Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:63–67.
PÉTER HANÁK
Die Gegenwärtigkeit der Geschichte
Das Mitteleuropäertum des István Szabó
Ein jeder Film István Szabós erzählt von uns, den Mitteleuropäern. Von uns – in der Mehrzahl, d.h. von verschiedensten Menschen und Gruppen und Völkern. Existiert aber überhaupt ein solcher Mensch, einer mitteleuropäischen Geistes und Charakters? Einige, vielleicht nicht einmal wenige, werden dem zustimmen: ja es gibt ihn, oder zumindest hätte man es gern, würde er existieren. Vermutlich werden umso mehr die Existenz dieser Spezies abstreiten und sie verpönen, sollte es die geben.
Worin zeigt sich dieser mitteleuropäische Geist und Charakter? Laut Definition von Milosz Czeslav ist „der auffälligste Zug der mitteleuropäischen Literatur – bzw. Mentalität – das historische Bewusstsein sowohl in Bezug auf die Vergangenheit als auch die Gegenwart. In der Literatur des Westens ist die Zeit neutral, farb- und schwerelos”. In unserer Region aber ist sie „zäh, verkrampft, voller Überraschungen” – und Tragödien. „Vielleicht deshalb, weil die Zeit mit der die nationale Gemeinschaft bedrohenden Gefahr assoziiert wird”. „Die alltägliche Gegenwart der Geschichte ist nirgendwo auf der Welt dermaßen evident, eine derart fassbare Realität, wie in Mitteleuropa”.
Szabós Antwort auf dieselbe Frage lautet: „Die Geschichte hat sich wahrscheinlich niemals, nirgendwo anders dermaßen drastisch und unausweichbar in das alltägliche Leben des Menschen, sein Schicksal, seinen Charakter eingemischt, wie in diesem Winkel der Welt.”
Die Aufzeichnung von Milosz stammt aus dem Jahre 1986, er hat sie an der Westküste Amerikas niedergeschrieben, Szabós Notiz datiert aus dem Jahre 1987 und aus Budapest. Wenn gleichzeitig zwei herausragende schöpferische Intellektuelle an zwei weit voneinander entfernt liegenden Punkten der Welt nahezu Wort für Wort übereinstimmend die Rolle der Geschichte in Mitteleuropa auslegen, dann fällt das sicherlich mit entsprechendem Gewicht in die Waagschale einer Charakterisierung der Region. Auf jeden Fall wird unterstrichen, dass es sich in Mitteleuropa bei der Geschichte nicht um eine Erzählung, eine Parabel, eine „Story” handelt, sondern um die alltägliche Evidenz, die Gegenwärtigkeit, welche überschattet ist vom Tragikum – egal ob wir Vergangenheit oder auch Zukunft heraufbeschwören. Hinsichtlich der „Bezwingung” der Vergangenheit, bzw. wie man so schön sagt: ihrer „Aufarbeitung” kam dem Film eine bedeutende und spezifische Aufgabe zu. Aus dem Stegreif sollte an dieser Stelle nur an die unvergesslichen Filme von Fábry, Jancsó, Makk, Sára, Kósa, Bacsó und selbstverständlich Szabó erinnert werden. Bei meiner Generation erwecken sie die Stimmung einer lebendigen Gegenwärtigkeit, bei der jüngeren jene der Vertrautheit.
Worin besteht nun dieses Mitteleuropäertum? Es soll an dieser Stelle nicht auf die kulinarischen Reziprozitäten eingegangen werden, wie Wiener Schnitzel, Gulasch, Knödel, auch nicht auf die übrigens bedeutsamen Identitäten wie Kaffeehaus, Schauspielhaus, Krankenhaus, Walzer, Tschardas und Operette. István Szabó hebt an einer Stelle die Kultur, das nationale Schicksal, die gewisse Gemeinschaft der Tradition hervor. „Die Anschauung der in dieser Region lebenden Menschen, ihrer Völker ... ist durch das gemeinsame historische Erlebnis und eine ebensolche Erfahrung miteinander verknüpft” – und in der Verwandtschaftsforschung können wir noch tiefer schürfen.
