Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 3:65–73.
FERENC GLATZ
Ungarn, die EU und die Nationalitätenfrage
Abstand nehmen von jenen politischen Methoden, die in der Geschichte ein Fiasko erlitten
Das nationale Siedlungsgebiet und die territoriale-verwaltungsmäßige Einheit, der Staat, fielen im mitteleuropäischen Raum nie zusammen. Die Versuche, die in diesem Raum die territoriale Lage der Nationen und die Grenzen aneinander anpassen wollten, erlitten immer Misserfolge. Der österreichisch-ungarische Ausgleich des Jahres 1867 gewährte den Nationalitäten die liberale personelle Autonomie (d. h. den nicht deutsch-österreichischen und nicht ungarischen Bürgern), doch erkannte er sie nicht als politisch-nationale Kollektive an. So rissen diese sich bei der ersten bietenden Möglichkeiten von der Monarchie los. Das System der Kleinstaaten des Jahres 1920 brachte genauso Staatsformationen aus mehreren Nationen bestehend zustande wie der Ausgleich des Jahres 1867. Die Grenzkorrektionen zwischen 1938 und 1941 bewiesen es, dass die Gesellschaften dieser Region auch auf der Ebene der kleinen Gemeinschaften (der Siedlungen, der Familien) so gemischt sind, dass die Grenzverschiebungen nicht imstande sind, reine Nationalstaaten herauszubilden. (In Polen „war es gelungen” durch die Ausrottung, Aussiedlung und die Beraubung der Nationalität, der Litauer, Ukrainer, dann der Juden bzw. der Deutschen die 69,2 % ausmachende polnische Mehrheit des Jahres 1921 nach der Papierform bis zu dem Jahr 1956 in einen 96 %-igen Nationalstaat zu verzaubern.) Der große Einfall der siegreichen Koalition nach dem II. Weltkrieg führte zu keinem Ergebnis: die Aussiedlung der Minderheiten in jenen Staat, wo sie die Mehrheit bildeten (1945–1947), diese Methode musste auch aufgegeben werden. (150 000 Ungarn wurden aus der Slowakei bzw. aus Jugoslawien, 70 000 Slowaken aus Ungarn ausgesiedelt.)
Das sowjetische System unterschätzte im Geiste des proletarischen Internationalismus im Allgemeinen die Rolle der nationalen Identität. Auf paradoxe Weise erkannte es von der liberalen Doktrin ausgehend in erster Linie die staatsbürgerliche Identität, bzw. die soziale Identität, die Klassenidentität an. Für jeden Fall drückte er die Gegensätze der Minderheiten – wie so viele andere wirkliche Spannungen – unter die politische Öffentlichkeit.
Nach 1989 brachte dann die Demokratie des Mehrparteiensystems alle jene Emotionen und nationalen Feindseligkeiten, die in diesem Raum – aus dem als Ausgangspunkt erwähnten Widerspruch – aus der Abweichung des nationalen Siedlungsgebietes und der territorialen-verwaltungsmäßigen Grenzen resultierten, an die Oberfläche.
Nach dieser historisch-politischen Diagnose stellten wir die Frage: was ist zu tun? (Im Dezember 1991, nach dem Konflikt von Marosvásárhely [Tirgu Mures] und Pozsony [Bratislava, Preßburg] ließ der jugoslawische Bürgerkrieg es schon alle akzeptieren, dass die Minderheitenfrage, Nationalitätenfrage nicht die „destabilisierende Waffe der Ungarn” gegen die Sicherheit in Ost-Mittel-Europa darstellt, sondern sie ist eine allgemeine Konfliktquelle, die auch die sozialpolitische Transformation, die parlamentarische Demokratie und das institutionelle System der Marktwirtschaft gefährden.)
