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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 29:13–22.

ARNOLD SUPPAN

Die südöstliche EU-Erweiterung aus der Sicht eines Wiener Osteuropa-Historikers

 

1. Der österreichische „Brief nach Brüssel”, der mit dem 17. Juli 1989 datiert ist und durch eine Erklärung des Außenministers Alois Mock anlässlich der Überreichung des Beitrittsansuchens verstärkt wurde, hob die gewünschte Handels- und Wirtschaftskooperation sowie die Friedenssicherung hervor. Die versuchte Annäherung an die Europäischen Gemeinschaft(en) war zwar nicht grundsätzlich, aber qualitativ etwas Neuartiges. Österreich wollte nicht vom sich vertiefenden Integrationsprozess der Europäischen Gemeinschaft (EG) ausgeschlossen bleiben, unterstrich sein Interesse am „Binnenmarkt”, machte aber einen ausdrücklichen Neutralitätsvorbehalt. Dies war auch ein Grund für das kühle bis abweisende Verhalten der französischen und belgischen Diplomatie. Freilich, nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Abbau des „Eisernen Vorhanges” wurde der Neutralitätsstatus Österreichs, Schwedens und Finnlands zunehmend für obsolet gehalten, die beiden skandinavischen Staaten sprachen bald auch nur mehr von „Allianzfreiheit”. Und trotz des Einsatzes schwedischer, finnischer und österreichischer Diplomaten als Krisenmanager in Ex-Jugoslawien, hat die friedensstiftende und -fördernde Funktion der Neutralität in Europa an Bedeutung verloren und ist der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU gewichen. Allerdings steht diese in der Kosovo-Frage neuerlich auf dem Prüfstand.1

2. Am 27. Juni 1991 setzte die Jugoslawische Volksarmee (JVA) Panzereinheiten in Marsch, um – unter dem Vorwand eines zu erwartenden NATO-Angriffes – strategische Punkte an den Grenzen Sloweniens zu Italien und Österreich und im Landesinneren zu besetzen, tatsächlich aber um mit militärischem Druck die Unabhängigkeitserklärung des slowenischen Parlaments vom 25. Juni rückgängig zu machen. Die zum Teil noch mit Waffen ausgerüstete Territorialverteidigung der Republik Slowenien setzte sich vehement und erfolgreich zur Wehr. Ganz Europa war über den Ausbruch dieses „Bruderkrieges” geschockt. Am 1. Juli interviewte mich ein Redakteur eines bayerischen Rundfunksenders und wollte wissen, wie man diesen Krieg beenden könne. Ich erklärte ihm spontan, die NATO müsse eingreifen. Dem Redakteur verschlug es die Sprache und er bat mich händeringend, dies in der Live-Sendung nicht zu sagen, was ich dann auch nicht tat. Ich hatte aber meine Bemerkung nicht aus Jux und Tollerei gemacht, sondern auf der Basis von 20-jähriger Beschäftigung mit der Geschichte und der Gegenwart der Sozialistischen Föderativen Volksrepublik Jugoslawien und vieler Gespräche mit slowenischen, kroatischen, serbischen, bosnischen und makedonischen Kollegen und Kolleginnen, aus denen das Auseinanderbrechen Jugoslawiens deutlich wurde.

