Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 12:26–32.
ERHARD BUSEK
Geistesgegenwart, Wahrnehmung, Kultur
Laudatio
Geschätzte Festgäste!
Es ist für mich eine Ehre und Auszeichnung, aus dem Nachbarland Ungarns kommend, das so viele Verbindungen in der Geschichte, in der Gegenwart mit Ungarn hat und in der Zukunft haben wird, die Laudatio zum Corvinus-Preis 1999 vornehmen zu dürfen. Die Anwesenheit des ungarischen Staatspräsidenten, meines Freundes Árpád Göncz, ist mir eine Freude, wie mich auch mit dem Hausherrn der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Prof. Ferenc Glatz seit seiner Ministerschaft eine enge Beziehung verbindet, wo wir 1989 einiges zur Verbesserung jener Situation beitragen konnten, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg so schmerzlich betroffen hat. Auch die Anwesenheit des ungarischen Außenministers János Martonyi, der sein Land auf dem Weg zur Europäischen Union mit sicherer Hand führt, ist ebenso eine Freude wie die des Stifters des Preises, Senator Prof. Dr. Dr. Herbert Batliner, der aus einem Mikrostaat kommend, aus Liechtenstein, zeigt, wie man europäische Verantwortung auch persönlich sichtbar machen kann. Wir sind zusammengekommen, um Andrei Gabriel Pleşu zu ehren, den ich einen Freund nennen darf, weil er ein Freund der Europäischen Demokratie, ein Freund des Denkens und ein Freund des Wortes und der Sprache ist. Seit jeher bewegen mich die biblischen Bilder und die Bedeutung der Sprache. Das Alte Testament hat mit der babylonischen Sprachenverwirrung ein Symbol für den Zustand unserer Welt geschaffen. Es wird von der Unfähigkeit der Menschen gesprochen, ein gemeinsames Werk zu verrichten, weil sie einander nicht verstehen. Als Kontrast hält das Neue Testament das Kommen des Geistes parat, der es den Jüngern ermöglicht, dass „ein jeder den anderen in seiner Sprache reden hört”.
Sie werden fragen, was das alles mit dem Matthias Corvinus-Preis zu tun hat? Nehmen wir doch mit, was dieser europäische Herrscher in seiner Zeit bedeutet hat und wo er nach wie vor aktuell für uns ist. Da ist zum einen die Supranationalität in Mitteleuropa, die kulturelle Qualität, die Matthias Corvinus eingefordert hat und die Weite des Geistes, die signifikant das Europa von damals mitgestaltet hat. Alle diese Eigenschaften brauchen wir auch heute, womit nicht nur die Bedeutung des Matthias Corvinus-Preises, sondern auch die Relevanz eines Schriftstellers vom Range des Andrei Pleşu gegeben ist, den wir heute durch Matthias Corvinus ehren.
Die Bedeutung des Schriftstellers, die Kraft des Wortes wurde mir durch ein Interview bewusst, das in der Neuen Zürcher Zeitung der bosnisch-muslimische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Dzevad Karahasan gegeben hat: „Die Literatur trägt ohne Zweifel eine große Verantwortung. Sie ist neben Geschichtsschreibung, Religion und Philosophie die geistige Disziplin, die Werte formuliert und artikuliert, die also ein Wertesystem schafft, auf dem eine Gesellschaft ruht. In dieser Hinsicht trägt Literatur eine ganz wesentliche Verantwortung für die Geschehnisse, die Geschichte machen. Außerdem trägt die Literatur Verantwortung als eine Art des öffentlichen Sprechens. Das Wort ist sozusagen die Einführung zur Tat. Zum dritten trägt die Literatur Verantwortung als eine Art der öffentlichen Kommunikation.” Karahasan wird dann noch deutlicher, wobei seine Analyse des Geschehens im Kosovo die Gewichte der Verantwortung verschiebt: „Der Balkankrieg wurde eigentlich im voraus geschrieben. Die eigentliche Verantwortung dafür tragen weit mehr die Quasi-Literaten und die Quasi-Geschichtsschreiber als die Generäle und Politiker.”