Heute und Morgen muss Ungarn es vor der Schwelle der EU klar und deutlich sehen; die Angelegenheiten der ungarischen und der ungarländischen Minderheiten sind nicht einfach eine „ungarische Angelegenheit”. Sie ist Bestandteil der Vielzahl der mitteleuropäischen Minderheitenfragen. Daraus geht hervor: wie unsere Nachbarn, müssen auch wir zur Kenntnis nehmen, dass wir Abstand nehmen müssen von jenen Mitteln, die in der Geschichte ein Fiasko erlitten. Weder die Grenzkorrektur, noch die Aussiedlung, noch der Raub der nationalen Eigenschaften mit administrativ-staatlichen Mitteln. Es bleibt also als Instrument die Regelung der kollektiven Rechte der nationalen Minderheiten übrig. Von den historischen Erfahrungen müssen wir auf jenen Spuren ausgehen, die in dieser Richtung eine Vorgeschichte bilden können. Doch geht daraus auch hervor, dass die juristische und politische Situation sowohl der nicht-ungarischen Minderheiten in Ungarn (der Sinti und Roma, der Deutschen, der Rumänen, Slowaken, Serben und Kroaten), als auch der ungarischen Minderheiten jenseits der Grenzen Ungarns nur auf der Grundlage der identischen Prinzipien geregelt werden kann.
Lokale Lösungen und internationale Garantien
Im Prozess des Abbaus der sowjetischen Zone kamen, wie bekannt, neue Staaten zustande (das selbständige Tschechien, die Slowakei, Kroatien, Serbien, Slowenien, Bosnien, ganz zu schweigen von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, von den selbständigen baltischen Staaten, von Weißrussland, von der Ukraine). Diese sind alle voller nationaler Minderheiten. (Bis zum Jahr 1990 war die größte nationale Minderheit des Raumes die ungarische. Am Ende dieses Prozesses, im Jahre 1994 war in einzelnen Nachfolgestaaten der Sowjetunion der Anteil der Mehrheitsnation schon auf unter 70 % gesunken.) Damit kann erklärt werden, dass die neuen Staaten im Augenblick ihres Entstehens auch – diskriminative Elemente enthaltende – Sprachgesetze (Weißrussland, Estland, Lettland, Litauen, Moldau, Slowakei, Serbien, die Ukraine usw.) oder Minderheitengesetze verabschieden. (Estland, Lettland, Litauen und vor ihrem Zerfall auch die Sowjetunion, da sie die zersprengende Kraft der Nationalitätenfrage verspürte – 26. April 1990.) Zur gleichen Zeit weisen „Parlamentsbeschlüsse” oder Verfassungsmodifizierungen darauf hin: den nationalen Minderheiten sollen juristische Garantien unterschiedlichen Typs gewährt werden zum Erleben ihrer kollektiven nationalen Existenz.
Doch ist es keine Übertreibung, aus diesem Faktor jene Schlussfolgerung zu ziehen, dass der Bestandteil des Abbaus der ehemaligen diktatorischen Staatseinrichtung die Anerkennung der unterschiedlichen kollektiven Rechte der nationalen Minderheiten ist. Oder wenn auch noch nicht von der juristischen Kodifizierung die Rede ist, merkten die Regierungen darauf auf, dass ein Grundelement des Ausbaus der politischen Demokratie die Sicherung der kollektiven nationalen Existenz der Minderheiten innerhalb des Staates darstellt.
Es kann nachgewiesen werden, dass dieser Prozess des Abbaus der ost-mitteleuropäischen sowjetischen Zone sich mit einem in Westeuropa vor sich gehenden Prozess trifft: mit der Erweiterung des Systems der Menschenrechte in Richtung der Anerkennung der ethnischen-nationalen Rechte. (Verweisen wir nur auf die Dokumente der Konferenzen in Kopenhagen, Paris und Moskau – Mai 1990 September 1991.; dann auf die Pariser Europacharta im September 1990 – auf den Carrington-Bericht 1991, usw.) Von den Veränderungen in Ost-Mitteleuropa wurde dieser Prozess noch beschleunigt. (Einen Wendepunkt bildet zweifelsohne der plötzliche positive Abschluss der mehrere Jahrzehnte dauernden Diskussion um die Südtirol-Autonomie.)
Aus all dem müssen auch Ungarn und seine Nachbarn folgende Schlussfolgerungen ziehen: die sich neu gestaltenden internationalen Normativen müssen apperzipiert werden; man muss die Möglichkeit nutzen, dass sich ein europäisches politisch-ethnisches Minderheitensystem herausbildet. Eine andere Schlussfolgerung: Es muss ein sich nach den Gegebenheiten dieses Raumes richtender politischer Verhaltenskodex ausgearbeitet werden, der als Diskussionsmaterial gelten kann.
