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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:113–126.

ANDREAS OPLATKA

„Bashing Switzerland”

Anmerkungen zu einer Kontroverse

 

Zu der Zeit, da der Verfasser dieser Zeilen über das Thema „Geldforderungen internationaler jüdischer Organisationen gegenüber der Schweiz und ihren Banken” im Budapester Europa-Institut einen Vortrag hielt, war der Gegenstand noch aktuell. Die Kontroverse ist seither mit einem Vergleich beigelegt worden, der die zwei Schweizer Großbanken 1,25 Milliarden Dollar teuer zu stehen kommt. Nachwehen des Konflikts, um den es sich in der Tat handelte, sind, zumal in der schweizerischen Öffentlichkeit, heute noch spürbar, doch die schnell wechselnde internationale Nachrichtenszene hat die damaligen Schlagzeilen schon längst gegen andere ausgetauscht.

Zum Fall gibt es in der Schweiz mittlerweile eine umfangreiche Literatur; in Wirklichkeit gab es sie schon lange zuvor, ohne dass das Ausland sie zur Kenntnis genommen hätte. Es kann hier mithin in keiner Weise darum gehen, Vollständigkeit anzustreben. Festgehalten werden im Folgenden lediglich einige Anmerkungen. Der Standort des Schreibenden bedarf dabei vielleicht einer vorangestellten, skeptisch-selbstkritischen Erläuterung. Es soll nicht verheimlicht werden, dass auf den hier folgenden Seiten die schweizerische Perspektive vorherrscht. Dies aus dem Bedürfnis, für einmal Argumente ins Feld zu führen, die in der mehrheitlich von amerikanischen Nachrichtenagenturen gefütterten Weltpresse kaum je Berücksichtigung fanden. So boten seinerzeit auch die ungarischen Medien ein völlig einseitiges Bild der Auseinandersetzung; sie übernahmen Tag für Tag die aus amerikanischen Quellen stammenden Meldungen, und kaum ein Journalist in Ungarn kam auf die Idee, sich in die – schließlich nicht so weit entfernte – Schweiz zu begeben, um sich auch über den dort bestehenden Standpunkt zu informieren.

Nun bin ich aber jemand, der, in Budapest geboren, als Halbwüchsiger in die Schweiz gekommen und dort aufgewachsen ist und der als sogenannter Wahlschweizer vermutlich von der Neigung nicht frei sein kann, seine zweite Heimat über Gebühr, mit einer kompensierenden Unbedingtheit zu verteidigen. Dem mag so sein. Vermerken kann ich dazu nur, dass ich mir bei meinen Wertungen dieser Gefahr zumindest bewusst bin. Und hinzufügen lässt sich immerhin, dass die Sicht des Zugezogenen vielleicht auch die eine oder andere Erkenntnis ermöglicht, die sich echten Einheimischen nicht sogleich erschließen.

Und damit zur Sache. Im wesentlichen handelte es sich um drei Punkte, in denen gegen die Schweiz Anklage erhoben wurde: Ihre Banken hätten sich das bei ihnen deponierte Geld von Opfern des Holocaust angeeignet; die Nationalbank sei eine Drehscheibe des von Nazideutschland getätigten Goldhandels gewesen und die Schweiz habe mit Deutschland Handel getrieben; und schließlich seien an der Schweizer Grenze Tausende jüdischer Flüchtlinge zurückgewiesen worden. Die Vorwürfe sollen hier in dieser Reihenfolge behandelt werden. Zum einen geht es mir dabei darum, gewisse Fakten in Erinnerung zu rufen, und zum anderen um den Versuch, die Fakten zu deuten und anhand der Beispiele auch danach zu fragen, inwiefern der Historiker späterer Generationen sich auf moralische Urteile einlassen soll und darf.

Die Banken also und ihre „schlafenden Konten”. Der Tatbestand an sich ist unbestritten: Vor dem Zweiten Weltkrieg in Schweizer Banken deponierte Guthaben etlicher europäischer Juden sind nie mehr abgeholt worden, falls der Eigentümer ein Opfer von Hitlers „Endlösung” geworden war. Nachkommen der Ermordeten, die auf die eine oder andere Art vom Vorhandensein des Geldes Kenntnis hatten, sind in den Nachkriegsjahren von den Banken abgewiesen worden, sofern sie nicht imstande waren, die genauen Nachweise über das Konto und über die eigene Verfügungs-Berechtigung vorzulegen. Dies war in vielen Fällen schon darum nicht möglich, weil die fraglichen Konto-Inhaber – zu einem großen Teil am Vorabend des Weltkriegs in Deutschland bereits bedrängte Juden, die ihr Vermögen auf diese Weise gegen die deutschen Devisenvorschriften ins Ausland retteten –, ihr Konto bei der Schweizer Bank aus naheliegenden Gründen nicht mit Namen und Adresse zeichneten, sondern lediglich eine Rubrik-Nummer oder ein Pseudonym wählten. Wurde der Inhaber von den Nazis umgebracht, so war die Bezeichnung eben niemandem mehr bekannt. Was beispielsweise hätten die Schweizer Banken mit einer Auskunft beginnen sollen – der Fall ist echt –, wenn sich der Neffe eines Ermordeten mit der Legitimierung meldete, sein Onkel habe in Auschwitz kurz vor seinem Tod einem Mithäftling anvertraut, dass er „Geld in der Schweiz” habe?

