Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:249–257.
PÉTER SZATMÁRI
Das österreichische Dilemma: Engelbert Dollfuß und seine Kanzlerschaft
Am 25. Juli 1934., am Nachmittag starb im Arbeitszimmer des Ministerpräsidenten am Bauhaus-Platz in Wien Engelbert Dollfuß, der Kanzler von Österreich an seinen schweren Schußwunden.1 Seine gut zweijährige Kanzlerschaft und deren dramatischen Ausgang drückten symbolisch all die inneren Konflikte der Ersten Österreichischen Republik und deren Krisensymptome aus. Der aus einer Bauernfamilie stammende Ministerpräsident versuchte die politischen Strukturen von Österreich grundsätzlich umzustrukturieren, womit er die Sympathie und den Hass der verschiedenen Richtungen auslöste. Der anfangs in der Rechtsmitte stehende, als „homo novus” angesehene Dollfuß versuchte aus der Ersten Österreichischen Republik eine autoritäre Ordnung zu „zaubern”, mit einer Unerbittlichkeit und Entschlossenheit, die seine engere und weitere Umgebung gleichermaßen bestürzte.
Österreich in der Krise
Die große Weltwirtschaftskrise induzierte in den verschiedenen Regionen Europas voneinander abweichende Reaktionen. Der Demokratie in Österreich, die sich noch im „Säuglingsalter” befand, fehlten die Erfahrungen eines Nationalstaates, sowie wurde das innere politische Leben auch über die Wirtschaftskrise hinaus beinahe von der Geburt des Staates an von dem Gegenüberstehen und den Zusammenschlägen der sich an Parteien knüpfenden halbmilitärischen Organisationen beschattet. Die Fachliteratur von heute bezeichnet die Geschichte der 20er Jahre mit Vorliebe als eine Kette von Straßenkämpfen. Den Leitern der sozialdemokratischen und christlich-sozialistischen Partei fehlten oft das politische Realitätsgefühl und der klare Blick. Die beiden Parteien konnten manchmal der Verführung der Macht nicht widerstehen (Schutzbund, Heimwehr) und riefen die halbmilitärischen Organisationen zur „Dämpfung” der Spannungen zu Hilfe. Scheidle, der ehemalige Leiter der Heimwehr formulierte diese Problematik treffend: „Wir haben eine sehr schwierige Aufgabe zu lösen: wir müssen unsere Männer fortlaufend warm halten, sie aber gleichzeitig auch abkühlen...”2 Die andauernde Spannung und die Gefahr einer Eskalation wurden Teile des österreichischen Alltags. Die Erste Republik geriet ab Ende der 20er Jahre in den Wirbel der berufsständischen und autoritären Tendenzen. Die Motive und die Notwendigkeit dieser autoritär-etatistischen Welle formulierte Dollfuß selbst in seiner Programmrede auf dem Wiener Trabenplatz mit der notwendigen Klarheit (Wien, September 1933): „Das Parlament schaltete sich selbst aus, infolge seiner eigenen Demagogie und seines Formalismus wurde es gewichtlos. So ein Parlament, so eine Volksvertretung, so eine Führung unseres Volkes dürfen nicht wiederkehren... die Zeit des Wiederaufbaus wird beginnen! Ich wiederhole: die Zeit des liberalistisch-kapitalistischen Denkens, das liberalistisch-kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem sind vorbei. Die Zeit der Herrschaft der Parteien ist abgelaufen, wir weisen die Herrschaft des Terrors und der Gleichförmigkeit zurück. Wir wollen ein soziales, christliches, deutsches Österreich mit einer starken, unabhängigen Führung...”3 Dollfuß sprach nicht nur über die neue Machtausübung und Einrichtung, sondern formulierte zugleich das Programm der Daseinsberechtigung eines unabhängigen Österreichs.