In Slowenien hatte der Bruch mit dem jugoslawischen System im Juni 1988 begonnen, als drei Redakteure der Zeitschrift Mladina – einer von ihnen, Janez Janša, ist heute der Ministerpräsident Sloweniens – und ein Unteroffizier der JVA wegen angeblichen Diebstahls geheimer Militärdokumente in Laibach vor ein Militärgericht gestellt und verurteilt wurden. Die slowenische Öffentlichkeit verurteilte nicht nur die Anklage, sondern vor allem auch die Prozessführung in serbo-kroatischer Sprache, der Amtssprache der JVA. Der Graben zwischen der slowenischen KP-Führung unter Milan Kučan, dem späteren Langzeit-Präsidenten, und dem Milošević-Regime in Belgrad vertiefte sich, als die serbische Führung im Herbst 1989 zu Boykottmaßnahmen gegen slowenische Importe aufrief. Und schließlich zogen die slowenischen Kommunisten im Jänner 1990 aus dem letzten jugoslawischen Parteikongress in Belgrad aus, da der serbische KP-Chef Slobodan Milošević alle slowenischen Anträge niederstimmen ließ. Die kroatischen Kommunisten folgten den slowenischen Genossen. Der Bruch zwischen Zagreb und Belgrad hatte allerdings erst im Herbst 1989 eingesetzt, als Milošević drohte, Schlägertrupps nach Zagreb zu senden. Entscheidender wurden die Wahlen im Frühjahr 1990 – bei denen die Kommunisten in Kroatien und Slowenien die Mehrheit verloren – und die Strategie Milošević, die serbische Minderheit in Kroatien gegen die neue Regierung unter Franjo Tudjman aufzuhetzen. Abgesehen von chauvinistischen Statements des ehemaligen Partisanenoffiziers und Generals der JVA ging es im kroatisch-serbischen Konflikt um die neue Stellung der etwa 600.000 Personen umfassenden serbischen Minderheit in Kroatien (= 13 % der Landesbevölkerung), die seit 1945 als zweite Staatsnation galt und nun zu einer nationalen Minderheit abgestuft werden sollte.2

Man soll aber die Einzelkonflikte nicht überbewerten. Im Hintergrund des slowenisch-serbischen bzw. kroatisch-serbischen Konfliktes stand die Machtfrage: Sollen Slowenien und Kroatien weiterhin von Belgrad aus beherrscht werden? Der Griff Milošević in die Staatskasse im Dezember 1990, um die jugoslawische Armee, sowie die serbische Polizei und Beamtenschaft zu bezahlen, stellte die endgültige Bruchlinie dar. Der Konflikt musste ausgetragen werden, wie mir ein alter serbischer Geschichtsprofessor und Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften versicherte. Aber sollte es wirklich ein Dreißigjähriger Krieg werden, wie es ein damals jüngerer Belgrader Kollege vermutete, der mittlerweile 70 Jahre alt geworden ist? – Langsam beginne ich die Richtigkeit der Prophezeiung zu fürchten.

3. Die internationale Politik und die internationale Diplomatie wurden vom kleineren Krieg in Slowenien und vom größeren Krieg in Kroatien völlig unvorbereitet getroffen. Washington, London, Paris, Bonn und Moskau waren auch mit schwierigeren Materien befasst:

– mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Fall des Eisernen Vorhanges;

– mit der Frage der deutschen Wiedervereinigung und damit der ersten Grenzänderung in Europa seit 1947;

– mit dem Zerfall des Sowjetsystems und der Auflösung der Sowjetunion;

– mit der Aggression des Iraks gegen Kuwait.