Als einst Bernard Malamud in Budapest weilte, fragte man den hervorragenden amerikanischen Schriftsteller, was seiner Meinung nach der Unterschied zwischen den Budapestern und New Yorkern sei. „Wenn sich in New York in einer Gesellschaft zwei Intellektuelle miteinander bekanntmachen, dann fragt man sich gegenseitig: wie viele Jahre hast Du in der Analyse /beim Psychiater/ verbracht? In Budapest hingegen lautet die Frage: wie viele Jahre hast Du im Gefängnis verbracht? /Ich ergänze noch: im Lager, in der Aussiedlung, in der Verbannung./ Auf einem Kontinent geht es also um den von der Analyse erhofften Schicksalswandel, auf dem anderen um die vom Schicksalswandel erhoffte Freiheit. Dies ist kein geringfügiger Unterschied! István Szabó erachtet in unserem Jahrhundert die Ungewissheit, den Mangel an Sicherheitsgefühl als den charakteristischen gemeinsamen Zug. „Rückblickend ist offensichtlich, dass jeder meiner Filme dasselbe Thema hat: den Kampf des Menschen zwecks Erlangung eines Sicherheitsgefühls.” Dieser Kampf verkümmert nicht selten zum Opportunismus, geht in einen Positionskampf über und klammert sich dann, aussichtslos werdend, zumeist an die subhistorische Vegetation. Das Ziel ist derzeit schon allein das nackte Überleben.
Es scheint logisch, hier zu überlegen, inwiefern wohl der Charakter des Menschen mit jenem der Region in einem Zusammenhang stünde.
Ein charakteristischer Zug Mitteleuropas ist die Relativität des Seins. Unsere Übergangsregion war schon immer eine in Abhängigkeit von den beiden stabilen Nachbarn West und Ost bzw. deren Verhältnis zueinander, und daraus folgte dann die Unbeständigkeit unserer Grenzen, der internen Gliederung sowie der Zugehörigkeit. Die oftmals gestellte Frage, wo denn wohl die Grenzen eines Mitteleuropa zu ziehen seien, falls es tatsächlich existiere, zeugt also nicht gerade von Scharfsinn. Denn jene sind dort, wo die Ostgrenzen des Westens und die Westgrenzen des Ostens verlaufen – die ebenso veränderlich und vage sind, wie jene der Zwischenregionen. Nicht allein Grenzen und Strukturen Mitteleuropas sind relativ, sondern sein ganzes Sein ist es. Und es gibt keinen besseren Beweis dafür, als die zur Stereotypie erstarrte Definition von der historischen Rückständigkeit der Region. Es stimmt zwar, dass diese Region im Vergleich zum Westen zurückgeblieben war – vor allem, wenn man an die Gebiete östlich von Elbe und Donau denkt, doch war sie im Vergleich zum Osten doch hoch entwickelt und galt als Vermittler von Glauben, Ideen, Stilrichtungen. Diese über Jahrhunderte hinweg bestehende historische Situation hat tiefe und bleibende Reflexe sowie Seinsevidenzen in die geistige und künstlerische Mentalität eingefleischt.
Zwillingsschwester der Relativität ist die Marginalität der mittleren Region, wofür schon die geographische Lage eine Basis darstellt. Diese Region erfasst drei Klimazonen: die mediterrane, die der Alpen und jene der Karpaten. Diese wiederum stimmen praktisch mit drei Kulturbereichen überein: dem lateinischen (italienischen), jenem der Germanen bzw. der Slawen. Einst war die Region Grenzgebiet des Römischen Reiches und dann des westlichen Christentums und des Deutschen Kaiserreiches, ab der Neuzeit aber ist sie Randgebiet der westlichen (atlantischen) Zivilisation. Bis hierher, bis zur Weichsel und den Bergketten der Karpaten drangen Gotik und Renaissance, Protestantismus, Liberalismus, und Parlamentarismus vor, die Kodifizierung der Menschen- und Bürgerrechte – auch wenn Mitteleuropa nicht gerade ein Musterbeispiel für die Geltendmachung dieser Rechte war.
