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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 22:13–21.

ERHARD BUSEK

Corvinus-Preis 2003

Verleihung an Dr. Árpád Göncz

 

Für Árpád Göncz eine Laudatio halten zu dürfen, ist eine außerordentliche Auszeichnung. Es beim Corvinus-Preis zu tun, ist ebenso eine Herausforderung, denn inzwischen hat sich diese Anerkennung in Mitteleuropa einen Platz erworben, der als Signal für Europa und die Entwicklung der Demokratie zu sehen ist. Mit István Szabó und Gabriel Andrei Pleşu stellen sich nicht nur Persönlichkeiten vor, sondern wird ein Programm umgesetzt. Das Leben von Árpád Göncz widerspiegelt nicht nur das 20. Jahrhundert, sondern eben auch ein solches Programm.

Geboren ist er am 10. Februar 1922 in Budapest. 1944 Erwerb des Doktortitels als Jurist an der Pázmány-Péter-Universität. 1942–1945 Jurist des Landesinstituts für Bodenkreditwesen.

Seine politische Laufbahn beginnt in der Unabhängigen Kleinen Landwirte-, Landarbeiter- und Bürgerlichen Partei als Sekretär des Generalsekretärs der Partei. Außerdem ist er Vorsitzender des Budapester Verbandes der Unabhängigen Jugend sowie 1947–1948 verantwortlicher Redakteur des Wochenblattes „Nemzedék” (Generation). Von 1948 ist er arbeitslos, dann arbeitet er 1949–1951 als Autogenschweißer und Rohrschlosser. 1951–1956 ist er Bodenschutztechniker und Betriebsorganisationsagronom.

Von 1952 setzt er seine Studien fort: absolviert vier Jahre an der Agrarwissenschaftlichen Universität Gödöllő, kann jedoch das Diplom nicht erwerben, denn aus dem Gefängnis befreit wird er von der Universität ausgeschlossen. Als Mitangeklagter im Prozess gegen Istvan Bibó wird er zum lebenslänglichen Gefängnis verurteilt, davon sitzt er mehr als sechs Jahre ab. 1963 wird er mit Amnestie befreit.

Von 1963 arbeitet er als Fachübersetzer, von 1965 als literarischer Übersetzer und freischaffender Schriftsteller.

1983 wird er mit dem József-Attila-Preis geehrt, 1989 erhält er den Wheatland-Preis für die hervorragende Übertragung englischer Literatur und 1991 den Primio Mediterraneo-Preis.

Seine bekanntesten Werke als Dramatiker sind: „Ungarische Medea”, „Waage”, „Gitter”, „Pessimistische Komödie”, „Persephone”, sein Roman „Sandalenträger” erscheint 1974, sein Novellenband „Begegnungen” 1980. Er übersetzte über hundert Werke von in der Mehrheit englischen und amerikanischen Autoren (J. Baldwin, E. L. Doctorow, W. Faulkner, W. Golding, E. Hemingway, Styron, S. Sontag, J. Updike. E. Wharton usw.).

Von 1981 bis 1989 leitet er die Übersetzersektion des Ungarischen Schriftstellerverbandes, 1988–1989 ist er Vorsitzender der Schriftstellergewerkschaft, vom Dezember 1989 bis September 1990 Präsident, seitdem Ehrenpräsident des Ungarischen Schriftstellerverbandes.

In den ersten freien Wahlen im Frühjahr 1990 wird er zum Parlamentsabgeordneten der Allianz der Freidemokraten (SZDSZ) gewählt. Vom 2. Mai 1990 ist er Präsident der neuen Nationalversammlung, in diesem Amt nimmt er nach der Verfassung auch die Aufgabe des Staatspräsidenten wahr. Am 3. August 1990 wählt ihn das Parlament zum Präsidenten der Republik Ungarn. Am 19. Juni 1995 wird er in seinem Amt für weitere fünf Jahre bestätigt. Am 4. August 2000 läuft sein Mandat ab und er übergibt das Präsidentenamt an Ferenc Mádl.

Er heiratet 1946. Seine Frau, Zsuzsanna Göntér ist Diplom-Sozialfürsorgerin, arbeitet als Beamtin und Industriearbeiterin. Sie haben zwei Söhne und zwei Töchter und bislang sieben Enkelkinder.