Sodann wäre auf einen Aspekt hinzuweisen, der außerhalb der Schweiz gewöhnlich nicht in Erwägung gezogen wird. Darauf nämlich, dass diejenigen, die in den dreißiger Jahren oder unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg noch imstande waren, Geldüberweisungen zu tätigen und ihr Vermögen oder Teile davon ins Ausland zu retten, die Schweiz nicht unbedingt als einen sicheren Hort ansehen konnten. Die heutige Vorstellung, die Schweiz habe den Weltkrieg unversehrt überlebt, folglich müsse sie den damaligen Europäern auch als eine Insel des immer währenden Friedens erschienen sein, ist eine typische unhistorische Rückprojizierung. Im Gegenteil, weder um die Schweiz noch in der Schweiz selber konnte man insbesondere in den Jahren 1939 bis 1943 voraussagen, dass das kleine Land den Krieg ohne Schaden und ohne deutsche Besetzung überstehen werde. In dieser Lage transferierten denn auch sehr viele Schweizer selber und gewiss ebenso viele europäische Juden ihr Geld weiter, in die Vereinigten Staaten. Die auf solche Weise nach Amerika gebrachten Guthaben mussten nach Kriegsschluss Fall für Fall mit Eigentümer-Nachweisen deblockiert werden, weil die amerikanischen Behörden sie – aus Angst, es könnte sich um Nazi-Fluchtgelder handeln – vom Sommer 1941 an mit Beschlag belegt hatten. Für zahlreiche solche aus der Schweiz nach Amerika transferierte Konten, die oft unter einem Kennwort als Sammelkonten mehreren Besitzern gehörten, meldeten sich nach dem Krieg keine Eigentümer mehr, weil sie nicht mehr am Leben waren. Die Guthaben fielen gemäß der amerikanischen Gesetzgebung nach zehn Jahren an den Staat. Was man jetzt, in den neunziger Jahren, in der Schweiz suchte, konnte auch in Amerika verschollen sein.

Die schweizerischen Behörden hatten die Banken bereits in den frühen sechziger Jahren zu einer Suche nach besitzlosen Geldern verpflichtet, und die Aktion wurde, diesmal mit breiteren Auflagen, nach dem heftigen Auftritt jüdischer Organisationen in Amerika in den neunziger Jahren wiederholt. Sie förderte in der Größenordnung 80 Millionen Franken zu Tage, eine beträchtliche Summe, doch wesentlich weniger als die mehreren Milliarden, von denen in den ersten Verdächtigungen die Rede gewesen war. Dazu kam – dies zeigte sich bei der Veröffentlichung von Namenslisten –, dass die schlafenden Konten nur zu einem kleineren Teil in einen Zusammenhang mit Opfern des Holocaust gebracht werden konnten. Von rund 6,8 Millionen Konten, die es in den Kriegsjahren auf Schweizer Banken gegeben hatte, wurden für 4,1 Millionen Belege gefunden, obwohl das schweizerische Gesetz die Banken zur Aufbewahrung ihrer Akten nur während zehn Jahren nach der Schließung der jeweiligen Konten verpflichtet. Rechnen wir die Ablösesumme, welche die zwei Großbanken – im Interesse der Erhaltung ihres Amerika-Geschäfts – schließlich auf sich nahmen, nicht auf, und lassen wir die in Hunderte von Millionen gehenden Kosten der unter Zwang unternommenen Suche beiseite. Und klammern wir ebenso den Streit aus, welcher der Frage gilt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die unter nicht mehr bekannten Umständen geschlossenen Konten mit Opfern des Holocaust in Zusammenhang gebracht werden können. Halten wir hingegen fest, dass der vom ehemaligen Vorsitzenden der US-Nationalbank Paul Volcker präsidierte internationale Ausschuss, dessen Kontrolle die Schweizer Finanzinstitute sich unterworfen hatten, Anfang 2000 in seinem Schlussbericht zum Ergebnis kam, die Schweizer Banken hätten Vermögenswerte von Holocaust-Opfern weder diskriminiert noch veruntreut, und ebenso wenig seien Akten systematisch vernichtet worden.

Worin also bestand trotzdem das – in der Schweiz selber allgemein zugegebene – Fehlverhalten der Banken? Man sprach auf schweizerischer Seite wohl von Erpressung. Man musste aber hinzufügen, dass eine solche Aktion nur gegen jemanden geführt werden kann, der eben erpressbar ist. Was also lieferte der anderen Seite den Grund oder Vorwand zu ihrer Vorgehensweise? Die summarische Antwort wäre die, dass die Banken das Problem der schlafenden Konten von Holocaust-Opfern zwar kannten, es aber zu ignorieren und die Lösung der Zeit anzuvertrauen suchten. Zur Antwort gehört sodann unbedingt der Hinweis auf den herzlos bürokratischen und leider oft überheblichen Ton, in dem subalterne Bankangestellte die Nachkommen von Opfern abwiesen.

Vielleicht eignet sich gerade ein krasses, vielzitiertes Beispiel zur Erklärung. Mitgliedern von Familien, die nach ihren Guthaben suchten, wurde an Bankschaltern wiederholt die Frage gestellt, ob sie mit einem Totenschein belegen könnten, dass der ursprüngliche Eigentümer des deponierten Geldes wirklich gestorben sei. Wir wissen: Die Mörder in Auschwitz stellten keine Totenscheine aus. Dieses Verhalten machte unendlich viel böses Blut und war zu einem guten Teil für die späteren Geschehnisse verantwortlich. Freilich, die Geldinstitute verteidigten das Bankgeheimnis, und sie wehrten sich gegen eine der meistgefürchteten Möglichkeiten: dagegen, dass jemand sich als Erbe vorstellt und unbefugt ein Guthaben abhebt – mit der Folge, dass später ein anderes Familienmitglied das Geld für sich beansprucht und wegen dessen anderweitiger Auszahlung gegen die Bank einen Prozess anstrengt. So schwer eine Lösung selbst aus heutiger Perspektive noch anmutet, die Banken ließen es jedenfalls an Phantasie fehlen, suchten nach keiner umfassenden Regelung der Frage und keinem Gesprächspartner auf Seiten der jüdischen Gemeinschaften, sondern verhielten sich passiv und handelten, wie sie sich guten Gewissens sagten, strikt nach dem Gesetz.