Wer ist nun Andrei Gabriel Pleşu? Ich verzichte darauf, Ihnen einen Lebenslauf zur Kenntnis zu bringen, der meistens von der Banalität getragen ist, dass jemand irgendwann einmal geboren wurde, bestimmte Ausbildungen hinter sich gebracht hat, Funktionen wahrnahm oder sonst irgendwie tätig war oder ausgezeichnet wurde. Das kann alles nachgelesen werden und ist doch eigentlich nicht relevant. Wichtiger ist, welche Spuren jemand hinterlassen hat, wie er seine Zeit prägte und was ihm gelungen ist. Allein der Blick auf sein Werkverzeichnis zeigt schon die Richtung: Die Rolle des Intellektuellen wird sichtbar, wenn jemand eine Zeitschrift unter dem Titel „Die Lämmer” herausgibt. Der Ästhet wird sichtbar in „Picturesque and Melancholy. An Analysis of the Feeling of Nature in European Culture” oder in „The Eye and the Objects”. Der kritische Intellektuelle dokumentiert sich in „Minima Moralia. Elements for the Ethics of Space” wie auch in „Appearances and Masks of Transition”. Aber nicht nur analytisch war und ist Andrei Pleşu tätig, sondern auch in dem Transformationsprozess sehr aktiv als Präsident des New Europe College, das er zwischen seinen beiden Ministerschaften 1989, 1990 und 1997 bis jetzt geleitet hat.
Was aber noch viel wichtiger ist, ist wohl die Tatsache, dass jemand mit moralischer Dimension in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts und in Mitteleuropa lebend naturgemäß mit dem totalitären System in Konflikt kommen musste, mit dessen Folgen wir heute so viele Schmerzen zu bewältigen haben. Hätte es aber Menschen wie Andrei Pleşu nicht gegeben, wäre nie eine Metaebene des Geistes entstanden, die uns nach 1989 geholfen hat, die Folgen des Eisernen Vorhangs und der Ost–West-Teilung zu überwinden. Er gehört in die Gilde jener wie Vaclav Havel, Tadeusz Mazowiecki und Wladyslaw Bartoszewski, die slowenischen Literaten oder aber auch der hier anwesende Árpád Göncz. Ihnen ist bewusst gewesen, dass das Leben nicht nur eine politische und ökonomische, sondern vor allem eine geistige Funktion hat und Europa jedenfalls nur so bestehen kann. Julien Benda hat es in seinem „Discours à la Nation Europeene”, 1933 bereits formuliert: „Europa wird ein Produkt eures Geistes sein, des Wollens eures Geistes und nicht ein Produkt eures Seins. Und wenn ihr mir antwortet, dass ihr nicht an die Unabhängigkeit des Geistes glaubt, dass euer Geist nichts anderes sein kann als ein Aspekt eures Seins, dann erkläre ich euch, dass ihr Europa niemals bringen werdet. Denn es gibt kein europäisches Sein.” Die Worte von damals sind heute eine Herausforderung, die nach wie vor gilt.
Ein anderer Schriftsteller, Hugo von Hofmannsthal, hat es bereits 1917 mitten in der ersten großen Katastrophe dieses Jahrhunderts formuliert, was wir in der Mitte des Kontinents brauchen: „Dies Klare, Schöne, Gegenwärtige ist der geheime Quell des Glücksgefühls. Dies Schöne, Gesegnete würde ohne uns in Europa, in der Welt fehlen. Zum Schluss nenne ich den Sinn für das Gemäße, wovon uns trotz allem noch heute die Möglichkeit des Zusammenlebens gemischter Völker in gemeinsamer Heimat geblieben ist. Die tolerante Vitalität, die uns durchträgt durch die schwierigen Zeiten und die wir hinüber retten müssen in die Zukunft.” Das hat uns bei aller Verschiedenheit in diesem mitteleuropäischen Raum aneinander gebunden, eine Sehnsucht, die uns erhalten geblieben ist, eine Chance, die wir heute haben, es noch einmal zu versuchen. Was aber dazu notwendig ist, hat ein anderer Schriftsteller nämlich György Konrad bereits beschrieben: „Mitteleuropäer ist der, dessen staatliche Existenz irgendwie künstlich ist und nicht ganz seinem Realitätsempfinden entspricht. Mitteleuropäer ist der, den die Teilung unseres Erdteils verletzt, berührt, behindert, beunruhigt und beengt. Aus unserer Lage ergibt sich eine Philosophie, die Philosophie der paradoxen Mittel, die eigentlich auch das Wesen einer vorstellbaren europäischen Weltanschauung sein könnte. Wir sind ein Projekt, ein kulturelles Bündnis, ein literarischer Ritterorden, wir sind Rekordler der Ambivalenzen, professionelle Problememacher. In unseren Kulturen vermischen sich verschiedene zeitliche Schichten. Wir sind keine eindimensionalen Gesellschaften. Wir haben noch keine rationale Übersichtlichkeit, wir sind nicht identisch mit unseren formalen Institutionen, wir sind nicht problemlos identisch mit unserem Schein.”