Ein deutscher Diplomat versicherte mir, dass sich auch eine große Staatskanzlei gleichzeitig nur mit drei Problemfeldern intensiv beschäftigen könne. Jugoslawien gehörte nicht mehr dazu; es lag nicht mehr am „Eisernen Vorhang” und hatte seine frühere strategische Bedeutung völlig eingebüßt. Weder das Massaker serbischer Truppen an kroatischen Zivilisten in Vukovar noch die Beschießung Dubrovniks durch jugoslawische Kriegsschiffe im Herbst 1991 regte die internationale Politik besonders auf. Noch unschlüssiger war die Politik der Europäischen Gemeinschaft nach Beginn der serbischen Angriffe in Bosnien-Herzegowina ab April 1992, nachdem man die lediglich von den Muslimen und den Kroaten herbeigeführte Unabhängigkeitserklärung sehr rasch anerkannt hatte. Die EU veranstaltete Konferenzen und produzierte Teilungspläne, war aber nicht in der Lage, die über drei Jahre dauernde serbische Belagerung Sarajevos zu beenden. Auch die UNO stand den von der serbischen Führung in Bosnien (Radovan Karadžić) angeordneten – und von Belgrad zumindest teilweise unterstützten – Vertreibungs- und Mordaktionen in Bosnien-Herzegowina hilflos gegenüber, denen schließlich an die 100.000 Personen zum Opfer fielen, unter ihnen überwiegend Muslime. Sogar nach dem Völkermord serbischer Einheiten unter dem Kommando von Ratko Mladić an etwa 8.000 muslimischen Männern in Srebrenica im Juli 1995 gab es noch politische Diskussionen auf EU-Ebene. Erst das massive Eingreifen der Regierung Clinton – zuerst nur politisch, bald aber auch militärisch – erzwang einen Waffenstillstand und nach langen Verhandlungen in Dayton einen Friedensschluss, der freilich Bosnien und die Herzegowina in zwei Entitäten unterteilte.3

4. Die österreichische Außenpolitik war über die Jugoslawien-Krise vergleichsweise gut informiert und daher besser vorbereitet. Dazu trug einerseits die beachtliche internationale Vernetzung des österreichischen Außenministers Alois Mock, andererseits das intensive Engagement vieler österreichischer Diplomaten in Wien und vor Ort bei. Mock stand in engem Kontakt mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl (weniger mit Außenminister Hans-Dietrich Genscher), dem französischen Außenminister Roland Dumas und dem italienischen Außenminister Gianni De Michelis und informierte sie praktisch täglich über die Entwicklungen in Ex-Jugoslawien. Gleichzeitig nützte Mock seine Kontakte über den UN-Sicherheitsrat, die KSZE und die Zentraleuropäische Initiative. Entscheidend aber war, dass Mock sowohl mit den alten jugoslawischen Politikern als auch mit den neuen Politikern in Kroatien und Slowenien Verbindung hielt. Die Berichte der österreichischen Diplomaten nach Wien und die Zusammenfassungen in der Zentrale, in der vor allem der erfahrene Botschafter Albert Rohan und der junge Diplomat Klaus Wölfer die Hauptarbeit leisteten, werden künftigen Historiker-Generationen noch erstaunliche Einblicke bieten. Auch der damalige Generalsekretär Thomas Klestil und der Politische Direktor Johannes Kyrle wirkten an der österreichischen Balkanpolitik intensiv mit. Vergleichsweise weniger Interesse – und auch Zurückhaltung in der Anerkennungsfrage – zeigte Bundeskanzler Franz Vranitzky, obwohl ihm mit Eva Nowotny eine versierte Außenpolitikerin als Beraterin zur Seite stand.

Wolfgang Schüssel betrieb ab 1998, zuerst als Außenminister dann als Bundeskanzler, den EU-Beitrittsprozess der ostmitteleuropäischen Nachbarn, wobei es in der Bevölkerung anfänglich nur in Richtung Ungarn ein klares Ja gab; gegenüber Tschechien gab es Ressentiments wegen der „Beneš-Dekrete” und dem AKW Temelín, gegenüber der Slowakei wegen der AKW Bohunice und Mohovce, gegenüber Slowenien wegen dem AKW Krško und den „AVNOJ-Beschlüssen”. International überraschend kam schließlich das vehemente Eintreten von Außenministerin Ursula Plassnik für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Kroatien, die sie im Oktober 2005 durch ein Junktim mit der Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei erzwang.4