Wenn wir nun zu Relativität und Marginalität als Dritten im Bunde den Bruder Pluralismus hinzuziehen, entfaltet sich die außerordentliche Komplexität der Region vollkommen: sämtliche Staaten sind multinationale und ihre Völker multikonfessionelle. Ein Dutzend Nationen, noch mehr kleinere Ethniken und neun Glaubensgemeinschaften lebten zumeist nicht eben friedlich nebeneinander und miteinander vermischt, sämtliche in der Marginalität, und zwar nicht nur am Rande von Kontinenten und Regionen, sondern ebenso an jenem von Sein und Nichtsein. Relativität, Marginalität sowie vielfache Pluralität sind jene im Sein und Bewusstsein verankerten Spezifika, welche die mitteleuropäische Intelligenz jeder Neuerung gegenüber so empfänglich machten, egal ob von Sezession oder Avantgarde, Existenzialismus oder Relativitätstheorie und ihrer Rezeption oder auch Entdeckung die Rede war. Sozusagen nur als Illustration sollen an dieser Stelle kurz Namen wie Ernst Mach, Freud, Klimt, Kafka, Wyspianski oder die Ungarn Ady, Krúdy, Gulácsy, Bartók, Karinthy, Kosztolányi, Géza Csáth erwähnt werden.
Was ich hier in der Fachsprache einer mit Sozialpsychologie gekreuzten Kulturgeschichte erörterte, das drückt auch István Szabó in seinen Werken mittels der Sprache des Films aus, d.h. mit der Methode der Visualität und gefühlsmäßigen Berührung, und zwar selbst dann, wenn er keinen historischen Film dreht. Werte- und Ichverlust, Ungewissheit und Relativität, Marginalität und Überlebenszwang – dies sind die Schlüsselworte der gedanklichen und historischen Verwandtschaft. Doch über diese gedanklichen Elemente hinaus greift Szabó mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen zwei äußerst moderne, problematische Fragen der Geschichte auf. Seit Jahren beschäftigt mich das den tatsächlichen Lauf der Geschichte stark beeinflussende Verhältnis, welches zwischen Individuum und historischer Situation besteht. Bekannt ist, dass es unzählige Typen gibt, vom Revolutionär über den Reformer, hin zum Passiven oder Konservativen. Darüber hinaus ist das Individuum an sich kein invarianter charakterformender Faktor, sondern selbst komplex und veränderlich. Ebenso vielfältig sind die Situationen, von den seltenen, revolutionären über die des Reformzeitalters hin zu jenen der als stehendes Gewässer erscheinenden Restaurationsepochen. Über die Methodik hinausgehend lautet die historische Frage nun schon: inwiefern entsprechen sich historisches Individuum und gegebene Situation wohl gegenseitig? In dieser Hinsicht sind zwei extreme Varianten möglich: die perfekte Anpassung, wie z.B. im Falle der Staatsmänner des Reformzeitalters und ihrer Epoche oder auch der restaurativen Konservativen in der Zwischenkriegszeit. Auf der anderen Seite ist da die vollkommene Nichtentsprechung, die unvermeidbare Konfliktsituation, aus welcher entweder die Vernichtung des entgegengesetzten Individuums oder das Verlorengehen der Situation folgt – oder auch beides. Vielleicht würde es sich lohnen, an dieser Stelle historische Beispiele von István Széchenyi bis Pál Teleki zu erwähnen, doch ist die Erörterung fachlicher Theorien an dieser Stelle nicht meine Aufgabe.
Nun, Szabó zeigt anhand von Einzelfällen wissentlich das mit der Situation harmonisierende oder disharmonisierende Schicksal seines Helden gemäß den klassischen dramatischen Konflikten. Er sagte, dass es eine große Überfahrung sei, wie Verlauf der Geschichte, Bewegung der Gesellschaft sowie einzelne Charaktere aufeinanderstoßen würden. Auf die Herausforderungen der Gesellschaften reagiert der menschliche Charakter auf verschiedene Art und Weise. „Eine bewegte Geschichte ergibt sich immer dann, wenn eine besonders interessante Persönlichkeit und die historisch-gesellschaftliche Herausforderung aufeinanderprallen. Daraus wiederum ergeben sich Aufstieg oder Untergang, immer in Abhängigkeit vom Charakter.” In diesem Zusammenhang erwähnt Szabó als Beispiel den Helden im „Mephisto”, einen opportunistischen Charakter, der sich solange mit dem Strom treiben ließ, bis ihn der keinen Opportunismus duldende Faschismus vor ein moralisches Dilemma stellte. Ein ähnlicher Konflikt zeichnet sich im „Oberst Redl” ab. Bei ihm handelt es sich um den untertänigen Charakter, der im Verlaufe seiner Anpassung die Identität zu wechseln wünscht und schließlich zu Ichverlust und Selbstaufgabe gelangt. „Hanussen”, dieser phantastisch begabte Mensch geht daran zugrunde, dass er sich um ein Vierteljahrhundert verspätete. Nicht zur Zeit des Geniekultes der Jahrhundertwende, sondern während des Krieges bzw. danach entdeckte er seine spezifischen Fähigkeiten als Hellseher. (Groß ist die Versuchung, in unserer gegenwärtigen, nach Kompromissen verlangenden Reformepoche den Geist eines Ferenc Deák oder Kálmán Tisza heraufzubeschwören...)