So wurde im Frühjahr 1992 der Autonomieplan der Demokratischen Gemeinschaft der Ungarn in der Vojvodina abgeschlossen und so wurde als Arbeit des Verfassers dieser Zeilen ein Verhaltenskodex für die mitteleuropäische Minderheitenpolitik fertiggestellt. (Dieser wurde auf Anregung der Arbeitsgemeinschaft der Bertelsmann-Stiftung ausgearbeitet und von der Arbeitskommission Strategien und Optionen in Ostmitteleuropa im Mai 1992 diskutiert. Vom Text letzterer wurden 1000 Exemplare als Manuskript in deutscher Sprache verbreitet. 40 000 Exemplare wurden in ungarischer Sprache herausgegeben mit einer umfangreichen historisch-politisch-statistischen Dokumentation. Im April 1993 wurde diese Arbeit in deutscher, englischer, rumänischer und slowakischer Sprache herausgegeben. Diese Dokumente berücksichtigen auf die juristischen Studien auf (Ermacora, Brunner, Horowitz) und berücksichtigen die erwähnten europäischen und osteuropäischen politischen Prozesse.
Die Dokumente weisen darauf hin: ein Teil der Intelligenz dieses Raumes hält die lokalen Lösungen für zielführend. Dazu sollen internationale (europäische) Garantien beschafft werden. Sie deuten an; in diesem Raum wird jene politische Tendenz nicht für zweckmäßig gehalten, die „in den Westen läuft, um sich auf den Nachbarn zu beschweren” und bestrebt ist, durch ein nationales Lobbying in London, Paris, und Bonn „nationale Vergünstigungen” zu erreichen. Diese Bestrebungen weisen auch darauf hin, dass ein Teil der Intellektuellen und ein Teil der Politiker die nach 1989 freigesetzten nationalistischen Emotionen für die Erscheinung einer Übergangszeit halten. Wir halten es für notwendig, dass die verschiedenen Schichten der Gesellschaft die Jahrhunderte alten Beleidigungen aus sich herausreden, wollen aber danach streben, dass die Debatten nicht auf der Straße, sondern in erster Linie an den Verhandlungstischen entschieden werden. Wir sollen im Grunde genommen die Standpunkte voneinander kennenlernen und nach Lösungen suchen.
Die Frage ist, ob wohl die vier Jahre zwischen 1990 und 1994 ausreichten, dass die ethnischen, nationalen Wunden des Raumes aufbrechen, sich in ihrer ganzen Tiefe zeigen und dass die anfänglichen Emotionen sich beruhigen.
Das Maß der politischen Reife der Nationen dieses Raumes ist, ob sie auf den Einzug nach Europa vorbereitet sind, ob sie anstelle der Leidenschaften am Verhandlungstisch imstande sind, in konkreten Debatten konkrete politische Lösungen zu finden.
Westliche Anforderungen – östliche Bedingungen
Die Anforderung ist klar: die allgemeinen europäischen menschenrechtlichen und Minderheitengrundprinzipien, die europäischen Anforderungen von den Staaten des mitteleuropäischen Raumes zu verlangen, doch inzwischen auch die lokalen Bedingungen in Betracht zu ziehen. Westeuropäische Anforderungen, östliche Bedingungen. Auch für den ersten Augenblick fallen die Abweichungen in der osteuropäischen Siedlungsstruktur von Westeuropa auf, es fehlen die Traditionen der demokratischen Selbstverwaltung (Gemeindeautonomien) in der lokalen Verwaltung der Habsburgermonarchie bzw. des Königreiches Ungarn. Das Verwaltungssystem baut sich zentralisiert auf, so ist es schwer, im Allgemeinen die Verwaltungsautonomien einzubauen. Setzen wir die Aufzählung der Besonderheiten fort: die Ethnien sind nur in wenigen Fällen in einer territorial umgrenzten Einheit geblieben (Komitate, Rayone). Charakteristisch für den Raum ist die ethnische Vermischtheit auf personeller Ebene. Deshalb muss man offensichtlich die personelle Autonomie zum Ausgangspunkt nehmen, und die dazu einen Rahmen darstellende politische und kulturelle Autonomie im Landesrahmen. Doch gegenüber Westeuropa, verfügte in den einzelnen Ländern des Raumes (vor allem in den von der Orthodoxie beherrschten Gebieten) die Autonomie des Individuums im allgemeinen über eine geringere Wichtigkeit, und auch die vom Staat unabhängigen zivilen Organisationen haben nur wenig Traditionen. Das bedeutet, dass sowohl die lokale Gemeinde Verwaltung, als auch die personelle Autonomie oder die kulturellen-politischen Organisationen im Landesmaßstab, sie im allgemeinen (und nicht nur auf nationaler Grundlage) den politischen und gemeinschaftsorganisatorischen Traditionen dieses Raumes fremd sind.
