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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 10:7–9.

FERENC GLATZ

Ungarn an der Schwelle der EU und in der Nachbarschaft Österreichs

 

Erste Bemerkung: Die Integration des mittel- oder ostmitteleuropäischen Raumes in den Westen ist ein tausendjähriger Prozess.

Unserer Auffassung nach ist die jetzt in Gang befindliche EU-Erweiterung ein Bestandteil jenes tausendjährigen Prozesses, in dessen Verlauf das Randgebiet der lateinisch-christlichen Kultur in das europäische wirtschaftliche, kulturelle und Machtsystem integriert wird. Im Laufe der Geschichte sind die östlichen Randgebiete manchmal organischer eingegliedert worden in den Okzident (11. Jahrhundert, 14.–15. Jahrhundert, 18.–19. Jahrhundert), manchmal nahmen in den Gesellschaften dieses Raumes die sogenannten „östlichen” Züge zu (vor allem unter der Herrschaft der Tataren-Mongolen, der Türken – 13., 16.–17. Jahrhundert –, später während der Ausbreitung Sowjet-Russlands – 1945–1990). Untersuchen wir die jetzige Entwicklung von diesem historischen Gesichtspunkt aus, ist die Schlussfolgerung verständlich: es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Erweiterung der EU ein diplomatischer Akt ist. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass dies einfach der „Eintritt” in eine internationale Organisation ist. Wie es auch ein Irrtum wäre anzunehmen, dass der europäische Integrationsprozess eine Serie von Aktionen ist, die einfach mit Regierungs- oder legislativen Entscheidungen zu absolvieren wäre. Eventuell bedeutet dies die Einführung von einigen Institutionen (des politischen Mehrparteiensystems, von demokratischen Wahlen, von menschlichen Freiheitsrechten, der Marktwirtschaft usw.), die in Ostmitteleuropa nur über wenige Traditionen verfügten. Hier ist von gesellschaftlichen Veränderungen und von Veränderungen im öffentlichen Denken die Rede, die nur in Zeitabschnitten von Generationen messbar sind. Das heißt: Die europäische Integration, innerhalb dieser die Erweiterung der Europäischen Union ist ein Jahrzehnte währender Prozess.

 

Zweite Bemerkung: Es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass das östliche Randgebiet des Westens „anders organisiert ist” und heute hat es schon regionale Besonderheiten.

Nicht nur Westeuropa kann Erwartungen gegenüber den östlichen Randgebieten hegen, doch auch umgekehrt: auch die ostmitteleuropäische Region kann Erwartungen gegenüber dem Westen hegen. Welches können unter anderem diese Erwartungen sein?

Erstens: Wir stellen uns das Europa des 21. Jahrhunderts als einen Kontinent der ethnischen, religiösen Vielfalt und der Vielfalt der Bräuche vor. Unsere Schlussfolgerung hieraus ist: die Europäische Union kann nicht nur die territorielle Verwaltungsorganisation der großen Nationen sein (der Engländer, Franzosen, Deutschen, Spanier). Auch die kleinen Kulturen müssen in ihr ihren Platz finden, wie es die ungarische, die slowakische, die rumänische, die kroatische, die serbische, die slowenische usw. Kultur ist. Zweitens: Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte hat das östliche Randgebiet des Okzidents – von der Nordsee bis an die Adria – in der Gesellschaftsorganisation, in der Kultur solche spezifische Charakterzüge herausgebildet, welche Besonderheiten sich jetzt schon markant unterscheiden zum Teil von den orientalischen (byzantinischen und mohammedanischen), zum Teil von den westeuropäischen Kulturen. Unsere Schlussfolgerung hiervon lautet: die Europäische Union muss auch den Platz der Besonderheiten der ostmitteleuropäischen Gesellschaften und Produktionskulturen finden. (Die Grenzen zwischen den Verwaltungseinheiten und den nationalen Siedlungsgebieten stimmen nicht überein, eine von der westlichen abweichende Produktionsstruktur grundlegend mit der Landwirtschaft im Zentrum); eine spezifische geographische Lage zwischen Russland und Westeuropa usw.). Unsere Schlussfolgerung lautet: hier können im Okzident gut funktionierende Gesetze und Regeln nicht einfach in unveränderter Form eingeführt werden. Drittens: In den ostmitteleuropäischen Gesellschaften können nicht Generationen zum „gesellschaftlichen Tod” verurteilt werden. Die ostmitteleuropäischen Gesellschaften erleben jetzt die Epoche der Umgestaltung zur Marktwirtschaft. Unsere Schlussfolgerung lautet: die jetzigen Generationen können nicht mit schockierenden politischen Maßnahmen überfallen werden. Der „Übergang” erfordert eine spezielle Behandlung.