Die österreichische Außenpolitik wurde vor allem in der Jugoslawien-Frage von der österreichischen Öffentlichkeit und Nicht-Regierungsorganisationen nachhaltig gestützt und angespornt. Die Medien erkannten das große Interesse in der Bevölkerung – vor allem in den beiden südlichen Bundesländern Steiermark und Kärnten – und lieferten täglich Reportagen, Berichte, Kommentare und Analysen. Sogar Südosteuropa-Historiker waren seit 1991 plötzlich als Interviewpartner und Kommentatoren gefragt. Auch der rasche Grenzeinsatz des österreichischen Bundesheeres wurde allgemein begrüßt, obwohl er mangels der von der Politik untersagten Mobilisierung auf wackligen Beinen stand. Die Exportwirtschaft litt einerseits unter den Kriegsereignissen (natürlich nicht die Rüstungsindustrie), begann andererseits aber rasch, neue Märkte aufzubauen, nicht zuletzt im Bereich der Banken, die sogleich von der Kapitalflucht aus dem untergehenden Jugoslawien profitierten. Die Sorge in der österreichischen Bauwirtschaft, dass sich serbische und kroatische Gastarbeiter in Österreich „bekriegen” könnten, bewahrheitete sich Gott sei Dank nicht. Beide Gruppen zahlten jedoch nicht geringe „Kriegssteuern“ an ihre Armeen, selbstverständlich unversteuert. Diese halblegalen und illegalen Kapitalflüsse zwischen Österreich und Jugoslawien – aber auch zwischen Jugoslawien einerseits und Deutschland, der Schweiz, Italien, Griechenland, Zypern, Bulgarien, Rumänien und Ungarn andererseits – werden wohl niemals durch exakte finanzhistorische Analysen aufzuarbeiten sein.

5. Heute weist Andreas Treichl, der Vorstandsvorsitzende der Erste Bank AG, der mittlerweile größten österreichischen Bank, die in Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien, Kroatien und in der Vojvodina engagiert ist, auf neue Herausforderungen hin:

„Es fehlt bei uns die Vorbereitung auf die sich ändernden Umstände in Zentral- und Osteuropa. Deutschland ist zwar noch immer der wichtigste Handelspartner Österreichs, aber der Prozentsatz der Ex- und Importe nach und von Deutschland hat stark abgenommen; der Anteil des Handels mit den benachbarten osteuropäischen Ländern wuchs dafür dramatisch. Die Politik in Osteuropa ist sehr marktwirtschaftlich orientiert – was sich auch in den dortigen Sozialsystemen widerspiegelt. Weiters sind die Arbeitskräfte noch relativ billig, und die Menschen haben eine gute Ausbildung; dazu kommt eine attraktive Steuergesetzgebung. All das zusammen ist natürlich für ausländische Investoren interessant. Wir sollten keine Angst davor haben, dass osteuropäische Arbeitskräfte zu uns kommen, vielmehr müssten wir den Arbeitsmarkt öffnen. Denn ich fürchte mich vor Zeiten, in denen wir von diesen Ländern auf Grund unserer aktuellen Arbeitsmarktpolitik schlechter behandelt werden; und zwar genau dann, wenn Österreicher in Osteuropa Arbeit finden könnten.”5

Die angebliche Furcht vieler Österreicher ist teilweise parteipolitisch unterfüttert, teilweise medial aufgebauscht. ÖGB und Arbeiterkammer – beide sozialdemokratisch dominiert – fürchten, dass bei vermehrter Aufnahme osteuropäischer Fachkräfte die ungelernten, daher wenig arbeitswilligen österreichischen Arbeitskräfte unter die Räder kommen, während die FPÖ nach wie vor versucht, eine unbestimmte „Angst vor Ausländern” zu schüren. Andererseits – und das ist eine der vielen österreichischen Schizophrenien – benötigen Österreichs Industrie, Gewerbe, Tourismus und Landwirtschaft dringend qualifizierte Arbeitskräfte, während Zehntausende ausländische Arbeitskräfte noch immer illegal den Bedarf im Pflege- und Haushaltsbereich abdecken und dabei gar nicht schlecht verdienen. Es ist daher zu hoffen, dass Österreich möglichst rasch den Arbeitsmarkt für qualifizierte Arbeitskräfte aus den neuen EU-Staaten öffnet, damit die großen Investitionen in Rumänien und Bulgarien keine Einbahnstraße bleiben. Denn die OMV und die Erste Bank sind ja in Rumänien auch unter die größten Arbeitgeber des Landes aufgerückt; daneben sollten die großartigen humanitären Engagements des Jesuitenpaters Georg Sporschill für die Straßenkinder in Bukarest und des Chirurgen Johannes Poigenfürst für ein modernes Krankenhaus in Temesvar nicht unterschätzt werden.