Andrei Pleşu ist einer von diesem literarischen Ritterorden, von dem sich heute viele wieder aus der Politik zurückgezogen haben, weil sie ihre Aufgabe erfüllt haben und vielleicht auch nicht jene sind, die das Geschäft des Tages besorgen. Eines aber haben Pleşu und seine Freunde geschafft: die Glaubwürdigkeit ihrer Länder sicherzustellen, weil sie von sich aus einen Beitrag des Geistes geleistet haben, um den Kommunismus zu überwinden. Sie stellen damit auch eine moralische und ethische Herausforderung für den Westen unseres Kontinents dar, der nicht in gleicher Weise in der Lage war, auf diese Herausforderung in Europa zu antworten. Nach wie vor besteht das Problem, dass der Transformationsprozess zu mechanisch und ökonomisch gesehen wird. Nicht alles ist der Euro, nicht alles ist die Marktwirtschaft, nicht alles sind die neuen Regeln, die in Europa aufgestellt wurden. Es bedarf vielmehr die Kraft des Geistes, nicht nur um die Trennung zu überwinden, sondern auch dem Kontinent eine Zukunftsdimension zu geben. Es gilt daher den Faktor Zeit zu erkennen, den es nämlich braucht, um in der Transformation all jene schrecklichen Folgen des totalitären Systems zu überwinden. Es braucht die Geduld in der Generationenabfolge, um wirklich ein gemeinsames Europa erstellen zu können. Wie einem da zumute sein kann, das hat Andrei Pleşu auch beschrieben. Es scheut nicht vor starken Worten zurück, die sich insbesondere jene zu Herzen nehmen sollten, die in der Sicherheit ihrer Freiheit auch den Wohlstand genießen konnten, zu dem andere erst den Zugang suchen. Der erhobene Zeigefinger des Westens gegenüber dem Osten des Kontinents ist hier nicht angebracht. Daher sollten gerade die Worte Andrei Pleşus, die er in einem Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gefunden hatte, eine Pflichtlektüre für Transformationstheoretiker sein: „Im Grunde genommen wird man mit unzähligen Prioritäten konfrontiert. Alles ist prioritär. Unter diesen Bedingungen ist es nicht verwunderlich, dass man gelähmt ist und zögert. Gleichzeitig müssen gelöst werden: die Löcher in der Straßendecke, die Rechtsunsicherheit, die Verschmutzung der Gewässer, die Inflation, die Armut, das Recht der Homosexuellen, das Verbot der Zigerettenwerbung, die Renovierung der Strafanstalten, die Entsorgung der öffentlichen Abfälle, der engstirnige Konfessionalismus, die Diskriminierung von Frauen, die Medikamentenkrise, die schwachen Dienstleistungen, die Polizeireform, das Reinigen der Züge, die Sozialisierung der Rentner, die Einschulung der Roma-Kinder, die Umbenennung von Straßen, die Finanzierung der Theater, der Tierschutz, der Druck neuer Reisepässe, die Modernisierung der öffentlichen WCs, die Privatisierung, die Umstrukturierung, die Ankurbelung der Volkswirtschaft, die moralische Reform, die Neudefinierung des Bildungswesens, das Auswechseln von Diplomaten, die Konsolidierung des Zivillebens, die Förderung der NGO’s, die Neuausstattung der Krankenhäuser, die ausgesetzten Kinder, die AIDS-Kranken, die neuen Mafia-Strukturen und so weiter und so fort. Alles ist Pflicht, alles ist dringend.”
Pleşu konstatiert folgerichtig, dass angesichts dieser Fülle es zwangsläufig zu Neurosen kommen müsse. Er befürchtet eine „ideologische Magenverstimmung”, wobei es die Menschen in der EU nachdenklich stimmen sollte, dass er unserer „civil society” eine Wirkungsweise zuschreibt, die er als „terrorisierende Gestalt eines Obersturmbannführers” beschreibt. Manchmal erkenne auch ich in der Phantasielosigkeit der Anforderung, dass alles dem „acquis communitaire” zu folgen hat, jene Kommandosprache, die ganz sicher nicht in die Welt des neuen Europa passt.