Doch diese Gesetze, auf die sich gewissenhafte Beamte zu ihrer eigenen Entlastung beriefen, stammten aus einer Zeit, in der sich niemand hatte vorstellen können, dass eine bedeutende Gruppe der Bankkunden einem Massenmord zum Opfer fällt. Mit derartigem hatte keine friedliche Legislation gerechnet, und die Direktionen der Schweizer Banken begriffen offensichtlich nicht, dass sie am 8. Mai 1945 nicht dort weitermachen konnten und nicht mehr in der gleichen Welt lebten, die bis zum 1. September 1939 bestanden hatte. Es gehört nun einmal tatsächlich zu einer friedlichen bürgerlichen Normalität, dass bei einem Todesfall ein Arzt einen Totenschein ausstellt, der sich am Bankschalter vorlegen lässt. Doch in einem Europa, in dem in Vernichtungslagern Millionen ermordet worden waren, kehrte die einstige friedliche Normalität auch nach dem Frühjahr 1945 nicht mehr wieder. Die Banken verkannten die Tragödie des europäischen Judentums und nahmen nicht zur Kenntnis, dass die außerordentliche historische Situation auch von ihnen selber eine außerordentliche Handlungsweise verlangt hätte. Dafür war jetzt, Jahrzehnte später, ein hoher Preis zu bezahlen.

Bleibt die Frage: Warum? Den Ansatz einer Erklärung gibt, wie mir scheint, der grosse Schweizer Germanist Karl Schmid in seinem bereits in den fünfziger Jahren erschienenen Aufsatz „Versuch über die schweizerische Nationalität”. Schmid spricht darin von der „Schicksalslosigkeit” der Schweiz, und nennt als Gegenbeispiele vergleichbar kleine Länder wie Finnland und Ungarn, die am Weltgeschehen auf eine tragische Weise Anteil hatten. Dass die Schweiz außerhalb des internationalen Geschehens stehen durfte und dessen zerstörerische Wirkung nicht erlitt, verdankt sie ihrer geschickt angewandten Neutralitätspolitik. Sie bescherte dem Land Sicherheit und Wohlstand, doch auch eine Abgeschlossenheit und – als Wirkung der spezifischen, eigenen Geschichte – einen mangelnden Sinn für all die Dramen, die sich außerhalb der Landesgrenzen abspielten. Der Befund ist heute, inmitten eines Überangebots an Kommunikation, vermutlich nicht mehr voll gültig. Vor einem halben Jahrhundert, am Ende des letzten Weltkriegs, mochte er es aber sein und war als Phänomen vermutlich verantwortlich für die Verhaltensweise der Banken.

Der zweite Anklagepunkt betraf den Goldhandel und den Warenaustausch mit dem Dritten Reich allgemein. Zu der Gold-Frage liegt mittlerweile der im Mai 1998 publizierte Bericht der Unabhängigen Expertenkommission vor, einer von der Schweizer Regierung eingesetzten Gruppe von einheimischen und ausländischen Historikern. Ihnen war als Reaktion auf die Angriffe gegen die Schweiz die Aufgabe anvertraut worden, über die umstrittenen Kapitel der Schweizergeschichte in den Jahren des Zweiten Weltkriegs Nachforschungen anzustellen und deren Ergebnisse zu publizieren. In der Kommission fanden zu einem Teil Wissenschaftler Platz, die – und dies gilt auch für die Einheimischen unter ihnen – der Schweiz und ihrem bisher überwiegend geltenden Geschichtsbild in keiner Weise wohlgesinnt sind. Die Schaffung der Expertengruppe stieß denn auch in der Schweiz nicht unbedingt nur auf Zustimmung. Manche fragten sich laut, ob es sinnvoll sei, auf eine feindliche Kampagne von außen so zu reagieren, dass man Experten einsetzt und selber teuer bezahlt, damit sie Material für die Gegner zu Tage fördern. Die schweizerische Öffentlichkeit akzeptierte indessen mehrheitlich die Kommission, und sie bestätigte damit eine landestypische Eigenschaft: den Willen, eine Hausaufgabe, sofern man sie übernommen hat, gründlich und genau zu erledigen. Mittlerweile liegt auch der Bericht der von Professor Jean-François Bergier präsidierten Gruppe über die Behandlung der Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg vor. Darüber wird hier unter Punkt drei näher zu berichten sein.

Der Goldbericht der Kommission bestätigte im wesentlichen bereits bekannte Tatsachen, so auch im Bereich des Goldhandels, der in den Kriegsjahren zwischen Deutschland und der Schweiz getätigt wurde. Das Kapitel erschien auf dem Höhepunkt der gegen die Schweiz geführten Angriffe in der Weltpresse regelmäßig unter der Schlagzeilen-Formulierung „Raubgold”, und die Meinung setzte sich fest, die Schweizer Geldinstitute, insbesondere die Nationalbank, hätten als Komplizen des NS-Staats das von den Nazis den Juden geraubte Gold übernommen. Das Hitler-Regime, so las man nicht selten, habe das so erbeutete Gold „in die Schweiz gerettet”, oder es hieß summarisch, das Gold sei „in die Schweiz geschafft worden”.

Demgegenüber wäre vor allen Dingen einmal festzuhalten, dass die Schweizer Nationalbank – und zu einem wesentlich kleineren Anteil die Geschäftsbanken – das fragliche Gold von den Deutschen für Schweizerfranken gekauft haben. Hinzuweisen ist sodann darauf, dass sich der Ausdruck „Raubgold” in erster Linie auf Gold bezog, welches die Deutschen sich in den Nationalbanken besetzter Staaten angeeignet hatten, und nicht auf konfiszierte jüdische Guthaben oder sogenanntes Opfergold, das von den NS-Schergen in den Todeslagern eingesammelt worden war.