Der abweichende Charakter der Bedingungen jedoch kann auf dem Gebiet der europäischen zivilen Anforderungen, des „Minimums” der Anforderungen nicht zu Zugeständnissen führen. Das „Minimum” ist wirtschaftlich-politischer und kultureller Bestandteil der Integration. Dieses Minimum wird in den über die erwähnten europäischen Dokumenten des Jahres 1990–1991 hinaus von den übrigen neueren Europäischen Vorschlägen der Jahre 1992 und 1993 formuliert. Diese Vorschläge fundieren, während sie von der lokalen Verwaltung (Selbstverwaltung) und von den menschenrechtlichen Anforderungen sprechen, die neue kontinentale Rechtsordnung des Lebens der kleinen Gemeinschaften. Von diesen wird in den Diskussionen über die Minderheitenpolitik heutzutage am häufigsten die Resolution Nr. 1201 des Europarates vom September 1993 zitiert, die die allgemeinste Zusammenfassung des Verhältnisses zwischen nationalen Minderheiten und dem Staat darstellt. (Wenig häufig werden die Stellungnahmen über die Selbstverwaltungen der Gemeinden zitiert, die es jedoch klar zeigen: für die stabilste Verwaltungseinheit der europäischen Gemeinschaftsordnung der Zukunft muss die Gemeinde gehalten werden.)
Die Dreifaltigkeit der Autonomien
Nach all dem sehen wir es wie folgt: den Rahmen des Zusammenlebens von Ungarn und Nicht-Ungarn kann das Dreier-Grundprinzip der Minderheitenautonomie bilden /Dies war auch schon die Grundlage unseres Vorschlages aus dem Jahr 1992/. Und zwar besteht sie aus folgenden: 1. Personelle Autonomie, 2. Politische und kulturelle Autonomie im Landesmaßstab, 3. Territoriale Autonomie.
1. Die personelle Autonomie bedeutet, dass der Staat jene juristischen, sozialen und kulturellen Bedingungen sichern muss, die zur persönlichen Chancengleichheit des zur Minderheit (zum Kollektiv) gehörenden Staatsbürgers notwendig sind. Der Bürger muss seine Muttersprache umfassend im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben gebrauchen können, muss seine Traditionen, Feste feiern, seine Symbole tragen dürfen, als Bürger muss er Vorschläge einbringen dürfen, von seinem Vermögen muss er kulturell-wirtschaftliche Vereinigungen auf ethnischer Grundlage bilden können, muss auf ethnisch-konfessioneller Grundlage Schulen unterhalten dürfen.
2. Zur Sicherung all dieser ist es jedoch erforderlich, das zweite Grundprinzip zu akzeptieren: auf staatlicher Ebene und auf ethnischer Grundlage politische und kulturelle Interessenvertretungsorgane mit Wirkungskreis im Landesmaßstab zu organisieren. Der Staat soll über einer bestimmten festgelegten Einwohnerzahl der Bevölkerung mit identischem Ethnikum kollektive Rechte gewähren. D.h. der Staat sichert Rechte den Gruppen von seinen Bürgern auf ethnischer Grundlage. (Minderheitenbeirate mit Landbefugnis, Landesselbstverwaltungen, in den Gemeinden über einer konkreten Einwohnerzahl – 10 oder 20 % – Minderheitenschulen, in den Gemeinden oder staatlichen Minderheitenschulen im Landesmaßstab in Sprengel eingeteilt. Mit verschiedenen Stufen der Schulbildung: Grund- und Mittelschule, Hochschule usw.) Diese sichern für das die personelle Autonomie genießende Individuum die institutionellen Rahmen.