Da aber wird das Geistige notwendig. Da bedarf es jener, die eben Anwälte dieses Geistes sind. Menschen wie Andrei Pleşu haben den Eros zum Geist, die Fähigkeit zur Umsorgung mit oder ohne Seele. Er wird dann zum europäischen Mahner, jemand, der in der Kraft des Wortes einen Zustand sichtbar macht, in dem sich Europas Geist befindet. Das ist ein durchgehender Grundzug des Verhaltens, der oft den Geist ersticken lässt. Custos quid de nocte? Wächter, wie weit ist die Nacht – in Europa? Fast alle schlafen. Auch diejenigen, die gerade nicht schlafen, sind oft nicht deshalb wach und munter, um erwartungsvoll in den neuen Morgen zu blicken, sondern sie wälzen sich nur müde in ihrer Schlaflosigkeit herum, weil der Magen zu voll ist oder alles unerledigte von gestern im Kopf herumschwirrt. Die Wachheit, die es braucht, ist aber nicht eine bekümmerte und leidende Schlaflosigkeit, sondern ist Munterkeit, Aufgewecktheit, gespannte Erwartung, Nüchternheit, Rastlosigkeit, Neugier, Bewusstheit und Geistesgegenwart. Geistesgegenwart – das ist das Wort, das die Verheißung des Glaubens verspricht, Geistesgegenwart nicht nur als Eschaton, sondern als anbrechende Wirklichkeit schon in diesem Äon.
Und diese Wachheit der Sinne geht auf Wahrnehmung aus, Wahrnehmung im eigentlichen Wortsinn: nämlich auf geistig-sinnliches Erfassen der Welt und auf die Unterscheidung des Wahrens vom Unwahren, vom Falschen und Unechten.
Wahrnehmung heißt auf griechisch Aisthesis – Ästhetik. Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Wenn man damit meint, dass einer mit wachem Geist und allen fünf Sinnen die Botschaft wahrnimmt und dechiffrieren kann, dass er aus dem Wahrgenommenen sich auch die Geistesgegenwart erschließen kann – dann muss man ein Ästhet sein. Auch wenn es auf Kennerschaft, auf Geschmack, auf Eros ankommt, und auch auf die Gabe, das Gelungene zu erkennen und ein wahres Werk von einem Machwerk zu unterscheiden – dann ist man ein Ästhet.
Wenn man mit „Ästhet” aber jemanden meint, der den schönen Schein sucht und sich daran mit seinen Sinnen gütlich tut, der sich im Geschmäcklerischen und Genießerischen ergeht, dann ist es ein Missverständnis. Solche „Ästheten” waren und sind vor allem diejenigen, die sogenannte „Schöne” Kunst einmahnen wollen – Augenschmaus sozusagen, der der Iris Behagen verschafft, aber nichts mehr von dem durchblicken und wahrnehmen lässt, was den Menschen und die Welt wirklich bewegt. Augenschmaus ist nicht ästhetisch, er ist das Gegenteil davon. Er ist Opium, Narkotikum – und bewirkt damit nur Anästhesie: Einschläferung der Sinne und Verlust der Wahrnehmung dessen, was ist und rings um uns geschieht.
Da fällt mir die erste Seligpreisung der Bergpredigt ein, die ich noch mit „Selig die Armen im Geiste” in Erinnerung habe. Das ist durchaus missverständlich, denn in Wahrheit heißt der griechische Text, dass jene selig sind, die Begierde nach mehr Geist haben. Jene brauchen wir und selig sind sie, nicht in einem himmlischen, sondern in einem höchst irdischen Sinn, denn gerade der Geist gibt uns die Gabe der Unterscheidung, die wir brauchen, um die Vielfalt unseres Kontinents zu erkennen.
Was lässt uns die Frage nach der „Vielfalt”, nach der „kulturellen Zukunft” Europas stellen? Die Beantwortung dieser Frage zu verweigern ist „Einfalt” – Dummheit –, genauso wie zu meinen, dass nicht die Frage „kulturelle Zukunft” die Existenz Europas entscheide.