Lehrjahre und Eindrücke
In fast allen Momenten der Entscheidungen des Kanzlers sind seine Abstammung, seine Lehrjahre und die graduelle Umwandlung seiner Denkweise zu ertappen. Engelbert Dollfuß wurde am 4. Oktober 1892 in Groß-Maierhof, im nördlichen Österreich geboren. Die Bauernfamilie lebte unter bescheidenen materiellen Verhältnissen, trotzdem konnte der Sohn mit einem Stipendium im Oberhollabrunner Internat seine Studien beginnen. Er hatte besonders für die Philosophie, Soziologie, die Künste und die Politologie Interesse. Im Jahre 1913 studierte er nach dem Abitur in Wien Jura, obwohl er sich auch vom Pfarrerberuf angezogen fühlte. Er begrüßte begeistert den Ausbruch des Krieges und unterbrach natürlich auch seine Studien. Trotz seiner Anstrengungen kam er „erst 1915 an die Front. Bei der ersten Musterung wies ihn der Militärarzt wegen seines kleinen Wuchses zurück: „Mein lieber Sohn, Sie haben noch Zeit genug zu wachsen, der Krieg dauert noch eine Weile.”4 Dollfuß erschien bald wieder bei der Musterung und obwohl er auf denselben Arzt traf, wurde er wegen seinem Eifer und seiner Willenskraft als tauglich qualifiziert. Er erwies sich als begabter Soldat und wurde mehrmals ausgezeichnet. Er rüstete enttäuscht als Oberleutnant ab. Den Zerfall der Monarchie erlebte er als ein tragisches Ereignis.
Am Ende des Krieges sagte er einem seiner Freunde: „... ich bleibe sicherlich nicht bei der Armee. Österreich braucht auch Zivilisten. Mein Plan ist, dass ich meine Studien beende, dann hätte ich auch große Lust politische Kariere zu machen. Die Politik darf nicht auf Irrwege geraten, die von der Front heimkehrenden Männer müssen darauf achten.”5 Die Berufung und Besessenheit von Dollfuß, die für seine Jugend charakteristisch waren, können nicht bezweifelt werden. Er setzte seine Jura- und Wirtschaftsstudien in Berlin fort. Dort lernte er Alwine Glinke kennen, die er am Silvester 1921 heiratete. Sie hatten drei Kinder.
Karl Sonnenschein machte einen großen Einfluss auf Dollfuß, der im letzten Jahr seiner Studien war. Sonnenschein vervolkstümlichte in einer Menge von Vorträgen und Artikeln die sozialen Lehren sowie die Vorstellungen bezüglich des berufsständischen Staates vom Papst XIII. Leo. Dollfuß wurde neben Sonnenschein von den Seminaren von Werner Sombart6 mitgerissen7. Er fand in der Deutschen Gemeinschaft, die sowohl in Wien als auch in Berlin eine bedeutende Ausstrahlung hatte, auf Seelenverwandten, er fühlte sich der für die erwähnte Organisation charakteristischen „großdeutschen” Denkweise angebunden. Diese Organisation erinnerte in den Äußerlichkeiten und in der Eigenart an die Geschlossenheit der Freimaurerlogen. Unter den Mitgliedern waren die geistige Freischaffenden und die Studenten in Mehrheit. Das Programm der geheimen Gesellschaft8 drehte sich um die Verbreitung ”der deutschen Berufung”, den Kampf gegen die rote Gefahr und den Bolschewismus sowie um den Anspruch auf relevante staatliche Ämter und Positionen. Othmar Spann, der an den Treffen auch teilgenommen hatte, formulierte schon zu dieser Zeit seine Gedanken über den berufsständischen Staat9 in Form eines Buches. Diese Gedanken standen später im Mittelpunkt des politischen Glaubens von Dollfuß, während er mit der Idee des Pangermanismus brach, die auch von Spann vertreten wurde.