In geraffter, vereinfachter Form die Fakten: Das Deutsche Reich lieferte in die Schweiz für 1,6 bis 1,7 Milliarden Franken Gold an die Schweizer Nationalbank, wovon diese einen Teil im Wert von 1,2 Milliarden Franken kaufte. Der Rest diente dem Handel der Reichsbank mit anderen Zentralbanken und der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Man war sich in der Eidgenossenschaft allerdings bald darüber im Klaren, dass die von Berlin verkaufte Goldmenge schon früh jene Bestände überschritt, über welche Deutschland vor Kriegsbeginn verfügt hatte. Die Schlussfolgerung lag auf der Hand: Es musste sich um kriminell beschafftes Gold handeln. Die Leiter der Schweizer Nationalbank gaben sich dennoch mit beruhigenden Erklärungen ihrer deutschen Kollegen zufrieden – dies trotz Warnungen der Alliierten, die namentlich gegen Kriegsende darauf hinwiesen, sie würden nach dem Friedensschluss die Korrektur der fraglichen Transaktionen verlangen. Man kann der Berner Nationalbank in diesem Sinne zwar nicht den Vorwurf des Raubs, wohl aber den der Hehlerei machen.

Demgegenüber ist die Anklage wegen bewusster Bereicherung an geraubtem jüdischem Vermögen nicht haltbar. Die Bergier-Kommission bestätigte die früheren Feststellungen, wonach nur ein ganz geringer Teil der deutschen Lieferungen Gold solcher Herkunft enthielt, nämlich im Wert von rund 580 000 Franken. Ebenso stellte die Historiker-Gruppe in ihrem Bericht fest, es gebe keinerlei Hinweise, wonach die Verantwortlichen der Schweizer Nationalbank davon Kenntnis hatten, dass Barren mit solchem Gold von der Reichsbank geliefert worden waren. Bei diesem Punkt drängt sich aus menschlicher wie geschichtswissenschaftlicher Perspektive eine Bemerkung auf. Die Schrecken der von den Nazis betriebenen Vernichtungslager sind der Welt in ihrer vollen Wirklichkeit im Frühjahr 1945 bekannt geworden, und unsere Einbildungskraft versagt selbst heute noch – trotz allem gesicherten historischen Wissen –, wenn es darum geht, das Ausmaß der dort begangenen Verbrechen zu ermessen. Wie nun hätten biedere Schweizer Bankbeamte während des Kriegs auf den Gedanken kommen sollen, dass deutsche KZ-Wächter in Vernichtungslagern damit beschäftigt waren, Häftlingen die Eheringe vom Finger zu reißen, und dass Zahnärzte (die einst einen Eid des Hippokrates geleistet hatten), sich in Auschwitz täglich der Aufgabe unterzogen, die Goldkronen aus den Kiefern der umgebrachten Opfer herauszubrechen. Und dass Nazi-Deutschland da eine industrielle Ausbeutung der geschändeten menschlichen Leiber betrieb. Dergleichen hatte damals in der Vorstellung einfach keinen Platz. Wir nun, die es Jahrzehnte später besser wissen, manchmal aber selbst heute noch kaum an derartige Grausamkeiten glauben können, wir sollten uns davor hüten, unsere Kenntnisse in jene Zeit zurückzuprojizieren und damalige Menschen nach diesem Maßstab zu beurteilen.

Doch warum handelten die Verantwortlichen der Schweizer Nationalbank auf die beschriebene Weise? Gewinnsucht, die ihnen in der Kampagne der neunziger Jahre heftig vorgehalten wurde, war kaum im Spiel, denn der Goldhandel mit Drittländern warf, gemessen an seinem Gesamtvolumen, mit rund 18 Millionen Franken einen unbeträchtlichen Gewinn ab. Hingegen war das Edelmetall wegen des in der Schweiz aufrechterhaltenen Goldstandards entscheidend für die Stabilität der Währung, ihm kam im internationalen Zahlungsverkehr wegen der im Krieg eingeschränkten Haltbarkeit der Devisen eine erstrangige Funktion zu, und es diente zur Inflationsbekämpfung, indem sich durch Goldverkauf die Geldmenge reduzieren ließ. Die Schweiz hielt während des Kriegs an der freien Konvertibilität des Frankens fest, und die Schweizer Währung, mit der sich in der ganzen Welt einkaufen ließ, war aus diesem Grund für die Kriegswirtschaft beider Seiten von Interesse. Auch die Alliierten brauchten Schweizerfranken. Allein in den Vereinigten Staaten kaufte die Schweiz Goldbarren für 2,2 Milliarden Franken, in größerer Menge also als von Deutschland.