3. Das dritte Prinzip: die Möglichkeit der territorialen Verwaltungsautonomie. Das Grundelement davon ist die Gemeindeautonomie, wenn die Einwohner der Gemeinde – ohne gegen die Gesamtheit des Verwaltungssystems d.h. des Staatssystems zu verstoßen – spezifische lokale Institutionen bilden können. Dies macht es möglich, nicht zwingend, dass im Falle des 51 %-igen Anteils die Sprache der Minderheiten innerhalb der Gemeinschaft den Rang einer offiziellen Amtssprache erhält. Als erste oder zweite Sprache. Schulen entsprechend den Anforderungen der Nationalitätenproportion. Über die Gemeindeautonomie hinaus ergibt sich die Möglichkeit dazu, dass aus mehreren Gemeinden mit einer identischen ethnischen Mehrheit ein auf ethnischer Grundlage sich organisierendes autonomes Gebiet zustande kommen kann. D.h. die Zentralverwaltung des Staates tritt an die lokalen, auf ethnischer Grundlage gebildeten territorialen Verwaltungsinstitutionen Rechte ab.
Diese Grundprinzipien sind an sich allein nicht neu, nur in ihrer gleichzeitigen Existenz. In der Minderheitenpolitik und in der Gesetzgebung zwischen 1848 und 1990 dieses Raumes ist es nachzuweisen, dass jedes hier entstandene Staatssystem bemüht war, irgendein Niveau der Autonomie zu sichern. Man könnte auch sagen, dass es in den Gesetzgebungen im allgemeinen in den von der politischen Elite ausgearbeiteten Rechtsnormen – viel mehr auch heute noch zu verwertende Elemente enthalten sind als in den Proklamationen, Programmdokumenten der von der Parteipolitik und der nationalen Intelligenz aufgehetzten nationalen Kämpfen. Nur einige Beispiele: Die Lehren des ersten „nationalen Krieges” jenes Raumes, des Freiheitskampfes von 1848/49 wurden von der führenden ungarischen politischen Schicht gezogen, und indem sie den doktrinären Liberalismus von 1848 aufgab, arbeitete sie das Nationalitätengesetz von Juli l849 aus. Allein dastehend sichert dies in Europa die vollständige personelle nationale Autonomie, auf Gemeindeebene sichert es sogar eines der Grundelemente der territorialen Autonomie. Die Sprache der Verwaltung ist die Sprache der lokalen Mehrheit. Auf kulturellem Gebiet sicherte es also eine territoriale Autonomie. – Das Nationalitätengesetz des Jahres 1868 sichert neben der personellen Autonomie (Sprachgebrauch im Unterricht auf der Grund- und Mittelstufe, im Parlament, vor dem Gericht) die kulturelle Autonomie im Landesmaßstab (über 20 % die Zweisprachigkeit in der Verwaltung, lokales Recht zur Gründung von Schulen) und eine beschränkte politische Autonomie (Organisation von Vereinigungen). Im Grunde genommen sicherten auch die neuen Kleinstaaten zwischen 1920 und 1938 dasselbe. (Ein Schritt voran im Verhältnis zu dem Früheren ist die Versprechung der internationalen Garantie der Minderheitenrechte.) Und wie die ungarische chauvinistische Mittelklasse um die Jahrhundertwende bemüht war, die Gültigkeit des ungarischen Nationalitätengesetzes zu sabotieren, macht auch die slowakische, und die rumänische Mittelklasse dasselbe mit den Minderheitengesetzen nach 1919. Obwohl diese von internationalen Verträgen garantiert werden. Machen wir keinen großen Sprung in der Zeit, führte auch die sowjetische Periode neue Maßnahmen ein: hielt sie eine Zeitlang auch ein, wenn sie auch unterdrückt wurden, den das Hochschulwesen in der Sprache der Minderheit (in Jugoslawien besonders berechtigt). In Rumänien wurde zwischen 1950 und 1966 auch eine ungarische territoriale Selbstverwaltung geschaffen. – Gegenstand eines historischen Studiums ist es, wie der neue Nationalismus nach 1968 in den ehemaligen sozialistischen Ländern auch die Überreste der Minderheitenautonomien zerschlug. (Auch in Ungarn wurde der umfassende Minderheitenunterricht in der Muttersprache beseitigt.)