Der Weg zur Macht
1923 wurde Dollfuß, nachdem er seine Studien an der Universität beendet hatte, Sekretär der Bauernkammer von Niederösterreich. Unter den Aufgaben der Kammer waren die Verbesserung der Lebensumstände des Bauerntums sowie die Vertretung ihrer Interessen. Dollfuß wurde 1927 Direktor der Österreichischen Agrarkammer mit Sitz in Wien. Er wurde 1930 zum Experten des Agrarausschusses des Völkerbundes ernannt. Zu dieser Zeit zählte er bereits als erfolgreicher politischer und wirtschaftlicher Fachmann für Krisensituationen. Nach seinem personellen Geständnis stand er der Österreichischen Christlich-Sozialen Partei am nahesten. Im Jahre 1930 gelangte er an die Spitze der Österreichischen Staatsbahnen, wo zu seinen wichtigsten Aufgaben die „Reinigung” der Bahnen vom sozialdemokratischen Einfluss sowie der Austausch der Führungsbeamten mit regierungstreuen Kadern zählten. Seine Position als Vorsitzender hat er bis zum März 1931., als er der Regierung beigetreten ist, beibehalten (er wurde Agrarminister). Als Agrarexperte lernte Dollfuß nach eigenem Geständnis das „alte”, ländliche Gesicht von Österreich, die Gesellschaft und die kleinen Gemeinschaften kennen, aus denen ein „neues” Land geschaffen werden kann. Er verachtete die Institutionen des Parlamentarismus, da nach seiner Überzeugung „dies” weder in Österreich noch in West-Europa funktionsfähig war. Aus den vorigen folgte, dass in seiner Auffassung „Österreich das Pfand und die Hoffnung des christlichen Wiederaufbaus in der westlichen Welt darstellt”10, so konnten das Fortbestehen der österreichischen Nation sowie der Ausbau des „neuen” Systems nur und ausschließlich durch die revolutionäre Umorganisierung der Machtstrukturen gesichert werden.
Die neue politische Generation
Die als Seipel-„Junge” genannte Garnitur der Politiker, an ihrer Spitze mit Engelbert Dollfuß glaubte an die Kraft der Revolution, „bevorzugte” die organische Entwicklung und stellten sich die Zukunft Österreichs in den Rahmen des selbständigen staatlichen Daseins vor. Sie betrachteten die Sozialdemokratie mit unendlichen Hassgefühlen und den italienischen Faschismus von Mussolini als Vorbild und sprachen über „die Dämmerung des Abendlandes”. Die Dämmerung symbolisierte in diesem Zusammenhang grundsätzlich den Niedergang der europäischen Kultur und setzte ein von sich überzeugtes politisches Selbstbewusstsein sowie eine österreichische Berufung voraus. Die österreichische Berufung wurde als der am meisten authentische politische und historische Gedanke apostrophiert, der ihnen direkt von Gott aufgetragen wurde, dies verlieh also all ihren Taten einen sakralen Charakter. Sie glaubten daran, dass der „Sonnenschein” bei Tagesanbruch „die österreichische Nation” symbolisiert und sie wollten schließlich den Ausbau einer besonderen neuen politischen Struktur im Zeichen der österreichischen Berufung verwirklichen.
Robert Hecht11, der Jurist-Politiker mit jüdischer Herkunft, direkter Mitarbeiter und Berater von Dollfuß, beeinflusste grundsätzlich die Entscheidungen von Dollfuß. Als einer der Verfasser der ständisch-autoritären Verfassung vom Jahre 1934 unterschied Hecht mit Absicht zwischen Österreich, Italien und Deutschland in Hinsicht der Herausbildung der Systeme. Er sagte über die Veränderungen in Österreich folgendes: „...Was immer die autoritäre Regierung veranlasst, kann sie die Tatsache nicht übergehen, dass sie sich aus einer parlamentarischen Regierung stufenweise entwickelt hat. Sie kann keinen politisch-revolutionären Charakter gewinnen, wie in Deutschland das nationalsozialistische oder in Italien das faschistische System, die schon von ihrem Anfang an solchen Charakter haben...”12 Hecht suggerierte, als wäre die autoritäre Regierung, die als Ergebnis der von Dollfuß finalisierten politischen Wende verwirklicht wurde, gezwungen gewesen, ihre angeblichen demokratischen Wurzeln zu berücksichtigen. Er ließ offensichtlich den gewaltsamen Abbau der demokratischen Institutionen der Ersten Republik außer Acht, der die frühere Machtausübung grundsätzlich verändert hatte. Nach unserer Meinung muss man die Eigenart der österreichischen Wende in der Zusammensetzung der Exekutoren suchen, da im Falle Österreichs eigentlich die traditionell als demokratische Gruppierung geltende christlich-soziale Partei mit der Führung von Dollfuß die Wende geleitet hatte. Hecht schrieb im Weiteren über sein „eigenes Kind”, die Vaterländische Front folgendes: „Infolge seiner ganzen Entwicklung und Zusammensetzung wird er seinen österreichischen Vereinscharakter mit einem Kaffeehauskolorit nie verlieren. Es ist völlig ausgeschlossen, dass die christlich-soziale Partei, die Patrioten und die einzelnen Teile der nationalen Front sich darin auflösen würden und aus ihnen eine einzige, einheitlich österreichische, große Volksbewegung herausbildete...”13 Obwohl Hecht als der Begründer der Vaterländischen Front galt (1933), war er selbst skeptisch bezüglich der Wirksamkeit der Organisation, da so eine Massenbewegung, die die einzelnen Parteien ersetzte, in Österreich über keinerlei Tradition verfügte und fremd blieb.