6. Die EU steht heute vor der Frage einer Beitrittsperspektive für Bosnien-Herzegowina, das seit einem Jahr wieder selbständige Montenegro, Makedonien, Serbien und Kosovo/Kosova. Freilich warten hier noch einige schwer beladene Problemrucksäcke, in denen noch immer auch Waffen und Sprengstoff versteckt sein können. Wolfgang Petritsch, der ehemalige österreichische Botschafter in Belgrad und Hohe Repräsentant in Bosnien-Herzegowina zwischen 1999 und 2002, konstatiert mit Recht, dass „diese ungelösten Konflikte im ehemaligen Jugoslawien wie kommunizierende Gefäße funktionieren. Indem man sich immer nur reaktiv von Konflikt zu Konflikt vortastete, hat man den Gesamtblick auf die Region verloren. [ ... ] Ich hoffe, dass die EU daraus lernt und bald ein Gesamt-Konzept für die robuste Heranführung der ganzen Region vorlegen wird.“6

Während die wirtschaftliche Entwicklung Bosniens und der Herzegowina dank westlicher Investitionen eine gewisse Aufwärtsbewegung zeigt, stagniert das politische Leben nach wie vor. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn kritisierte daher jüngst, dass man zur nationalistischen Mentalität der 1990er Jahre zurückgekehrt sei, und EU-Außenbeauftragter Javier Solana stellte resignierend fest, dass der Reformprozess in Bosnien und der Herzegowina zu einem völligen Stillstand gekommen sei. Als der deutsche Botschafter in Sarajevo, Michael Schmunk, Anfang August 2007 den etwas paternalistischen Rat gab, die Bevölkerung der Republik möge endlich eine Nation bilden (die Worte erinnern uns an den k.u.k. Finanzminister und Bosnien-Beauftragten Benjamin von Kállay), löste er einen Empörungssturm aus. Weder die Bosniaken (Bošnjaci), noch die Serben und Kroaten wollten und wollen etwas von einer einheitlichen bosnisch-herzegowinischen Nation wissen. In der Verfassungsdebatte wird auch täglich deutlich, dass der Traum vom „ethnisch-reinen” Staat noch nicht ausgeträumt ist. Der Regierungschef der Republika Srpska, Milorad Dodik, verlangt sogar eine weitere Föderalisierung des Staates und blockiert die Verfassungs- und Polizeireform. Das muslimische Mitglied des Staatspräsidiums, Haris Silajdžić, verlangt hingegen eine Regionalisierung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten, die multiethnische Regionen um die Städte Sarajevo, Mostar, Zenica, Tuzla und Banja Luka ergeben sollte. Und die Kroaten halten nicht nur an einer Teilung der Stadt Mostar fest, sondern verlangen auch eigene Gebietseinheiten im Nordwesten und Nordosten Bosniens. Ob wirklich zwei Drittel der Bosnier unter 30 Jahren ihre Heimat verlassen wollen, wie eine UN-Umfrage ergab, und zwei Drittel eine Mischehe als inakzeptabel bezeichnen, ist fraglich, glaubhaft ist allerdings, dass nur ein Drittel bereit wäre, Arbeit in einem Landesteil anzunehmen, in dem die eigene Nationalität nicht die Mehrheit stellt. Eine schwere Belastung für die Zukunft ist auch das geteilte Bildungssystem mit den geteilten Bildungsinhalten und der Vermittlung von konträren Geschichtsbildern. Der neue Hohe Repräsentant (und gleichzeitig EU-Vertreter), der slowakische Diplomat Miroslav Lajčák, der die Landessprache beherrscht, versuchte gleich mit praktischen Schritten, die Polizeireform voranzubringen, ohne die Sicherheitskräfte der Entitäten aufzulösen. Ob er freilich eine bessere Zusammenarbeit der zahlenmäßig leider überdimensionierten muslimischen, serbischen und kroatischen Politiker und Beamten erreichen wird, bleibt weiterhin fraglich. Angeblich vertraut nur knapp die Hälfte der Bosnier der EU – aber 70 Prozent wollen in die Union aufgenommen werden.7