Aus all dem geht eindeutig hervor: es ist nicht wahr, dass die Minderheitenautonomien im ost-mitteleuropäischen Raum keine Tradition haben, und dass jetzt mit ihrer Forderung, die „neue Situation” ausnutzend in Ungarn die Minderheiten und in den Nachländern die Ungarn auftreten. Nur kann es die Verwaltung der Nationalstaaten und die Mittelklasse wegen ihrer Erziehung nur schwer ertragen, dass in einzelnen Siedlungen die Verwaltung in rumänischer, deutscher oder slowakischer Sprache oder bei den Nachbarn in ungarischer Sprache abgewickelt wird. (Wir riskieren auch die Schlussfolgerung: die nationale Mittelklasse fürchtet sich natürlich davor, dass sie von dem in der Nationalsprache lernenden, lesenden, fernsehenden oder Rundfunk hörenden Publikum, d. h. von ihren materiellen Lebensbedingungen verliert.)
Die staatliche Administration hat konkrete Vorschläge auszuarbeiten über die Regelung der Minderheitenfrage, diese Vorschläge dienen dann als Grundlage der zwischenstaatlichen bi- und multilateralen Verhandlungen. Es muss zur Kenntnis genommen werden, dass auch die staatliche Verwaltungen „ungebildet” sind bei der Behandlung der Minderheitenkonflikte: ungebildet sowohl in juristischer als auch in politischer Hinsicht. Man muss zur Kenntnis nehmen: die hier lebenden Gesellschaften kennen die Bestrebungen des benachbarten Volkes gar nicht richtig. Die vergangenen 5 Jahre (l990–l995) waren noch zu wenig, dass die gegnerische Innervation von anderthalb Jahrhunderten ausstirbt.
Die EU-Fähigkeit erfordert also in der Minderheitenpolitik die Herausgestaltung der Rahmen eines Minderheiten-Autonomiesystems mit entschiedener Linienführung, die Verabschiedung von Minderheitengesetzen und den Ausbau eines europäischen sowie eines bilateralen Kontrollsystems.
Die Realität der Schwierigkeiten
1) Ungarn und auch seine Nachbarn müssen es zur Kenntnis nehmen, dass der Ausbau des Systems der Minderheitenrechte nur im gegenseitigen Verständnis erfolgen kann. Die erste Schwierigkeit ist also, dass von weder juristisch- noch wissenschaftlich definierbaren Anforderungen die Rede ist: gegenseitiges Verständnis, Vertrauen. Nicht einklagbare, nicht kontrollierbare Faktoren.
2) In diesem Raum ist im Vergleich zu Westeuropa die Zahl der wirtschaftlichen Kooperationen sehr niedrig. Die Tradition und das Fiasko des COMECON verringert den gegenseitigen Unternehmergeist noch mehr. Der staatliche Sektor und auch die Privatwirtschaft streben den Wirtschaften der weiter entwickelten (westlichen oder östlichen) Gebiete zu. So gibt es nur wenige alltägliche, nahe wirtschaftliche und Produktionsbeziehungen zwischen den Bürgern und den Unternehmen der hier befindlichen Staaten. Obwohl dieses Beziehungssystem der beste Förderer der Abnahme der Vorurteile sein könnte. Bis dieses nicht eintritt, wird die auf die Wählerstimmen gerichtete Parteipolitik immer die l50 Jahre alten Traditionen der fremdenfeindlichen Gefühle stärken.
3) Ein reales Problem ist die Einfügung des kollektiven Rechts in unser auf der Grundlage des individuellen Rechts aufgebautes europäisches Staatssystem. Hierfür einige Beispiele, die eher die Probleme verdeutlichen.
Erstens: elementare Anforderung des Erhalts der Minderheiten ist, dass ihnen als Kollektiv ein staatlicher Minderheitenunterricht aus dem Staatshaushalt garantiert werde. Doch erhöhen die Minderheitenschulen, da die Schülerzahlen geringer sind, die Unterhaltungskosten. Die Einschulung nach Schulsprengeln macht – besonders auf der Mittelstufe – den Ausbau eines Schülerheimsystems erforderlich. (Da die größere Hälfte des Raumes ethnisch gemischt ist, kann man über eine gegebene Ebene hinaus für einige oder ein Dutzend Kinder keine lokale Minderheitenschule eröffnen. Das bedeutet wiederum Mehrkosten.) Das bedeutet, dass auch der zur Mehrheitsnation gehörende Staatsbürger (disproportioniert) die kollektiven Rechte der Minderheit finanziert. Die Probleme werden auch dadurch erhöht, dass zur vollständigen kulturellen Autonomie auch die Sicherung des Studiums an Hochschulen und Universitäten gehört. Was für eine Auswahlmöglichkeit unter den Fachrichtungen soll der Staat für seine Minderheiten unterhalten? Von der Ägyptologie bis zur Mathematiker-Ausbildung, oder soll er nur die Kosten von gewissen Grundfachrichtungen, eventuell der Lehrerausbildung übernehmen? (Die Kosten sind auch auf diesen Gebieten viel höher als im Falle der in der Sprache der Mehrheit durchgeführten Ausbildung.)
