Europäische Integration und nationale Interessen
Bericht
über die Tätigkeit des Europa Institutes Budapest
1995–1996
Die Gründer des Europa Institutes Budapest waren in erster Linie von jener Absicht geleitet, mit ihren eigenen bescheidenen Mitteln zur europäischen Integration Ungarns beizutragen. Dabei aber waren sich die Gründer auch darüber im Klaren, dass sich dieser Integrationsprozess über viele Jahre hinweg erstrecken würde. Alle nach 1990 die Regierung bildenden politischen Kräfte haben in irgendeiner Form die europäische Integration Ungarns als ein Regierungsprogramm angesehen. Die ersten Schritte, die noch Ende der 80-er Jahre unternommen und zu Beginn der 90-er Jahre dann fortgesetzt wurden, zeigen jetzt erste Ergebnisse. Im vergangenen Jahr fanden Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und Ungarn in umfangreicherem Maße statt – so wie sie auch zwischen der EU und anderen ehemals sozialistischen Ländern in beschleunigtem Tempo erfolgten. Diese Verhandlungen wurden bzw. werden im Rahmen der verschiedensten Arbeitsgruppen geführt, d. h. nicht allein die Regierungsverwaltung ist dafür zuständig. Es hat sich eindeutig herausgestellt, dass anlässlich dieser Integrationsverhandlungen jene Staaten im Vorteil sind, in denen sich nicht allein der Regierungsapparat auf das Zwiegespräch mit der Europäischen Union vorbereitet hat, sondern in denen darüber hinaus Zivilorganisationen existieren, die hinsichtlich konkreter Bereiche der Integration Partner unterschiedlichster europäischer Zivilorganisationen oder gar der Brüsseler Verwaltung sein können. Wohlbekannt ist, dass die Administration in Brüssel ein reales Bild über künftige Mitgliedsstaaten der EU zu erhalten wünscht (vor allem nach dem Beitritt Portugals und Griechenlands). Weiterhin ist sich der Verwaltungsapparat in Brüssel darüber im Klaren, dass Regierungskräfte geneigt sind, das über ihr eigenes Land entworfene Bild zu beschönigen. Aus diesem Grunde ist man im Verlaufe von Verhandlungen mit assoziierten Ländern besonders darum bemüht, neben der Meinung der jeweiligen Regierungsparteien auch jene der Oppositionskräfte bzw. die von unabhängigen Zivilorganen fern jeder parteipolitischen Sphäre kennenzulernen. Denn wie bekannt, ist u.a. ja gerade die politische Toleranz einer der bedeutendsten Faktoren auf der Farbplatte der Image-Gestaltung eines Landes. Mit anderen Worten jene Tatsache, in welchem Maße Politiker assoziierter und vor der Aufnahme stehender Staaten dazu in der Lage sind, auf korrekte Weise einen gegenseitigen Meinungsaustausch oder auch Debatten zu führen.
