einem Jahrhundert wurde das Wort „Jude”auf einem bedeutenden Gebiet des Landes als Synonym für „Handelsmann” verwendet. Ihr Anzahl ist gemäß den Volkszählungsdaten von 1870 und gemäß dem Händlerverhältnis unter den Verhafteten gleichfalls 3,5 %, aber wegen der erwähnten Rolle ist ihre Bedeutung viel größer. Damit kann man erklären, dass Ráday neben den mit bestimmten Gebieten verbundenen Banden (z.B. an Kecskemét, Szeged), nur eine nach ethnischen-religiösen Erkennungszeichen definierte Gruppe gefunden hat: die jüdischen Handelsleute.
Unter den auf die Gerichtsverhandlung wartenden Gefangenen in der Szegediner Burg fehlte absolut die traditionelle Elite des Landes. Demzufolge konnte ihre Rolle, die auf Privilegien beruhte, den Stand der niedrigen Mittelklasse, des engen Kreises der Lehrer sowie der Grundbesitzer übernehmen. Diese Privilegien bedeuteten in der Praxis, dass die Untersuchungshaft kürzer, die Haftumstände besser waren.
Die gesellschaftliche Zusammensetzung der verhafteten und im Gefängnis gestorbenen Häftlinge zeigt keine bedeutenden Unterschiede. Die Abstammung kann nicht als entscheidend betrachtet werden, denn nach den Daten wurde der Unterschied bei der Ernährung, Hygiene und den besonderen Lebensumständen auf lange Sicht ausgeglichen. Ebenso bestand kein Unterschied im Alter. Das Durchschnittsalter der Inhaftierten betrug 40,5 Jahre, das der Verstorbenen 41,5 Jahre. Besonders hervorzuheben ist hierbei die Altersklasse der 31–41-jährigen.
Abschließend möchte ich eine kurze Zusammenfassung meines Vortrages bieten: Die fast 1600 inhaftierten Personen wurden in einem Gefängnis untergebracht, das für den Aufenthalt von Menschen gänzlich ungeeignet war. Ein Versuch, die Zellen bewohnbar zu machen, scheiterte. Die Haftumstände waren unmenschlich, die Zellen feucht und dumpf, die Ernährung war nicht ausreichend. Es gab keine Waschmöglichkeiten, und die Gefangenen tranken das schmutzige Flusswasser der Theiß. Ich habe keinerlei Beweise dafür gefunden, dass die Gefangenen physisch verletzt oder gequält worden wären, obwohl nicht auszuschließen ist, dass die Ermittlungsbeamten alle vorstellbaren Mittel des Seelenterrors angewandt haben. Es kam vor, dass den hungrigen Häftlingen salziges Fleisch angeboten wurde und sie danach mehrere Tage kein Wasser zum Trinken bekamen. Oder Frau und Kinder wurden verhaftet, und, nachdem das Familienoberhaupt ein Geständnis abgelegt hat, wurde seine Familie freigelassen. Ich könnte noch weitere Beispiele anführen, aber die meisten Leute waren ebenso von der Aussichtslosigkeit ihres Schicksals, wie auch von den Umständen des Gefängnisses betroffen. Die meisten wurden aufgrund einer schriftlichen Anzeige oder aufgrund des Geständnisses eines ihrer Feinde verhaftet und es war ungewiss, wie lange die Untersuchungshaft dauern würde oder wann die Gerichtsverhandlung stattfände – falls sie überhaupt stattfindet. Die 1869 verhafteten Personen haben durchschnittlich 36,4 Monate, die von 1870 26,6 Monate, und die im Jahr der Auflösung des königlichen Kommissariats, 1872, 10 Monate im Gefängnis verbracht. Anhand der Gruppierung der Todesfälle nach dem Verhaftungsjahr wird ersichtlich, dass von den Personen, die in den ersten zwei Jahren verhaftet wurden, 41–43 % gestorben sind, später nur 19 %, und im letzten Jahr nur 4,5 %. Die ärztlichen Meldungen erwähnen nur sehr wenige Todesursachen, aber davon stehen Krankheiten aufgrund schlechter Ernährung und ungesunder Unterbringung an erster Stelle.
Diese Daten bestätigen also, dass die Zusammenwirkung der schlechten Umstände des Gefängnisses und der Untersuchungshäftlinge die außerordentlich vielen Todesfälle verursacht haben, und nicht die Atrozitäten von Gedeon Ráday oder die in Szeged entwickelten Martergeräte. Der Mythos hat jedoch sein Ziel teilweise erreicht: die Allgemeinheit betrachtet Sándor Rózsa als Verkörperung des guten Betjaren und als Beschützer des armen Volkes.
Anmerkungen
1
Világ, 25. Apr. 1923; A Hon, 11. Mai 1870. reggeli kiadás [Morgenblatt]
2
Magyar Országos Levéltár, Szegedi Királyi Biztosság [Ungarisches Staatsarchiv, Ráday Akten] (=MOL K 151) 1. cs. 1869. 10. sz. Nr. 10
3
Szegedi Híradó, 13. Apr., 1870., 27. Juli 1870
4
MOL K 151 Bd. 79–81.
5
A Hon, 12. Mai 1870. reggeli kiadás [Morgenblatt]
6
Szegedi Híradó, 2. Dez. 1870
7
MOL K 151 Bd. 82.
8
MOL K 151 39. cs. Ad. 19. Meln. 1874.
9
Világ, 8. Mai 1923; A Hon, 15. Mai 1870
10
MOL K 151 Bd. 79.
11
MOL K 151 Bd. 77., 78.
12
Közrendészeti Lap, 22. Mai 1870