Ist das wirklich alles, was Árpád Göncz bedeutet? Es ist allein schon ein historisches Signal, dass er der erste Staatspräsident in der Demokratie wiedergegebenen Ungarn war. Er war es auch, der zusammen mit Vaclav Havel und Lech Walesa die Visegrad-Gruppe geschaffen hat. Heute sieht man das als ein Beispiel einer regionalen Kooperation an, damals war es ein Signal von Persönlichkeiten, die durch ihr Leben nicht nur als Demokraten, sondern auch als Leuchttürme ausgewiesen waren. Leuchttürme in dem Sinn, dass sie den Bürgern ihrer Länder Orientierung gaben und verständlicherweise aber auch charakteristischerweise nicht irgendwie aus der Politik kamen, was im Kommunismus für sie auch nicht möglich war, sondern durch ihr kulturelles und gewerkschaftliches Wirken das Kontrastprogramm zum realen Sozialismus darstellten. Sie brachten auch das Gedächtnis ihren Nationen zurück und setzten einen Trennungsstrich zu den Geschichts- und Gesichtsverlust, den das kommunistische System zweifellos für diesen Teil Europas bedeutet hat. Rasch sind wir zur Tagesordnung übergegangen. Vaclav Havel ging vor kurzem in eine ihm von seinem eigenen Staat nicht gewährte Pension, Lech Walesa verwaltet die Gelder seiner Stiftung, die ihm der Friedensnobelpreis ermöglicht hat und Arpad Göncz wird zu unserem Glück als Autor über sein Land hinaus gespielt, wie ich betonen möchte auch in Österreich.

Natürlich reflektiert ein Autor wie Árpád Göncz das Schicksal seiner Zeit. In seinem Werk „Sandalenträger” finde ich folgenden Text: „Einem Würzburger Kodex aus dem 15. Jahrhundert zufolge wurde am 9. Januar 1401 in der Sankt-Michaelis-Kirche in Sopron über eine Gruppe von Waldenser Ketzern das Urteil gesprochen. Der Kodex enthält auszugsweise eine Kopie des Gerichtsurteils, erwähnt jedoch – außer den Inquisitor, den Prior des Zölestinerordens Péter Zwicker und den Prager Altbischof Márton – nur einen Namen, den der Witwe Jakob Bertungsgot aus Kőszeg, die schon seit zwölf Jahren als Ketzerin galt. Doch laut Gerichtsurteil gab es unter den Angeklagten sogar einen, der sich schon seit sechsundzwanzig Jahren zu dem Irrglauben bekannt hatte. Es sind lauter milde Urteile, allerdings fällt kein Wort von den Anführern der Gemeinde oder gar Gemeinden, vom Schicksal derjenigen, die von den Ketzern für gute Menschen und für apostolische Vertreter Christi’ gehalten werden. Hat man den Prozess gegen sie gesondert geführt? Oder gerieten sie der Inquisition durch einen glücklichen Umstand gar nicht in die Hände? Wer weiß es schon. Ihre Spuren sind verwischt, ihr Los hat die Geschichte verschlungen.”

Hat dieses quasi historische Zitat nicht viel mit unserer Zeit zu tun? Ist nicht die Verwischung der Spuren der Geschichte ein Charakteristikum? Es ist gut, dass uns der Zugang eröffnet wird, wie das etwa auch vor kurzem in einer Inszenierung von Árpád Göncz Werk „Bilanz” in Österreich geschah. Er setzt sich mit einem Schicksal eines Paares auseinander, das charakteristisch für die jüngere ungarische Geschichte ist. In diesem Zwei-Personen Stück geht es um einen Mann und eine Frau, die bei den schmerzlichen Ereignissen in Budapest teilgenommen haben. Damals waren sie ein Paar, zwanzig Jahre später treffen sie sich wieder. Er ist damals in Ungarn geblieben, hat eine Frau und einen Sohn, sie ist in die USA geflohen und hat Mann und Tochter. Ganz auf Gegensätze baut Göncz sein Stück auf. Von den Personenkonstellationen bis zu den Dialogen, die um Lüge und Wahrheit, weggehen und hier bleiben, amerikanisches Weltbürgertum und Heimatliebe kreisen. Er vergisst seine Heimat nicht, wenn er zum Beispiel die Golden Gate-Bridge der Kettenbrücke Budapests gegenüberstellt. Die Addition dieser Teile müssen wir selbst vornehmen. Die politischen Ereignisse haben das Paar getrennt und beide gewissermaßen zerstört. Können sie wieder zusammenkommen? Diese Frage stellt sich für unser Europa. Trotz oder gerade wegen der Erweiterung der Europäischen Union und dem, was noch vor Europa liegt. Können wir wieder zusammenkommen? Diese Frage wird uns spätestens ab Mai 2004 in der Realität beschäftigen. Bisher schon war sie gestellt und wurde auf die unterschiedlichste, manchmal auch dümmste Weise beantwortet. Gerade in der Relation Österreich – Ungarn kann es eigentlich diese Frage nicht geben, trotzdem wurde sie von Mitbürgern gestellt – und das, angesichts der Tatsache, dass der Weg zu einem gemeinsamen Europa ohne Alternative ist, wenn Europa überhaupt existieren will.