Zivilorganisationen und Integration
Das Europa Institut Budapest hat in den vergangenen anderthalb Jahren bei solchen Verhandlungen eine bedeutende Rolle gespielt. Das Institut hat sich als stärkstes ungarisches Zivilorgan auf diesem Gebiet erwiesen und war unter anderem Veranstalter der gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung organisierten internationalen Konferenz, auf der die EU-Fähigkeit Ungarns erörtert wurde. Erreicht hat das Institut diese Position damit, dass es im Verlaufe der vergangenen Jahre mit seinen Vorträgen und Veranstaltungen den Beweis für seine Unparteilichkeit lieferte. Auch die politischen Parteien Ungarns haben diese unparteiische Haltung akzeptiert, womit wiederum das Institut erreichte, dass die hervorragendsten Experten des heimischen geistigen Lebens anlässlich der Vorträge und Veranstaltungen erschienen. Gleichzeitig hat die Leitung des Institutes eine enge Zusammenarbeit über die Bertelsmann-Stiftung hinaus mit dem Institut für Europaforschung in Deutschland, mit Sitz zunächst in Mainz und später dann in München, herausgebildet. Die Forschungsgruppe Europa und die Bertelsmann-Stiftung haben ein dahingehendes Abkommen getroffen, für Brüssel Exposés betreffs der Möglichkeiten einer Ausweitung der EU nach Osten zu formulieren. Die Bertelsmann-Stiftung hat im Rahmen ihrer großzügigen Geschäfts- und Kulturpolitik eine ganze Reihe von Projekten ins Leben gerufen, die auf die Möglichkeiten einer Osterweiterung der EU eingingen. Diese Projekte erörterten einerseits strategische, ökonomische sowie politische Probleme, zum anderen hingegen die EU-Fähigkeit der einzelnen Länder. Bereits 1991 kam es zur Zusammenarbeit zwischen der Forschungsgruppe Europa und dem Europa Institut Budapest, im Ergebnis welcher der Direktor des Institutes in jene Tätigkeit einbezogen wurde, die auf die osteuropäische Erweiterung der EU ausgerichtet war. Das Europa Institut Budapest gehörte damit jenem Netzwerk an, das die Bertelsmann-Stiftung in den einstmals sozialistischen Ländern errichtete. Auf diese Weise gestaltete sich das Europa Institut Budapest zu einem der Organisatoren der mit Ungarn im Zusammenhang stehenden Erhebungen oder bezüglich gewisser Probleme sogar zu einem Stützpfeiler der die Region global abhandelnden Projekte (so z. B. die Minderheitenfrage).
Im Laufe des vergangenen Jahres wurden von uns mehrere solcher Vorträge und Konferenzen veranstaltet, die sich mit der europäischen Integration Ungarns befassten. So organisierte das Institut gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung und dem Forschungsinstitut für Weltwirtschaft die zweitägige Konferenz „Die Integrationsfähigkeit Ungarns in die Europäische Union”, an der sich neben den leitenden Kräften des heimischen politischen Lebens, dem gegenwärtigen Regierungsapparat, auch Staatssekretäre aus der Periode vor 1994 ebenso wie führende Persönlichkeiten der hiesigen Elite-Intelligenz beteiligten. Wie bei der Veranstaltung ähnlichen Typs im vergangenen Jahr (die im Bericht des letzten Jahres kurz erwähnt wurde) haben sich sowohl Veranstalter als auch anwesende Vertreter der Brüsseler Verwaltung anerkennend darüber geäußert. Es wurden zu Fragen von Außenpolitik, Ökonomie und gesellschaftlicher Prozesse (wie Arbeitslosigkeit, Arbeitskräftemarkt usw.) bzw. Angelegenheiten kultureller Institutionen niveauvolle Referate gehalten sowie äußerst rege Debatten geführt. Das Material ist bereits für die Veröffentlichung in der Jahrbuchserie des Institutes vorbereitet worden. Ebenso zur Veranstaltungsreihe im Zusammenhang mit der Europäischen Union zählt die gemeinsam mit dem Deutsch-Ungarischen Forum und der Europäischen Bewegung organisierte Konferenz „Europäische Integration und nationale Interessen – Ungarn und Deutschland im Prozess der Erweiterung der Europäischen Union”. Die Begrüßung erfolgte seitens Domokos Kosáry, Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Europa Institutes Budapest, den einleitenden Vortrag hielt der Direktor unseres Institutes. Weiterhin gestaltete sich das Europa Institut gleichermaßen zur Heimstatt des von der deutschen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth empfohlenen Europa Dialogs. Auf diese Weise erfolgt neben dem ungarischen Komitee der Europäischen Bewegung (mit dem Vorsitzenden Domokos Kosáry und dem Generalsekretär Attila Pók, dem stellvertretenden Direktor unseres Institutes) auch die Organisation des anderen bedeutenden europäischen Zivilorgans, des Europa Dialogs, im Rahmen unseres Institutes. Erfüllt wurde somit die Zielstellung der Gründer: innerhalb von sechs Jahren ist das Institut zur Heimstatt ungarischer Zivilorganisationen geworden, die sich mit der europäischen Integration befassen. Bestandteil unserer kulturpolitischen Organisationstätigkeit im Zusammenhang mit der europäischen Integration ist darüber hinaus jener Fakt, dass es zum Vertragsverhältnis zwischen der deutschen Forschungsgruppe Europa und der Bertelsmann-Stiftung sowie dem Europa Institut kam. Monatlich liefert das Institut eine Dokumentation darüber, wie die ungarische Presse auf einzelne Bereiche der europäischen Integration eingeht. Diese Dokumentation bildet die Grundlage für jene Resümees, welche von der deutschen Forschungsgruppe Europa der Brüsseler Verwaltung zugesandt werden und für letztere somit die kontinuierliche Informationsquelle über Ungarn darstellen. Mit anderen Worten – das Institut erfüllt eine „nationale Bestimmung” in ihrer schönsten Form und ist gleichzeitig der eine Lieferer von Informationen aus/ über Ungarn via Brüssel. (Getragen werden sämtliche Kosten der Dokumentationsarbeit selbstverständlich von der Münchener Institution bzw. der Bertelsmann-Stiftung.)