Dollfuß und Schuschnigg
Der Kanzler vertrat natürlicherweise die Lebensfähigkeit des auf lokalen Traditionalismus gebauten Österreichs und dadurch die des österreichischen Patriotismus. Am Anfang ohne Überzeugung, später mit immer größerer Entschlossenheit. Seinen sich aus seinem Körperbau ergebenden Minderwertigkeitskomplex kompensierte er mit Hartnäckigkeit, Ausdauer, Lautheit und eisernem Wille. Er konnte ausgezeichnet mit dem Apparat umgehen und kannte alle Finessen der amtlichen Kommunikation. Mit seinen Mitarbeitern pflegte er eine direkte und vertraute Beziehung zu halten. Viele bekleideten ihn mit Symbolen wie „Freund des Volkes” und „unser Junge”.
Dollfuß wuchs stufenweise in die Rolle des Führers eines autoritären Systems hinein. Laut Schuschnigg wollte Dollfuß Revolution machen ohne selbst ein Revolutionär zu sein, er verfügte über kein konkretes Programm, seine Entscheidungen waren oft instinktiv und er wurde eigentlich nur dann zu einem wahren österreichischen Patriot, „zum Verteidiger des zum Land gewordenen Paradoxon”14, als das nationalsozialistische Deutschland schon das Dasein von Österreich bedrohte.15 Dollfuß akzeptierte die Schicksalsgemeinschaft von Österreich und Deutschland, hielt aber die Vereinigung der zwei Länder für unmöglich, da laut seinem Standpunkt Österreich im Laufe der Geschichte von Schritt zu Schritt vollmündig wurde und auf die selbständige Staatlichkeit Anspruch machte. Der Kanzler fasste die vorigen Gedanken in einer seiner Reden zusammen: „Hätte mein Bruder einen großen Besitz und ich nur einen kleinen Hof, wäre für mich doch wünschenswert in meinem kleinen Besitz unabhängig zu bleiben, als Diener zu meinem Bruder zu gehen.”16
Zwischen dem Faschismus und dem Nationalsozialismus
Anstatt die Geschichte der Periode vom Mai 1932 und Juli 1934 durchzublicken scheint es angebracht, die Umstände des Systemwechsels, d.h. ”den Staatsstreich in kleinen Schritten”17, wie dies von den Teilnehmenden und von Dollfuß selber genannt wurde, unter die Lupe zu nehmen. Die Wahl der regierenden politischen Elite (die Führung der Österreichischen Christlich-Sozialen Partei) fiel absichtlich auf Dollfuß, der geeignet zu sein schien, um die vermeintliche Links- und die reale Nazigefahr abzuwehren, die Wirtschaft zu stärken und die Exekutive Macht zu bekräftigen. In seiner Einsetzungsrede (am 20. Mai 1932) formulierte er seine Gedanken über die Zukunft Österreichs folgendermaßen: „Ich bin davon überzeugt, dass wir ein lebensfähiges Land sind, und in dieser tiefen Überzeugung übernehme ich die Führung der Staatsangelegenheiten. Der Weg, der ins Freie führt ist hart und uneben. Wir sind tief überzeugt von der Zukunft unseres Volkes”18
In den 27 Monaten seiner Kanzlerzeit finden wir ein Konglomerat der instinktiven und bewussten Entscheidungen. Er war trotz seiner Gefühle bereit, mit der anderen bedeutenden politischen Kraft Österreichs, mit den Sozialdemokraten zu verhandeln19, er hatte keine Sympathie für den Nationalsozialismus, neigte jedoch zur Annäherung, er lehnte grundsätzlich die Anwendung der Gewalt in der politischen Öffentlichkeit ab, akzeptierte aber sie im Notfall (12. Februar 1934).20 Er hatte eine enge Verbindung zu Ignaz Seipel.21