Ein weiterer Problemkreis erstreckt sich ausschließlich auf die Bereiche von Humanität und Moralität. Wo liegt unsere Verantwortung, die der Führungskräfte, Politiker und Gelehrten hinsichtlich der geschichtlichen Tragödie unseres Jahrhunderts? Gibt es überhaupt einen Verantwortlichen, ist denn die Suche nach einem Schuldigen, die Übernahme der Verantwortung, die „Selbstzerfleischung” vonnöten? Das Problem ist von größter Aktualität, denn sowohl bei uns als auch bei den Nachbarn hat eine Art „subhistorischer” und „subethischer” Unschuldskomplex die Oberhand gewonnen. Wir sind unschuldig! Die Deutschen, die Russen, Hitler, Szálasi oder Stalin sowie Rákosi sind die Verantwortlichen – ja, auch die Fatalität. Szabó hält sich in dieser Hinsicht an einen Oszkár Jászi und István Bibó: „Ich erachte es als das Gefährlichste für eine Gesellschaft, wenn man nicht offen mit sich selbst umgeht, wenn man nicht dafür geradesteht, was man getan hat.” In diesem Satz ist sozusagen die oftmals zitierte, jedoch als moralischer Imperativus kaum anerkannte Zeile Attila Józsefs verborgen – es ist ein ausreichend großer Kampf, dass die Vergangenheit eingestanden werden muss. Szabó nahm und nimmt diesen Kampf auf sich. Ihn schreckt selbst jene Tatsache nicht, dass es dabei nicht um einen populären oder Wahlslogan, nicht um eine europäische Norm geht. Dabei sind nicht die in Kriegssituationen begangenen kleineren/größeren Sünden die Hauptsünden – Hauptsünde ist das Verschweigen. „Das dient nämlich der Beruhigung der Gesellschaft, da sie nicht verantwortlich sei. Denn wenn eine Gesellschaft sich nicht dieser Verantwortung bewusst ist, dann bringt sie auch nicht die Energie auf, sich selbst zu bezwingen und voranzuschreiten. Ich glaube, es ist der größte Frevel hier in Mitteleuropa – nicht nur in Ungarn, weil für Österreich dasselbe zutrifft: es ist immer wieder gelungen, die Konfrontation mit dem geistigen Zustand der Gesellschaft hinauszuschieben”.
Es gibt aber auch ein gutes, zu befolgendes ethisches Beispiel: die deutsche Autognosie nach dem zweiten Weltkrieg. Ich glaube, meinte Szabó im Jahre 1992, dass es eine der größten Taten der deutschen Gesellschaft im Verlaufe der Geschichte seit ihrem Bestehen war, dass sie von der gesamten deutschen Gesellschaft für das Dritte Reich Rechenschaft forderte. Deshalb habe man die Krankheit des Faschismus selbst besiegen können. Auch wenn im heutigen Deutschland rassistische und militaristische Ausschreitungen vorkommen, so kann doch Szabó zugestimmt werden, weil der Großteil der deutschen Gesellschaft immun ist gegenüber einer Ansteckung von Rassismus oder aggressivem Militarismus. Zu verdanken ist dies in nicht geringem Maße den Schriftkundigen, Schriftstellern und Historikern. Sie hatten einen großen Anteil daran, was uns nur teilweise oder gelegentlich in geringem Umfange gelang: an der geistig-gefühlsmäßigen Aufarbeitung, der „Bezwingung” der Geschichte. Die Deutschen bezeichnen dies als „Bewältigung der Vergangenheit”. Verständnis und Übernahme dieser äußerst schwierigen Aufgabe – das sind die engsten Familienbande, die das Ethos der europäischen und unserer nationalen Geschichtsschreibung mit dem künstlerischen Ethos von István Szabó verknüpfen.