Die Nationalbank verteidigte somit den Schweizer Finanz- und Werkplatz, suchte das Gleichgewicht der inländischen (Kriegs)-Wirtschaft zu erhalten und auch die Aufwertung der im Ausland begehrten Schweizer Währung zu verhindern. Sie betrieb nicht gerade „business as usual”, denn die äußeren Umstände waren nicht gewöhnlich. Aber sie konzentrierte sich voll auf die Erfordernisse im Inland und nahm deshalb, namentlich gegen das Ende des Kriegs, die Warnungen der Alliierten nicht zu ihrem vollen Nennwert. Die Schweiz und ihre Nationalbank wurden von den Westalliierten nach dem Krieg insofern zur Kasse gebeten, als ihnen nach zähen Verhandlungen in Washington schließlich ein Vertrag auferlegt wurde, demgemäß die schweizerische Seite den Siegermächten Gold im Wert von 250 Millionen Franken übergab. In der Schweiz empfand man diesen auferlegten Zwang mehrheitlich als bitter, trifft es doch, wie schon erwähnt, tatsächlich zu, dass die Nationalbank das fragliche Gold seinerzeit gekauft hatte. Die Alliierten ihrerseits machten dagegen geltend, dass die übergebene Menge nur einen Teil des in die Schweiz gebrachten Raubgoldes ausmachte. Sie begnügten sich aber mit der in Washington ausgehandelten Menge und gestanden im Vertrag zu, dass hernach jeder weitere Anspruch der Schweiz gegenüber hinfällig werde. Es war der jüngsten Kampagne gegen die Schweiz vorbehalten, die Forderung nach Neuverhandlung des Washingtoner Abkommens aufzuwärmen. Dazu kam es schließlich doch nicht. In der Schweiz wies man mit Recht darauf hin, dass ein solcher Schritt – abermalige Verhandlungen über einen seinerzeit von allen Seiten ratifizierten Vertrag unter Druck der stärkeren Macht, und dies ein halbes Jahrhundert später – sich im internationalen Leben unheilvoll destabilisierend auswirken müsste und dass die Verlierer bei einer solchen Entwicklung stets die Kleinstaaten wären.

Ein Argument wog in der Gold-Debatte auf Seiten der Schweiz schwer: Der Goldhandel mit Deutschland hätte möglicherweise nicht den beschriebenen Umfang erreicht, wenn die aus Sicherheitsgründen nach Amerika überführten Schweizer Goldreserven von den USA im Sommer 1941 nicht ebenso mit Sperre belegt worden wären wie alle anderen europäischen Guthaben. Die Schweizer Nationalbank suchte ihr Vorgehen während des Kriegs später auch mit dem Hinweis zu rechtfertigen, die Wichtigkeit des Goldhandels für Deutschland habe eine Sicherheitsgarantie bedeutet und so zum Schutz der Schweiz vor einem deutschen Angriff beigetragen. Das Argument erscheint allerdings eher als eine nachträgliche, aus der Retrospektive gemachte Aussage. Namentlich in der Schlussphase des Kriegs, wo sich das Festhalten am Goldhandel angesichts der Warnungen der Westmächte nicht mehr plausibel erklären ließ, blieb die Spitze der Nationalbank bei ihrer wohl engen Optik, die praktisch ausschließlich von inländischen Bedürfnissen und Überlegungen bestimmt war. Das Phänomen ist ähnlicher Art wie unter dem ersten Punkt dargelegt: fehlende Weitsicht und Kombinationsgabe, mangelndes Reaktions- und Improvisationsvermögen, wenn es gilt, die veränderte Weltlage wahrzunehmen und sich danach zu richten.

Grundsätzlich anders verhält es sich dagegen im Falle des Warenaustausches mit dem Dritten Reich. Dass sie mit dem NS-Staat Handel getrieben habe, dies konnte und kann der Schweiz nur Ignoranz oder böser Wille zum Vorwurf machen. Geschehen ist dies in der jüngsten Kampagne dennoch auf massive Art, so auch in der Form der wiederholten Anklage, die Schweiz als Handelspartnerin Deutschlands habe „den Krieg verlängert”.

In Tat und Wahrheit führte die Schweiz nach Kriegsbeginn Handel mit beiden Seiten, wobei die Ausfuhren an die Westalliierten bedeutender waren. Internationales Recht schreibt dem Neutralen vor, bei bewaffneten Konflikten, soweit möglich, den Warenaustausch mit allen Ländern im gewohnten Maß fortzusetzen. Die Lage in Europa und für die Schweiz veränderte sich jedoch im Sommer 1940 radikal. Nach dem Fall von Paris befand sich die kleine Alpenrepublik plötzlich in einem Ring, den Hitlers Großdeutschland, das faschistische Italien und das besetzte Frankreich bildeten. Die Schweiz war aber weder an Lebensmitteln noch an Energieträgern je selbstversorgend gewesen. Durch die Abschnürung der Verbindung zum Hafen von Genua oder durch die Sperrung des Rheins hätten es nun Deutschland und Italien jederzeit in der Hand gehabt, die Schweiz in einigen wenigen Monaten aufs Knie zu zwingen. Dass die NS-Führung die Schweiz als „germanischen Boden” betrachtete, ihre Demokratie hasste und entschlossen war, auch das kleine Land „heim ins Reich” zu holen, darüber gab es keinerlei Zweifel. „Die Schweiz, das kleine Stachelschwein, das holen wir am Rückweg ein”, so lautete in Deutschland das gereimte Programm. Wenn die Schweiz überleben wollte, musste sie mit Deutschland Handel treiben.

Die Schweiz wollte aber überleben, und sie wollte auch ihre Freiheit und Demokratie verteidigen. Die jüngsten, aus Amerika gegen die Schweiz lancierten Angriffe muteten gerade darum besonders grotesk an und erweckten so viel Bitterkeit, weil sie sich gegen ein Land richteten, das in den Kriegsjahren zutiefst entschlossen war, sich gegen Nazi-Deutschland notfalls auch militärisch bis aufs äußerste zu wehren.