7. Die Frage der künftigen Zugehörigkeit des Kosovo, albanisch Kosova, ist noch schwieriger, da mit prinzipiellen internationalen Problemen verbunden. Der Historiker muss allerdings darauf hinweisen, dass Serbien das damals osmanische Gebiet 1912 erobert hat, dass Serbien das Gebiet 1913 und neuerlich 1918 von der internationalen Gemeinschaft zugesprochen erhielt – ohne die albanische Bevölkerungsmehrheit zu befragen – und dass der Verbleib des Gebietes innerhalb Tito-Jugoslawiens 1945 gar nicht mehr zur Diskussion stand. Die von den Kosovo-Albanern ohne Widerstand akzeptierte kurzzeitige italienische und deutsche Besetzung des Landes zwischen April 1941 und Oktober 1944 wies aber bereits auf die Unzufriedenheit mit der jugoslawischen Verwaltung hin, die Tito 1946 mit einer Scheinautonomie für Kosovo i Metohija aufzufangen versuchte. Aber erst nach dem Sturz des mächtigen jugoslawischen Innenministers Alexander Ranković 1966 begann sich die Autonomie mit Inhalt zu füllen, wurde in Priština eine Universität mit albanischer Unterrichtssprache zugelassen und 1974 der autonome Status sogar ausgebaut. Die neue Herrschaft der Kosovo-Albaner wurde aber seit den ersten Gewaltausbrüchen unter albanischen Studenten und Arbeitern 1981 von wieder erstarkten serbischen nationalistischen Kreisen – einschließlich der Serbischen Akademie der Wissenschaften – in Frage gestellt, seit 1987 vom neuen serbischen KP-Chef Milošević unterlaufen, bekämpft und schließlich 1989 wiederum aufgehoben. Versuche des pazifistischen albanischen Führers Ibrahim Rugova, eine neue Vereinbarung mit Belgrad zu erreichen, wurden weder von Milošević noch von der internationalen Gemeinschaft in Dayton Ernst genommen.8

Wir wissen zwar, dass einer der Attentäter von Sarajevo, Vaso Čubrilović, bereits 1937 einen Aussiedlungsplan für die Kosovo-Albaner ausgearbeitet hatte, wir wissen allerdings nicht, wann Milošević den vermutlich mündlichen Befehl zur systematischen Vertreibung gab. Fest steht freilich, dass die Massenvertreibung nicht erst mit den NATO-Luftangriffen Ende März 1999 begann – weshalb die Angriffe auch nicht als Begründung für die Vertreibung herhalten können –, sondern bereits im Winter 1998/99 einsetzten. Auch die serbische Argumentation, dass bei der Bekämpfung der albanischen Guerilla-Armee der UÇK die Zivilbevölkerung nicht immer geschont werden konnte, erinnert eher an die in der jugoslawischen Historiographie heftig bekämpfte Argumentation der im besetzten Jugoslawien gegen die Partisanen eingesetzt gewesenen Waffen-SS-Division „Prinz Eugen”. Jedenfalls hat Serbien mit der Vertreibungsaktion – in der über 800.000 Kosovo-Albaner, also etwa die Hälfte, aus ihrer Heimat vertrieben wurden – die Verantwortung jedes Staates, seine Bürger zu schützen, eklatant verletzt und somit das moralische Recht verloren, sie weiterhin zu regieren. Die NATO hatte sich 1999 also zwischen den völkerrechtlichen Prinzipien der Respektierung der Souveränität eines Staates und der Einhaltung der Menschenrechte zu entscheiden gehabt – und sich für Letzteres entschieden.9