Die Integration und die ungarische Gesellschaft
Die Integration der mitteleuropäischen Länder geht mit zahlreichen wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Problemen einher. Eine der Aufgaben des Institutes ist das wissenschaftliche Herangehen an diese mit dem Wandel verbundenen Schwierigkeiten. Mehrmals haben der Wissenschaftliche Beirat und der Stiftungsrat des Institutes während der letzten Jahre die Thematiken der von uns abgehandelten Projekte erörtert, welche auch im Verlaufe des vergangenen Jahres fortgesetzt wurden.
Es finden weiterhin unsere wirtschaftspolitischen Seminare statt, und zwar unter dem Motto „Probleme der Marktwirtschaft”. In diesen Themenbereich entfiel u.a. der Vortrag des weltberühmten Wirtschaftsprofessors János Kornai anlässlich unseres diesjährigen Memorial Lectures (zu welchem auch der Staatspräsident erschien). Makroökonomische Probleme der europäischen Integration und Ungarns handelte der Vortrag von András Inotai ab (der z. B. der Leiter des Parlamentsausschusses für die wissenschaftliche Vorbereitung Ungarns europäischer Integration ist). Probleme der ungarischen Landwirtschaft und der Europäischen Union erörterten der Landwirtschaftsminister a.D. Csaba Hütter sowie der Leiter des Forschungsinstitutes für Agrarwesen Gyula Varga. Sowohl der Memorial Lecture als auch die beiden Seminarvorträge hatten ein äußerst reges gesellschaftliches Interesse als Begleiterscheinung zu verzeichnen. Anwesend waren die Leiter der Parlamentsausschüsse, Abgeordnete des Parlaments, führende Regierungskräfte (einstige sowie gegenwärtige Minister bzw. Staatssekretäre gleichermaßen), ebenso wie Mitglieder von Wirtschaftsverbänden, -kammern oder auch der Akademie der Wissenschaften. (Die Materialien von Vorträgen und Seminaren wünschen wir in der Jahrbuchserie des Institutes zu veröffentlichen.)
Zu den weniger spektakulären aber umso problematischeren Themenbereichen der europäischen Integration gehört die Migration Mitteleuropas. Das gilt in erster Linie für Ungarn, denn das Land liegt an der Westgrenze zur EU und nicht zuletzt auf dem Wege der Wogen von Arbeitskräften aus dem Osten, wie z. B. Russland, Ukraine, Rumänien oder Südslawische Gebiete. Die ungarische Öffentlichkeit ist gezwungen auf Tausende von Problemen ungeklärten Arbeitsrechts, jene der Arbeitnehmer und allgemeiner Sicherheit zu achten. Und eben aufgrund dieser Konflikte kommt es nicht selten zu einer Konfrontation der Gesellschaft mit der Integration an sich. Schon aus diesem Grunde ist das Europa Institut Budapest bereit, sich im Rahmen einer Konferenzreihe mit der Geschichte der Migration und deren gegenwärtigen Problemen zu befassen. Partner sind unter anderem hierbei das Zentralamt für Statistik und die Ungarische Akademie der Wissenschaften. In einem spezifischen Falle gesellte sich noch die Südostdeutsche Historische Kommission dazu. Abgeschlossen wird diese Veranstaltungsserie am 16./17. Mai 1996.