Tatsächlich war die Schweiz in jenen Jahren imstande und willens, bei einer Bedrohung durch die Wehrmacht in wenigen Tagen 800 000 Mann ihrer Milizarmee zu mobilisieren. Dies hinderte jetzt eine amerikanische Senatorin jedoch nicht daran, vorwurfsvoll festzustellen, die Schweiz habe im Krieg nicht einmal über eigene Streitkräfte verfügt. Historische und selbst geographische Ignoranz – mancher amerikanische Politiker verwechselte „Sweden” und „Switzerland” – bezichtigte die Schweiz der Komplizität mit Hitler, ohne auch nur zu ahnen, dass es in der Schweiz während der Kriegszeit bloß eine winzige Partei von Nazi-Sympathisanten gab, die keine Vertreter ins Parlament zu entsenden vermochte. Das Führer- und Einheitsprinzip, das Hitlerdeutschland verkörperte, widersprach aufs gründlichste der schweizerischen Staatsauffassung, deren maßgebende Elemente direkte Demokratie, Mehrsprachigkeit, starke lokale Autonomie, eine schwache Zentralmacht, Toleranz sowie Kompromisswille heißen.

Kein Zweifel, die wegen der amerikanischen Angriffe geführte Debatte brachte der schweizerischen Bevölkerung eine unbestreitbare Tatsache ins Bewusstsein, die in den Jahrzehnten zuvor im Zuge der Bildung einer nationalen Legende verdrängt worden war. Man nahm nun wieder zur Kenntnis, dass die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht nur dank glücklichen Umständen und der abschreckenden Macht ihrer Armee verschont geblieben war, sondern vor allem auch als das Ergebnis einer geschickten Handelspolitik, die man hatte führen müssen, die sich aber – anders als die Einsatz- und Opferbereitschaft der Armee – bestimmt nicht heldenhaft nennen ließ. Notwendig war der Handel auf der einen Seite, wie schon ausgeführt, zum materiellen Überleben der Schweiz. Er bedeutete aber auch für die deutsche Seite eine wichtige Quelle für gewisse kriegsnotwendige Produkte, so namentlich im waffentechnischen Bereich der Zünder, sodann beim Import von Werkzeugmaschinen und von elektrischem Strom.

Hat sich die Schweiz am Handel bereichert, wie in der jüngsten Debatte anklagend behauptet wurde? Einzelnen brachte der Warenaustausch mit dem Dritten Reich zweifellos Gewinne ein. Das Land selber wies am Ende des Kriegs allerdings eine deutlich gesunkene Rate des pro Kopf berechneten Nationalprodukts auf. Wichtig war aber der Handel neben dem eigenen physischen Überleben und der Vermeidung der Arbeitslosigkeit vor allem darum, weil er eine Sicherheitsgarantie bedeutete. So unberechenbar sich die deutschen Reaktionen auch ausnahmen, auf schweizerischer Seite musste man doch annehmen, dass es bei Fortsetzung des Handels doch eher im Interesse des großen nördlichen Nachbarn lag, die Schweiz nicht anzutasten, statt es auf einen zerstörerischen Besetzungskrieg ankommen zu lassen. Mit anderen Worten: Der Warenaustausch war eines der Mittel, mit denen die Eidgenossenschaft die gefährlichen Zeiten heil zu überstehen suchte.

Hat die Schweiz auf solche Weise den Krieg verlängert, wie ihr jetzt, ein halbes Jahrhundert später, mit ausgestrecktem Zeigefinger vorgehalten wurde? Materiell ist dazu zu sagen, dass die schweizerischen Lieferungen an das Reich ungefähr ein Prozent von dessen eigenen industriellen Leistungen ausmachten. Zu antworten wäre aber vor allen Dingen, dass es unstatthaft und aus heutiger Sicht unhistorisch ist, in Abrede zu stellen, dass in den grausamen Wirren des Zweiten Weltkriegs der Schweiz ebenso wie allen anderen Staaten das Recht zukam, zuerst für das eigene Überleben zu kämpfen. Die Neutralität war nie ein Ziel an sich, sondern ein Mittel zur Sicherung der kleinstaatlichen Existenz. Der propagandistische Vorwurf in der jüngsten unschönen Auseinandersetzung, die Schweiz habe zwischen 1939 und 1945 im Ringen zwischen dem Guten und dem Bösen die Neutralität gewählt, verkennt vollkommen, dass die Schweiz inmitten des vom NS-Staat beherrschten Europa doch bis zuletzt eine Demokratie geblieben ist.

Seltsam wirkte eine vom amerikanischen stellvertretenden Staatssekretär Stuart Eizenstat abgegebene Meinung. Die Schweiz, so befand er gut fünfzig Jahre nach den Ereignissen, hätte nach der Schlacht bei Stalingrad – sprich: Anfang 1943 – alle Handelskontakte mit Deutschland abbrechen sollen. Eizenstat forderte damit von den damaligen Akteuren der Geschichte, in diesem Fall von den Mitgliedern der Schweizer Regierung, nichts anderes, als dass sie auf der Grundlage unseres heutigen Kenntnisstands hätten handeln sollen. Wie stark oder schwach Deutschland zu dem Zeitpunkt war, zu welcher Aggressivität es sich gegenüber dem kleinen Nachbarn gegebenenfalls würde hinreißen lassen, dies konnten die Schweizer Politiker, die inmitten der damaligen Ereignisse unverzügliche Entscheide fällen mussten, nach menschlichem Ermessen nicht mit Bestimmtheit berechnen. Ganz abgesehen davon, dass die Kraft der Wehrmacht selbst im März 1944 noch dazu ausreichte, beispielsweise Ungarn zu besetzen. Churchill, nach der Jalta-Konferenz wegen Polens Preisgabe von Gewissensnöten geplagt, schrieb in seinen Memoiren, die Westmächte hätten auf die Allianz mit der Sowjetunion nicht verzichten können zu einer Zeit, da Deutschland immer noch zwischen zwei- und dreihundert kämpfende Divisionen an der Front hatte. Diese Einschätzung kam nun nicht aus dem Munde eines Schweizers, der mit der begrenzten militärischen Macht eines Kleinstaates rechnen musste, sondern stammte vom Premierminister eines Landes, das über ein Weltreich gebot; und sie bezog sich nicht auf Anfang 1943, sondern auf das Frühjahr 1945.