Nach acht Jahren UN-geführter Verwaltung steht nun die Entscheidung über die künftige Zugehörigkeit des mittlerweile zu 90 % von Albanern besiedelten Kosovo/Kosova an, die man unmittelbar nach dem Ende der NATO-Bombardements im Juni 1999 wohl rascher – damals natürlich einseitig – hatte lösen können. Unter dem serbischen Ministerpräsidenten Zoran Ðinœić, der im März 2003 von serbischen Ultra-Nationalisten ermordet wurde, wäre vermutlich eine Verhandlungslösung zu erreichen gewesen. So gesehen, war die intensive UN-Verhandlungsmission unter Führung von Martti Ahtisaari und Albert Rohan viel zu spät angesetzt. Die gegensätzlichen Standpunkte haben sich seit dem albanischen Gewaltausbruch gegen serbische Kirchen und Klöster im März 2004 zweifellos verhärtet: „Weniger als Unabhängigkeit, mehr als Autonomie” bietet die serbische Seite, „weitgehende Minderheitenrechte [für die Kosovo-Serben], aber jedenfalls die Souveränität” verlangt die albanische Seite. Die Blockade-Politik Russlands im Sicherheitsrat der UNO wird das Problem mit Sicherheit auch nicht lösen. Natürlich besteht die Gefahr, dass die Übertragung weitgehender Souveränitätsrechte an eine albanisch geführte Republik Kosova zu einem Präzedenzfall für Transnistrien, Abchasien, Südossetien und Nagornyj Karabach werden könnte. Andererseits ist die Gefahr zu sehen, dass ein Hinausschieben der Entscheidung sowohl die Sicherheit im Kosovo als auch im Zentralbalkan destabilisiert. Sollte es nicht bald zu einer internationalen Entscheidung kommen, ist mit einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Parlaments und der Regierung in Prishtina zu rechnen, was die internationale Gemeinschaft erst Recht zum Handeln zwänge. Vielleicht sollten sich die internationale Kontaktgruppe und die von ihr bestellte „Troika” nicht doch gewisse Kompromisse überlegen, anstatt an Prinzipien festzuhalten?

8. Der österreichische Zeithistoriker Michael Gehler bemängelt in seiner zweibändigen Synthese der österreichischen Außenpolitik seit 1945 eine geradlinigere, konsequentere und damit auch effektvollere österreichische „Mitteleuropa-Politik” – unter „Mitteleuropa” versteht er nicht das deutsche Mitteleuropa, sondern Ostmittel- und Südosteuropa. Obwohl von ihm minutiös dokumentiert, unterschätzt er als Professor in Innsbruck und nunmehr in Hildesheim die schon unter Bundeskanzler Klaus zur Mitte der 1960er Jahre angesetzten Initiativen im wirtschaftlichen und humanitären Bereich, den Beitrag von Bundeskanzler Kreisky zur europäischen Sicherheitspolitik in den 1970er Jahren durch Zusammenarbeit der „nonaligned and neutral states” und die aktiven Bemühungen Außenminister Mocks zur Aufhebung des „Eisernen Vorhanges” zu Ungarn und der Tschechoslowakei. Immerhin weist er auf Österreichs beachtliche Bemühungen zur Konfliktverhütung in Ex-Jugoslawien hin, die mitunter auch die Frage nach der Neutralität aufwarfen. Ob das „Mitteleuropa”-Engagement des Wissenschaftsministers und Vizekanzlers Busek wirklich nur ein „elitärer Diskurs” blieb, darf dank vieler wissenschafts- und bildungspolitischer Kooperationen von den Universitäten und Fachhochschulen bis zu den Gymnasien, Archiven und Museen, die mittlerweile selbsttragend geworden sind, doch bezweifelt werden. Aber auch die Bemühungen des Außenministers und Bundeskanzlers Schüssel im EU-Erweiterungsprozess seit 1998 sollten nicht unterschätzt werden. Dass es der österreichischen Außenpolitik nicht gelang, eine „strategische” oder „regionale Partnerschaft” aufzubauen, geht nicht in erster Linie auf das Konto des Ballhausplatzes, sondern auch auf das anderer Staatskanzleien. Richtig ist, dass eine engere Zusammenarbeit der Staaten Ostmittel- und Südosteuropas ein stärkeres Auftreten in gesamteuropäischen Fragen ermöglichen würde und vielleicht auch ein besseres Konzept für die Balkanpolitik der EU erwarten ließe.10