Ungarn und ihre Nachbarn (Andere Projekte)
Das Europa Institut ist weiterhin Hausherr in Bezug auf das Projekt unter dem Motto „Die Geschichte der sowjetischen Besatzungszone”, welches jedoch vom Ausschuss für Gegenwartsgeschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften finanziert wird. Der Beweggrund der Aufarbeitung dieses Themenbereiches ist nur zum Teil ein geschichtswissenschaftlicher, denn zum Großteil werden aktuelle Fragen abgehandelt, wie u.a.: das Verhältnis der politischen Systeme des sowjetischen Lagers zu Spezifika der Neuzeit in der Region und deren Auswirkungen auf die Gegenwart; wirtschaftliche und politische Integration zur Zeit des sozialistischen Lagers und Probleme der Integration heute; Hemmung industrieller Revolutionen und bürgerlicher Entwicklung im 19.–20. Jahrhundert und Bestrebungen um die Einholung des Rückstandes während der sowjetischen Epoche; Möglichkeiten der Modernisierung in der heutigen Zeit usw.
Während der letzten Jahre wurde gemeinsam mit dem Institut für Geschichte der UAW mit einer vergleichenden Chronologie der Länder des sozialistischen Lagers begonnen, und in diesem Jahr hat man auch offiziell jenes internationale Arbeitskomitee gegründet, dessen Achse vom Potsdamer Institut für Zeitgeschichte und dem Europa Institut Budapest gebildet wird. Anlässlich der ersten wissenschaftlichen Konferenz wurden zahlreiche hervorragende Vorträge gehalten, die wir in ungarischer Sprache bereits publizierten und deren Veröffentlichung in deutscher Sprache im Rahmen der Reihe „Begegnungen” erfolgen wird. Übrigens haben die in diesem Themenbereich im Europa Institut vorgetragenen Referate bzw. stattfindenden Debatten in bedeutendem Maße dazu beigetragen, dass die ungarische Politik sachlich an die Geschichte der vergangenen 40 Jahre herangeht, d. h. historisierende Argumente werden in politischen Streitfragen langsam aber sicher gemieden.
Im Rahmen unserer Veranstaltungsreihe „Ungarn und ihre Nachbarn” haben wir im Februar 1996 das Ungarisch – Slowakische Forum veranstaltet und beteiligten uns darüber hinaus an den gemeinsam mit der Bertelsmann-Stiftung in Bratislava bzw. München organisierten slowakisch-ungarischen Konferenzen. Ein Ereignis stimmungsvollen Charakters war der Vortrag des österreichischen Botschafters in Ungarn, jener von Dr. Erich Kussbach über die Gestaltung der österreichisch-ungarischen Beziehungen, und zwar im Rahmen eines gemeinsamen Abendessens.
Unvollständig wäre eine Aufzählung der Veranstaltungen des Instituts ohne die Erwähnung der Reihe „Künstler und Künste – Kunstabende im Europa Institut” mit den Erlebnisberichten der beiden namhaften ungarischen Filmregisseure Péter Bacsó und Károly Makk, in denen sie auf die Wiedergeburt der ungarischen Filmkunst eingingen.
Gesondert erwähnt werden muss der Herausgabebeginn der Serie „Begegnungen”, von der nach dem Erscheinen des ersten Bandes im vergangenen Jahr sich nun auch die Bände zwei bis vier im Druck befinden, und zwar mit den Titeln „Europa und Ungarn”, „Die kleinen Nationen” sowie „Irodalom és közélet” (Literatur und das öffentliche Leben). Zwei der Bände beinhalten deutsch- und englischsprachige Beiträge, der dritte Band ist ungarischsprachig.
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Schon die Aufzählung all unserer Veranstaltungstypen beweist, dass das wissenschaftliche Tätigkeitsprofil des Europa Institutes sich gemäß der Zielsetzungen zur Zeit seiner Gründung im Jahre 1990 gestaltet hat.
Unser vorrangiges Ziel kann nun die Beibehaltung des Niveaus sein.
Budapest, 13. Mai 1996
Ferenc Glatz