Seine persönliche Zuneigung zu den autoritären Methoden sorgte dafür, dass er sich zu dem Italien-Flügel der politischen Einfluss fordernden Heimwehr näherte, der die Selbständigkeit Österreichs akzeptiert hätte. In Übereinstimmung mit Seipel sah er in der Heimwehr eine nötige Organisation, die „die Demokratie von der Herrschung der Parteien befreien wollte”.22 Diese Absichten zielten eindeutig darauf hin, die Heimwehr salonfähig zu machen und sicherten damit, dass die Programme, die eine enge Verwandtschaft mit dem Gedankensystem des italienischen Faschismus aufwiesen, einen Platz in den Vorstellungen von Dollfuß bekamen. All dies wurde durch die persönlichen Treffen von Dollfuß und Mussolini weiter gestärkt. Die sich selbst heimatrettend nennenden rechtsradikalen paramilitärischen Organisationen, aber besonders die Heimwehr bedeuteten für die Reformer in der Periode der Herausbildung des autoritären, berufsständische und diktatorische Züge aufweisenden Systems in Österreich eine notwendige innenpolitische und militärische Unterstützung. Ihre weitere Tätigkeit als autonomer Schutzverein und ihre politische Arbeit (dies wurde in erster Linie in der Machtteilung zwischen Dollfuß-Schussnigg sowie Starhemberg deutlich) wurde jedoch nach der Stabilisierung des den südeuropäischen faschistischen Staaten ähnlichen „Ständestaates” in mehrerer Hinsicht störend und unerwünscht für das System. Da die Heimwehr als Schutzverein innerhalb der Vaterländischen Front seit Anfang 1935 systematisch zurückgedrängt wurde, machten die veränderten außenpolitischen Umstände seit dem Frühling 1936 die endgültige Ausschaltung der „Heimatrettenden” aus den politischen Machtpositionen (sowohl aus der Vaterländischen Front als auch aus der Regierung) nötig. Diese reibungslose Ausschaltung der Heimwehr aus der Macht ist ein Beweis dafür, dass die rechtsradikale „heimatrettende” Bewegung mangels einer tatsächlichen politischen Unabhängigkeit immer abhängig von den Absichten der Machthabenden war (in erster Linie abhängig von der Politik von Dollfuß und Schussnigg), und dass ihre Bedeutung erst dann wuchs, als die Verwendung und Demonstrierung von Gewalt als notwendig erschien, zum Beispiel im März 1933 als das Parlament ausgeschaltet wurde und besonders am 12. Februar 1934.
Die Vertreter des Gedankensystems der „wahrhaften Demokratie” lehnten die Existenzberechtigung des Mehrparteiensystems ab, da sie in diesem eine Möglichkeit sahen, wo die Parteien und die sich um sie gruppierenden Interessengruppen einen ausschließlichen Einfluss geltend machen könnten. Sie betrachteten das Parlament als Spielball der jetzt erwähnten Interessengruppen und zeichneten demgegenüber das nebelhafte Bild des verantwortungsbewussten und verpflichteten Führers auf. Es gab einige Momente, die den stufenweisen Ausbau der autoritären Machtausübung von Dollfuß unterstützten und motivierten.