 

Head of the Institute for East European History at the University of Vienna

1

Michael Gehler, Der lange Weg nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Innsbruck – Wien – München – Bozen 2002; Tony Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, London – New York 2005.

2

Zu den Ursachen und dem Beginn des Jugoslawien-Konflikts vgl. Laura Silber - Alan Little, Bruderkrieg. Der Kampf um Titos Erbe, Graz - Wien - Köln 1995; Misha Glenny, The Fall of Yugoslavia. The Third Balkan War, London 1992; Janko Prunk, Slowenien. Ein Abriss seiner Geschichte, Ljubljana 1996; Ivo Goldstein, Croatia. A History, London 1999.

3

Richard Holbrooke, Meine Mission. Vom Krieg zum Frieden in Bosnien, München 1998.

4

Alois Mock (Hg.), Das Balkan-Dossier. Der Aggressionskrieg in Ex-Jugoslawien - Perspektiven für die Zukunft, dokumentiert von Herbert Vytiska, Wien 1997; Michael Gehler, Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts, Innsbruck - Wien - Bozen 2005, Bd. 2, 683-721.

5

Andreas Treichl, „Man unterschätzt den Osten”, in: Die Furche, 9. August 2007.

6

Wolfgang Petritsch, „Russland hat sich tief einbetoniert”, in: Die Presse, 7. September 2007, S. 7.

7

EU drängt Bosnien zu weiteren Reformschritten, in: Die Presse, 30. August 2007, S. 29; vgl. Noel Malcolm, Bosnia. A Short History, London 1994; Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Frankfurt am Main 1996; Mustafa Imamović, Bosnia and Herzegovina. Evolution of its political and legal institutions, Sarajevo 2006.

8

Radovan Samardžić [et alii], Kosovo und Metochien in der serbischen Geschichte, Lausanne 1989; Noel Malcolm, Kosovo. A Short History, New York 1998; Ibrahim Rugova, La question du Kosovo, Paris 1994; Florian Bieber, Židas Daskalovski (Eds.), Understanding the War in Kosovo, London - Portland 2003.

9

Nebojša Popov (Ed.), The Road to War in Serbia. Trauma and Catharsis, Budapest - New York 2000; Lenard J. Cohen, Serpent in the Bosom. The Rise and Fall of Slobodan Milošević, Boulder, Col. 2002; Germinal Civikov, Der Milošević-Prozess. Bericht eines Beobachters, Wien 2006.

10

Gehler, Österreichs Außenpolitik, Bd. 2, 1018 f. Bei einem Treffen der EU-Außenminister am 8. September 2007 im portugiesischen Atlantik-Städtchen Viana do Castelo kündigte Großbritannien an, den Kosovo sofort nach den USA anerkennen zu wollen, während sich Rumänien, Griechenland, die Slowakei und auch Spanien dagegen aussprachen. – Kurier, 9. September 2007, S. 8.