Zweitens: zwischenstaatliche Probleme. Was kann der benachbarte Staat von diesen Sorgen übernehmen, mit seinem mehrheitsnationalen Schulsystem? Was kann bei der Ausbildung der in Ungarn lebenden Slowaken, Rumänen, Serben und Kroaten das Schulsystem unserer Nachbarn übernehmen, und der ungarische Staatshaushalt von der Ausbildung der dort ansässigen Ungarn? Wie kann es wiederum organisiert werden: Wie viel ist der ungarische Steuerzahler bereit zu opfern für die Ausbildung der außerhalb Ungarns lebenden Ungarn, für die Unterstützung der Forschung. Der Bürger könnte sich zu Wort melden: Wir zahlen doch für jenseits der Grenze Steuern; zuerst soll mein Kind Vergünstigungen in der Schule bekommen!
Drittens: Probleme um die politische Autonomie.
Die Selbstverwaltung im Landesmaßstab stellt mit einer inneren, beschränkten Rechtsnormungstätigkeit, und aus dem Budget bezahlten Beamten eine leicht akzeptierbare Anforderung dar. Wie soll sich aber die Vertretung der Minderheiten an die Gesetzgebung des Landes anpassen? Die territoriale Autonomie kann noch die einfachere sein – auch dann, wenn emotional gesehen diese am schwierigsten von Seiten der Mehrheit tolerierbar ist. In diesem Fall baut der Staat die territoriale Vertretung in sein legislatives Zentralsystem ein. Wie das unlängst Kroatien gemacht hat: unter der Bezeichnung Krajina gewährte es in einem von einigen Bezirken bestehenden Gebiet eine territoriale-verwaltungsmäßige Autonomie den dort als Mehrheit lebenden Serben. (Es ist also nicht davon die Rede, dass die territoriale Autonomie einem Verstoß gegen die territoriale Integrität des Staates gleichkommt.) Eine weitere Frage ist: wie kann die territoriale Autonomie und die Amtssprache des Staates kompatibel gemacht werden?
Außerdem: wie soll aber die Vertretung der Minderheit in den Streugebieten erfolgen? Sollen die der Minderheit angehörenden Staatsbürger über zwei Wahlrechte verfügen: einerseits als für die politischen Parteien stimmenden Wähler (Konservative, Sozialisten usw.), andererseits als für ihre ethnische Vertretung stimmende Bürger? Sollen von ihnen in dasselbe Parlament Vertreter von zwei Typen geschickt werden? Oder sollen wir wieder den Plan des Parlaments mit zwei Kammern überdenken? Wo in der einen Kammer die mit dem individuellen Recht gewählten, in der anderen Kammer die mit dem kollektiven Recht gewählten Abgeordneten ihren Platz haben. Soll der Parlamentarismus des Raumes getrennt in die Kammer der Bürger und in die der Interessenvertretungen (der Ethnien, der Kirchen, der Gewerkschaften, der kulturellen Institutionen usw.) organisiert werden?
Zur Lösung von Minderheitenkonflikten braucht man viel zu lernen, viel Geduld und lange Verhandlungen sind nötig. Richtige Politiker und keine Parteiapparatschiks, keine pragmatisch eingestellte Beamten sind nötig. Die Minderheitenfrage ist zu einem der wichtigsten Kernfragen der demokratischen Umbau unseres Verwaltungssystems und zur Kernfrage der Ausformung einer neuen politischen und Verhaltenskultur gewachsen. Alle Verträge können dem Fortschritt dienen wenn sie – und die unterschreibenden Partner – gut vorbereitet sind. Aber wir müssen darüber im Klaren sein, dass nur mit Unterzeichnungen – also mit Methoden der altmodischen Diplomatie – keine Probleme gelöst werden können. Und die ungelösten Probleme können die Konflikte wiederum anzünden.