Es gibt eine Dichotomie, ja sogar Schizophrenie des Denkens. Wir sind stolz auf die Vielfalt der Kultur, und gleichzeitig müssen wir erleben, dass eine Verweigerung der Akzeptanz des „Anderen”, des Fremden, stattfindet. Dabei ist die kulturelle Landschaft so reich! Horizontal, also gleichzeitig, erleben wir eine Vielfalt von Völkern, Sprachen und Ausdrucksformen. Wir kennen die Unterschiede in unseren Tälern genauso wie die der Mode, der Literatur und der Musik. Der Reichtum umfasst aber auch das Vertikale, nämlich die Abläufe der Epochen. Was ist doch nicht alles in diesem Europa seit der Antike, der jüdisch-christlichen Welt, dem Mittelalter, der Renaissance und der Aufklärung geschehen, bis wir bei der „Postmoderne” gelandet sind!
Eigentlich ist der Begriff „Postmoderne” eine Verlustanzeige. Wie überhaupt von Verlust die Rede ist, wenn wir beklagen, wirklich Modernes nicht zu kennen oder die Werte zu vermissen. Haben wir das Selbstvertrauen verloren? Fehlt uns die Kraft zum Neuen? In der Tat: Zitate beherrschen uns, und offensichtlich ist an die Stelle der Kultur eine Art von Weltzivilisation getreten, die sich durch außerordentliche Gleichförmigkeit – Einfalt – auszeichnet. Was die Satelliten uns an Programmen über die Welt schicken, ist der Eintopf aus der Konserve, ist das „global village”, jenes Weltdorf, das sich zweifellos durch seinen simplen Charakter auszeichnet.
Aber das ist es nicht, denn noch immer besteht der Reichtum unserer Welt und unseres Kontinents. Vielmehr ist die menschliche Offenheit in einer Krise. Hier kann wirklich von der Veränderung der Vielfalt zur Einfalt gesprochen werden. Welche Antworten geistern durch die Gegend, welche Kritiken werden geäußert?
Wird die europäische Kultur zwischen Globalisierung und Regionalisierung zerrieben? Gibt es in dieser Vielfalt überhaupt eine Gemeinsamkeit, oder ist sie erst in der Weltzivilisation zu finden? Hat der Integrationsprozess Europas auf die Kultur vergessen? Ist die Kultur nur mehr ein Hobby einiger Sonderlinge oder eine marktgerechte Form eines internationalen Festspielbetriebs mit angeschlossener CD- und Video-Produktion?
Um es vorwegzunehmen: Ohne Kultur wird es Europa nicht geben! Europa hat es zwischen 1945 und 1989 eigentlich nicht gegeben. Der demokratische westliche Teil war über den Atlantik hinweg mit den USA verbunden und wohl auch kulturell von ihnen abhängig; der östliche Teil stand unter der Herrschaft des russisch dominierten Sowjetsystems; die Mitte des Kontinents war nicht mehr als eine literarische-intellektuelle Erinnerung. Von Vielfalt war nicht die Rede, der Ost–West-Konflikt war die binäre Unterscheidung Europas. Den Unterschied kann man auch heute noch sehen, wenn man mit offenen Augen im ehemaligen „Osten” durch Städte fährt.
Erstmals seit 1989 ist uns die Chance gegeben, Europa wieder als einen kulturellen Kontinent zu begreifen und seine Vielfalt zu nutzen. Damit verändert sich die Qualität der europäischen Einigung. War es mit Montanunion und Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zunächst die Aufhebung des seit dem 17. Jahrhundert währenden deutsch-französischen Konflikts, dann die Vorstellung der Einheit eines freien Europa als Bollwerk gegen den Kommunismus, so ist es seit Maastricht die Chance eines freiwilligen Zusammenschlusses zu einer neuen politischen Realität. Europa hat noch einmal die Chance, Europa zu sein.
Der Europäer Andrei Gabriel Pleşu hat dazu seinen Beitrag geleistet und leistet ihn immer noch. Zum einen im Bereich der Literatur und der Kultur, zum anderen in der Politik. Sicher ist dieses Spannungselement für ihn nicht immer eine Freude. Manchmal wird er wohl die Versuchung verspüren, das alles hinter sich zu lassen, um sich wieder der Qualität des Geistes zu widmen. Andrei Pleşu wird aber am Hofe von Matthias Corvinus von heute gebraucht. Warum? Lassen Sie mich es in der Sprache des Hofes sagen: Andrei Pleşu ist ein Adeliger des Geistes, eine große Stimme am Hofe Europas, ein Anwalt der Zukunft im europäischen Reich des Matthias Corvinus von heute. Das allein schon verdient den Matthias Corvinus-Preis 1999, denn nicht nur wir zeichnen ihn aus, sondern er zeichnet uns aus – durch sein Wirken und sein Werk.