Doch es gab an Pauschalvorwürfen noch Schlimmeres. Eizenstat, der mit seinen undifferenzierten Äußerungen in der Schweiz besonders bittere Gefühle weckte, bezeichnete ganz generell Neutralität im Zweiten Weltkrieg als „unmoralisch”. Der amerikanische Politiker meinte selbstredend nicht das Verhalten der Vereinigten Staaten zwischen September 1939 und Dezember 1941, sondern den Status der Schweiz. Wie sich aber die Eidgenossenschaft ein Leumundszeugnis hätte beschaffen sollen – etwa mit einer Kriegserklärung an Hitler oder mit ähnlichem Schicksal, wie es die Niederlande, ihre Bevölkerung und die  holländischen Juden erlitten haben –, darüber schwieg sich Eizenstat aus.

Ebenso ersparte er sich Gedanken darüber, wer etwa im Frühjahr 1943 der Schweiz im Falle eines Kräftemessens mit Deutschland Beistand geleistet hätte. Angesichts der damaligen militärischen Lage auf dem europäischen Kontinent lässt sich die Antwort allerdings mit weitgehender Sicherheit geben: niemand. Wären nun die Herausforderung Hitlers, ein Krieg auf Schweizer Boden und die anschließende deutsche Besetzung der Schweiz die „richtige” Lösung gewesen? Hätte man die in einem solchen Fall unweigerlich folgende, diesmal nun wirklich vollständige Einfügung der schweizerischen Industrien in den Dienst der deutschen Kriegswirtschaft sowie die zweifellos unvermeidliche Deportierung und Ermordung der Schweizer Juden und der im Land aufgenommenen jüdischen Flüchtlinge hinnehmen sollen? Wäre das wirklich „moralischer” gewesen?

Es bleibt in dieser Aufzählung noch der dritte Punkt, die Behandlung der Flüchtlinge, und auch über dieses Thema liegt mittlerweile der Bericht der Bergier-Kommission vor. Er förderte, um dies vorwegzunehmen, in der Hauptsache kaum Neues zu Tage, kaum etwas, das in der zuvor während Jahrzehnten schon geführten schweizerischen Debatte nicht bekannt gewesen wäre. Die Experten kamen zum Schluss, dass die Schweiz während der Kriegsjahre rund 21 000 verfolgte Juden aufnahm und in der Größenordnung einer ähnlichen Anzahl die Einreise ins Land verweigerte. Die Feststellung, dass mehr verfolgte Leben hätten gerettet werden können, ist unbestreitbar, und besonders beschämend sind jene Fälle – auch sie sind im vorliegenden Bericht nicht zum ersten Mal dokumentiert –, bei denen die Schweizer Behörden jüdische Flüchtlinge, die bereits schweizerisches Gebiet erreicht hatten, aus dem Land schafften, praktisch den Nazis auslieferten und in den sicheren Tod zurückschickten. Dass Kenntnis der tödlichen Judenverfolgungen im europäischen Osten und später Informationen über die Todeslager der Schweizer Regierung vorlagen, ist ebenso erwiesen. Nicht zu leugnen, dass für diese Handlungsweise bei einzelnen höheren Beamten und Vollzugsorganen auch antisemitische Motive mit maßgebend waren.

Im Gegensatz zum Bericht über den Goldhandel begegnete indessen die Publikation der Unabhängigen Expertenkommission über die Flüchtlingsfrage verbreiteter Kritik. Beanstandet wurde namentlich die Methode, das Gesamtbild mit Vorliebe anhand von Einzelschicksalen zu entwerfen, ferner der Verzicht darauf, das schicksalsschwere Thema nicht isoliert, sondern im damaligen internationalen Kontext darzustellen. Gemeint war mit letzterem der ausgebliebene Vergleich mit der Flüchtlingspolitik anderer Länder. Als unannehmbare, apodiktische Aussage erschien sodann vielen der Befund der Kommission, wonach keine Hinweise gefunden wurden, die wahrscheinlich machten, dass die Schweiz bei einer großzügigeren Öffnung ihrer Grenzen mit einer erhöhten militärischen Gefährdung durch das Deutsche Reich hätte rechnen müssen.

Halten wir diese letzte Aussage fest. „Keine Hinweise” bedeutet doch selbst aus heutiger Optik nicht so viel, dass die Möglichkeit der Gefährdung völlig ausgeschlossen werden darf. Doch die „richtige” Frage, so man die damaligen schweizerischen Staatsmänner gerecht beurteilen will, stellt sich ja nicht danach, ob Berlin als Reaktion auf die schweizerische Flüchtlingspolitik tatsächlich militärische Retorsionen erwog oder womöglich auch vorbereite. Gefragt werden müsste vielmehr nach dem Kenntnisstand, auf dessen Grundlage die Schweizer Behörden in Bern ihre Entscheide fällten. Und da ist die Einsicht naheliegend: Die Schweizer Regierung kam um die Überlegung nicht herum, dass die bedingungslose Aufnahme jüdischer Flüchtlinge in den Augen der NS-Führung als Provokation gewirkt und für die Schweiz möglicherweise schwerwiegende Folgen gezeitigt hätte.

Das Maß zwischen „großzügiger” und „unbegrenzter” Flüchtlings-Aufnahme zu finden, bedeutete eine schwere Gratwanderung, zumal die Entscheide auf einer unsicheren Informationsgrundlage jeweils mit kurzer Frist zu fällen waren. Hinzu kam, dass die oft irrationalen Reaktionen von Deutschlands „Führer” unberechenbar waren. Und so schwankten die Schweizer Behörden jener Jahre zwischen humanitärer Verpflichtung und Realpolitik hin und her. Keine sehr heroische, aber auch keine unverständliche Haltung.