Für Österreich schien es mitten in der Weltwirtschaftskrise unvermeidlich, neue Darlehen aufzunehmen23. Die westlichen Mächte und besonders Frankreich knüpften die Gewährung dieses Darlehens an strengen Bedingungen, nämlich an die Ablehnung des Anschlusses des Weiteren an die Ablehnung der österreichisch-deutschen Zollunionspläne. Im Laufe der Ratifizierung des Darlehens im Parlament wurde es klar, dass Dollfuß mit der Annahme der Darlehensbedingung mit den Großdeutschen, mit den Sozialdemokraten, mit dem Landbund und nicht zuletzt mit den Nationalsozialisten in Konflikt geraten wird, wobei letztere zwar noch nicht über eine parlamentarische Vertretung verfügten, jedoch in den Ländern24, und in der Beeinflussung der Straße und der öffentlichen Meinung bedeutende Positionen hatten. Die ersten Monate seiner Kanzlerzeit wurden von dem heftigen Kampf mit den oben erwähnten Richtungen bestimmt. Dies verstärkte sein Misstrauen gegen das Parlament und generell gegen die Parteien und sorgte dafür, dass Dollfuß sich in Richtung eines autoritären Aktionsprogramms bewegte, das die Institution des Parlamentarismus aufgehoben und dieses durch eine starke Exekutivmacht ersetzt hätte. Die sozialdemokratische Presse verlieh Dollfuß in dieser Periode den Spottnamen „Millimetternich”, was einerseits auf seinen kleinen Wuchs hinwies, auf der anderen Seite bedeutete aber, dass auch auf der linken Seite die politischen Fähigkeiten anerkannt wurden. Dieses distanzierende Anfangsvertrauen artete jedoch bald zu einer unauflösbaren Feindseligkeit aus.
Ein Ergänzungsparagraph der demokratischen Verfassung von 1920, der noch als Erbe der Monarchie ratifiziert wurde, wäre letztendlich geeignet gewesen, den Schein der Gesetzmäßigkeit zu bewahren. Das „Ermächtigungsgesetz zu der Kriegswirtschaft” von 1917 gewährte der Regierung in besonderen Situationen besondere Rechte, damit diese imstande ist, die wirtschaftliche- bzw. die politische Krise zu lösen und eine Möglichkeit hat, die natürlichen Kontrollen des Parlaments außer Acht zu lassen. Die Sozialdemokraten lehnten nicht eindeutig die Anwendung des Paragraphen ab, akzeptierten aber nicht die Beschränkung der politischen Rechte als Folge des Ermächtigungsgesetzes.
Zusammenfassend können wir feststellen, dass es das spannungsgeladene politische Klima der Ersten Republik, der Streit der beiden großen Parteien, die schwere Wirtschaftskrise, die immer stärker gewordene Gefahr von außen, die innerhalb der Christlich-Sozialen Partei eine Wende fordernde Gruppe sowie die persönliche politische Überzeugung von Engelbert Dollfuß die Ursachen für die Einführung der autoritären Regierung nach dem 4. März 1933 waren. Dies führte des Weiteren zu der Zerstörung der demokratischen Institutionen der Ersten Republik und zum Verbot der nationalsozialistischen (Juli 1933) und später der Sozialdemokratischen Partei (Februar 1934). Die Zerschlagung der Linken machte notwendigerweise die Schaffung der nationalen Einheit unmöglich, die Zurückdrängung der österreichischen Nationalsozialisten in die Illegalität machte das nationalsozialistische Deutschland und dessen österreichischen Anhänger zum unerbittlichen und verhängnisvollen Feind von Dollfuß.
Notes
1
Außer Engelbert Dollfuß befanden sich vermutlich seine zwei Mitarbeiter und der Vizekanzler Emil Frey im Amtsgebäude. Dollfuß, der den bevorstehenden Putschversuch spürte, wollte die folgende Sitzung des Ministerrates anderswo veranstalten. Die Rolle von Emil Frey ist bis zu unseren Tagen umstritten. Einerseits machte er den Eindruck, als würde er sich mit den Teilnehmern des Putsches vertragen und sie unterstützen, andererseits grenzte er sich nach den Ereignissen scharf von den Teilnehmern ab. Obwohl die Personen, die im nationalsozialistischen Putschversuch teilgenommen haben, voneinander abweichende Aussagen machten, scheint es doch festzustehen, dass der Kanzler von zwei Schüssen getroffen wurde. Die Angreifer erlaubten weder die ärztliche Versorgung der Wunden, noch erfüllten sie den letzten Wunsch des sterbenden Dollfuß, dass man einen Priester zu ihm rufen lasse. Siehe dazu noch: Jagschitz, Gerhard: Der Putsch. Die Nationalsozialisten 1934 in Österreich. Graz, 1976.