 

Dritte Anmerkung: der wahre Vorteil der EU-Mitgliedschaft für die ostmitteleuropäischen Gesellschaften ist der Zwang zur Modernisierung.

Eine große Enttäuschung für die Gesellschaften des Raumes ist, dass die westliche Integration kein Hilfsprogramm, sondern eine Zwangsmodernisierung ist. Der Glaube an das Hilfsprogramm war eine Illusion. Diese Zwangsmodernisierung geht Hand in Hand einher mit der radikalen Umgestaltung der Produktionsstruktur des Landes, sowie des öffentlichen Denkens. Die Umgestaltung bringt aber gesellschaftliche Erschütterungen mit sich: gewisse gesellschaftliche Schichten werden in eine günstige, andere in eine unmögliche Lage gebracht. Die Gesellschaften des Raumes werden allmählich von ihren früheren Illusionen geheilt. Leider hat diese Enttäuschung bereits eine Integrationsfeindlichkeit geschaffen. Sehr wichtig ist, dass zumindest die lokalen mittleren Schichten verstehen müssen, mit welchen Vorteilen die Integration verbunden ist, und welche Umgestaltungen sie uns aufzwingt.

 

Vierte Bemerkung: Nicht nur in den politischen Systemen, sondern auch in den Köpfen ist ein Systemwandel erforderlich.

Heute ist schon zu sehen, dass die staatsorganisatorische (verwaltungsmäßige) Integration das am leichtesten und schnellsten zu realisierende Gebiet der Integration ist. In einem viel langsameren Tempo wird die Integration in den wirtschaftlichen Verhältnissen und in der Kultur der Werktage, in den Brauchsystemen und in den Verhaltensweisen vor sich gehen. Der Systemwandel „in den Köpfen” ist ein viel schwierigerer und langsamerer Prozess als in den politischen Institutionen. Eben deshalb ist die Verantwortung der Intelligenz und der politischen Elite dieses Raumes groß. Ist sie imstande, zwischen den lokalen Realitäten und den westlichen Erwartungen zu vermitteln? Wird sie imstande sein, die Besonderheiten des Raumes gut zu formulieren und die eigenen Interessen mit den westlichen Erwartungen zu konfrontieren? Und wird sie fähig sein, dem eigenen Volk ins Auge zu sagen, was in seinem Brauchsystem, in seiner Lebensführung nicht zu halten ist? Dass man nicht so leben kann wie im Westen und so arbeiten kann wie im Osten. Dass die Achtung vor den nationalen, religiösen Traditionen und den Gewohnheiten der Bräuche etwas anderes ist, und wiederum etwas anderes ist die schlechte östliche Arbeitsorganisation und die Kultur der Bequemlichkeit.

 

Fünfte Bemerkung: von der Integration werden wir zum Neudenken unseres Ostmitteleuropäertums gezwungen.

Die Kleinstaaten des Raumes liefen zwischen 1990 und 1995 um die Wette, hin zu den großen westlichen Mächten, um bei diesen Großmächten für ihre lokalen Interessen und ihre konträren Interessen zu ihren Nachbarn eine Unterstützung zu finden. Sowohl die ungarische als auch die slowakische und die rumänische Mittelschicht musste von ihrer Illusion enttäuscht werden, dass die westlichen Mächte im Krieg gegen die Nachbarn „auf ihre Seite” treten werden. Sie mussten auch von ihrer Illusion enttäuscht werden, dass die lokalen, nationalen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen von den Westmächten entschieden werden. Erst jetzt in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre waren sie sich bewusst geworden, dass die lokalen Auseinandersetzungen auf den lokalen Foren entschieden oder beiseite gelegt werden müssen. (Der Balkankrieg, der sich in der benachbarten Region abgespielt hat, regt noch mehr zu den lokalen Lösungen an.)

 

Sechste Bemerkung: Über die mögliche Rolle Österreichs.

Österreich als ein Kleinstaat Europas und die österreichische Nation als eine über ein spezifisches Profil verfügende kleine Nation Europas versteht diese Bestrebungen der Völker des Raumes. Seit Jahrhunderten haben die Österreicher eine ausgezeichnete Mittlerrolle zwischen dem Okzident und dem östlichen Randgebiet gespielt. Es scheint uns so, dass Österreich eine besondere Rolle in der Integrierung des östlichen Randgebietes spielen kann. In dieser Mittlerrolle kann der welthistorische Auftrag sowohl der staatlichen Außenpolitik als auch der Kulturpolitik bestehen. Wir hoffen, dass Österreich zu jener aktiven östlichen Kultur- und Außenpolitik zurückkehren wird, die es zu Beginn der 90er Jahre betrieben hat. Dass es den westlichen Nationen dazu verhelfen wird zu begreifen, dass hier nicht einfach von einer Osterweiterung, sondern von einem wechselseitigen Aneinanderanpassen die Rede sein wird.