Wenn heute (überaus seltene) amerikanische Selbstkritik daran erinnert, dass die Vereinigten Staaten damals weniger jüdische Flüchtlinge aufnahmen als die Schweiz, dass auch die USA um Einlass nachsuchende Juden nach Europa zurückschickten und dass es darum nicht angebracht sei, jetzt entrüstet gegen das kleine Alpenland zu wettern, so nimmt man derartige Äußerungen auf schweizerischer Seite mit Genugtuung zur Kenntnis. Doch die Parallele ist falsch. Für die Vereinigten Staaten, eine Großmacht, von Hitler-Deutschland durch den Atlantik getrennt, war der Entscheid über Aufnahme oder Abweisung frei von allen sicherheitspolitischen Überlegungen. In der Schweiz dagegen, einem bedrohten Kleinstaat in unmittelbarer Nachbarschaft des Dritten Reichs, konnte man es sich bei der Behandlung der Flüchtlinge nicht leisten, auf die Einschätzung sicherheitspolitischer Risiken zu verzichten.

Und damit wären zuletzt einige Worte fällig über den Unterschied der politischen und der historischen Betrachtungsweise. Die gegen die Schweiz geführte Kampagne – „Bashing Switzerland”, wie sie im englischen Jargon offen hieß – war politischer und wirtschaftspolitischer Art. Dies nicht nur inhaltlich, sondern auch der Form nach. In der Sache ging es um Geld, um sehr viel Geld. In der Präsentierung aber verlangte man von der Schweiz eine (wie auch immer geartete) „Aufarbeitung” der eigenen Vergangenheit. Doch wurde dabei Geschichte instrumentalisiert und in den Dienst der Anklage gestellt. Dazu war auch Geschichtsklitterung gut genug. Ein Beispiel und einen Höhepunkt des propagandistischen Feldzugs stellte etwa die Behauptung des Fernsehens der BBC dar, die Schweiz habe während des Kriegs mit Wissen ihrer Regierung ihr Eisenbahnnetz für Deportationen aus Italien zur Verfügung gestellt. Die BBC verkaufte ihren verleumderischen Film an zahlreiche ausländische TV-Anstalten, fand sich aber zu keiner Korrektur, geschweige denn zu einer Entschuldigung bereit, als das Jüdische Dokumentationszentrum in Mailand kategorisch erklärte, Deportationen über Schweizer Gebiet hätten niemals stattgefunden. Auch der Bergier-Bericht fand, wie es darin heißt, keine entsprechenden Hinweise.

Das Beispiel führt zur abschließenden Frage nach dem Umgang mit der Moral. Dazu ist – sine ira et studio – dies festzuhalten: Es ist überaus fragwürdig, wenn spätere Generationen mit den Vorfahren allein im Namen der Moral historisch ins Gericht gehen. Es gibt eben mehrere Arten der Moralbetrachtung und der moralischen Handlungsweise. Berufen kann man sich auf eine absolut gefasste Ethik, vor deren unbedingten Kriterien freilich kaum jemand zu bestehen vermag. Sie gerade wurde in dem geschilderten Streit – im Namen der Humanität, der Gerechtigkeit und der mitmenschlichen Verpflichtung zur Hilfe – gegen die Schweizer Behörden der Kriegszeit gekehrt. Unter Bemühung so hehrer Ideale ist man heute mit der Schweiz von gestern ins Gericht gegangen und hat sie schuldiggesprochen.

Nun kennt man aber auch eine Verantwortungsethik. Mit ihrer Beachtung fängt Geschichtsbetrachtung erst an. Sie führt im vorliegenden Fall zu einigen hart tönenden, deswegen aber nicht minder wahren Schlüssen. So zu der Feststellung, dass die Schweizer Staatsmänner der Kriegsjahre einen demokratischen Auftrag hatten, der sie primär dazu verpflichtete, auf das Wohl ihres Landes und seiner Bevölkerung bedacht zu sein. Das Ziel, dem sie gemäß ihrem Mandat alles unterordnen mussten, konnte nur darin bestehen, die Schweiz aus dem Krieg herauszuhalten. Bei all ihren Erwägungen hatten sie sich stets von der Verantwortung und der Frage nach den Folgen zu leiten. Absolut gefasste Ethik mag ihnen vorhalten, nicht das Menschenmögliche zur Rettung von Verfolgten und zur Unterstützung der gerechten Sache getan zu haben. Und nüchterne historische Analyse darf ihnen gewiss Fehler ankreiden. Zweierlei indessen steht fest: Die Schweiz hat weder den Krieg noch den tödlichen Rassenwahn entfesselt. Ihr vorhalten, dass sie in jenen Jahren und in nächster geographischer Nähe des Bösen durch die Flut von Pech und Schwefel nicht mit tadellos sauberen Händen hindurchgekommen sei, wird nur derjenige, der – bewusst oder naiv – den weltfremden Grundsatz vertritt, Verantwortungsträger an der Spitze von Staaten hätten bei ihren Entscheidungen stets die Wahl zwischen Gut und Böse. In Wirklichkeit, zumal in der schrecklichen Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs, blieb auch den Regierenden in der Schweiz nur die Wahl zwischen Schlimm und Schlimmer. Sie hatten sich die Rahmenbedingungen nicht ausgesucht und mussten sich fügen. Als Schluss drängt sich hier eine lapidar-resignierte Weisheit auf; Raymond Aron hielt sie einst einem französischen Präsidenten entgegen, der einzig in Kriterien einer kartesianischen Logik zu denken bereit schien: „Er vergisst leider, dass die Geschichte tragisch ist.”