2
Steidle zitiert von: Kurt Schuschnigg: Im Kamp gegen Hitler. Die Überwindung der Anschlussidee. Wien, 1969. S82.
3
Dollfuß zitiert von: Manfred Jochum: Die Erste Republik in Dokumenten und Bildern. Wien, 1983. S.177
4
Gordon-Brook, Shepherd: Engelbert Dollfuß. Wien, 1961. S.31.
5
Gordon-Brook, Shepherd: Engelbert Dollfuß. Wien, 1961. S. 42.
6
Sombart, Werner: Österreichs Schicksalsweg. Wien, 1934.
7
Auf diesen Seminaren knüpfte er eine enge Freundschaft mit dem späteren deutschen Kanzler und Politiker der Zentralen Partei, Brüning.
8
Rosar, Wolfgang: Deutsche Gemeinschaft. Wien, 1971. S.10–25.
9
Spann, Othmar: Der wahre Staat. Wien, 1821. bzw. er stellte auch ein Kollegheft für die
Universität zusammen, das in der Zeit sehr populär war: Gesellschaftslehre. Leipzig, 1923.
10
Dollfuß zitiert von: Helmut Andics: Der Staat, den keiner wollte. Wien, 1981.S.173.
11
Siehe darüber: Huemer, Peter: Sektionschef Dr. Robert Hecht und die Entstehung der ständisch-autoritären Verfassung in Österreich. Dissertation. Wien, 1968.
12
Robert Hecht wird von Manfred Jochum in seiner eigenen Arbeit zitiert: Die Erste Republik in Dokumenten und Bildern. Wien, 1983.S.75.
13
Ebd. S.179.
14
Diese Formulierung aus der Epoche drückt treffend die Dilemmas von Österreich und die dort lebenden Bürger aus. Zitiert von: Weigel, Hans in seinem Buch mit dem Titel O du mein Österreich, Stuttgart, 1956.S.205.
15
Meyels, O Lucian: Der Austrofaschismus. Wien, 1992.S.41–45.
16
Dollfuß an Österreich. Eines Mannes Wort und Ziel. Hrsg. von Edmund Weber. Wien, 1935. S.71.
17
Zitiert von: Dachs, Herbert: Parteien und Parteisystem in Österreich, in: red: Wehling, Georg-Hans: Österreich. Köln, 1988. S. 110.
18
Zitiert: Reichspost. 39. Jg. 04.09.1932. S. 1.
19
Görlich, E. Joseph-Romanik, Felix: Geschichte Österreichs. Wien, 1995. 532–533.
20
Messner, Johannes: Engelbert Dollfuß. Wien, 1935.
21
Siehe dazu: Bauer, Rolf: Österreich. Ein Jahrtausend Geschichte im Herzen Europas. München, 1994. S. 400–408.
22
Zitat aus der Rede von Ignaz Seipel am 15. Juli 1929 in Tübingen, am Jahrestag der zwei Jahre vorher, am 15. Juli 1927 in Wien stattgefundenen Kundgebungen. Zitiert von Felix Kreisler in: Von der Revolution zur Annexion. Wien, 1970. S. 160.
23
Über die Vorgeschichte und Folgen des Darlehens am 15. Juli 1932 in Lausanne siehe ausführlicher bei Siegfried Mattl: Die Finanzdiktatur. Wirtschaftspolitik in Österreich 1933–1938. In: Emerich Talos. (Hrsg.): Austrofaschismus. Wien, 1988. S. 133–161.
24
Die Landwahlen im April 1932 zeigten einen wesentlichen Vorstoß der österreichischen Nazis und zwar entscheidend zum Nachteil der Christlich-Sozialen und der Großdeutschen Partei. Die Ergebnisse beschleunigten und verursachten zum Teil die Ernennung Dollfuß’ zum Kanzler.