Lassen Sie mich noch auf ein drittes Stück eingehen. „Magyar Médea – Das ungarische Medea Drama”: Medea ist von ihrem Mann András Jászó wegen einer jüngeren Frau, Tochter eines hohen Funktionärs, verlassen worden und bereits rechtskräftig geschieden. Nun ertränkt sie ihren Schmerz in hochprozentigem Alkohol und räsoniert über ihre 24jährige Ehe mit András, den sie sich herbeiphantasiert, um vor dieser Fiktion des einstig Geliebten die in die Brüche gegangene Beziehung zu reflektieren. Geister- und traumhaft begleiten die Chorstimmen der antiken „Medea” von Euripides die Klagen, die Hasstiraden, die klar analysierten Verhaltensweisen zwischen Mann und Frau sowie den Leibesschmerz dieser ungarischen Frau und Mutter, die András, den ehemaligen Traktorfahrer, heiratete und ihn zu einer wissenschaftlichen Karriere animierte. Medea begeht keinen Rachemord an der Rivalin, und sie tötet auch nicht ihren Sohn, der bei einem Verkehrsunfall stirbt. Sie ist eine moderne Frau, und doch durchlebt sie Gefühle, die über die Zeiten und Kulturen unverändert geblieben sind. Ihre derb-verzweifelte Umgangssprache und der klassische Text betonen den Gegensatz und gleichzeitig die Untrennbarkeit der Vergangenheit und der Gegenwart, des Guten und des Bösen, des Mannes und der Frau.”

Diese ungarische Medea ist in einer gewissen Weise ironisch, denn es gibt mehr als einige moderne Formen der Adaptierung der Medea-Legende. Es wird eine spirituelle Frage in diesem Stück gestellt, die sich in den persönlichen Beziehungen der handelnden Personen widerspiegelt. Extreme kommen zum Ausdruck, Emotionen werden sichtbar, wie sie nicht nur in der Antike, sondern erst recht in unserer Zeit zu Hause waren und sind. Nicht umsonst spricht man bei einigen Ereignissen von einem antiken Drama. Die Tiefe des Geschehens wird sichtbar, als in diesem Stück ein Polizist ohne alle Umschweife der Medea meldet, dass ihr Sohn gerade bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Als sie eine massive Dosis von Schlafpulvern gemeinsam mit einem vollen Glas starken Wodkas nimmt, stellt sie fest „ich hätte das schon gestern tun sollen”. Eine extreme Lösung ist es also, die hier reflektiert wird – eine Widerspiegelung eines Zeitalters, das in der Ideologie extreme Lösungen durch Nazismus und Stalinismus kannte. Ist daraus nicht eine Lehre für unsere Zeit zu beziehen?

Die Tragik ist, dass heute niemand so recht diese Konfrontation mit den Wirklichkeiten des 20. Jahrhunderts will, aber diese Wirklichkeiten nicht nur als Geschichte im 21. Jahrhundert weiterleben. Diese Hilflosigkeit der sogenannten Vergangenheitsbewältigung, die Aufrufe zur Versöhnung und die Beliebigkeit unseres Zeitalters tun das ihre dazu, um auf den Seelenhaushalt unserer Zeit einen Mantel des Verwischens und Vergessens zu breiten. Es waren Persönlichkeiten wie Árpád Göncz, die uns jenes neue Europa geschenkt haben, dass sich so zögerlich seiner neuen Wirklichkeit stellt und nicht so richtig dafür ein Konzept entwickeln kann. Wohlgemerkt, vieles hat sich getan, aber ob es eine wirklich geistige Auseinandersetzung neben den ökonomischen Veränderungen ist, diese Frage erleben wir jeden Tag. Europa tut sich schwer Bilanz zu ziehen, wenngleich die Generation von Árpád Göncz, die uns eben dieses Europa neu geschenkt hat, das Recht hat, von denen, die nach ihnen kommen eine Bilanz einzufordern.

Mich begeistern immer wieder eine Reihe von politischen Analytikern und Zeitgeistdeutern, die mir in munteren Aufsätzen jetzt versichern, dass 1989 und die Folgejahre einfach zu diesem Zeitpunkt zu kommen hatten. Unter dem Motto: „Ich habe es immer schon gewusst.”, werden da Entwicklungen und Trends aufgezeichnet, quasi im Nachhinein hochgerechnet, die zwangsweise zu dieser Entwicklung führen mussten. Mir ist unklar, ob es darum geht, die Geschichte als ein Ergebnis zwanghafter Entwicklungen darzustellen, um den freien Willen der Menschen und ihre Gestaltungskraft zu leugnen, oder ob nur manche ein wenig gescheiter als ihre Zeitgenossen sein wollen – und das im Nachhinein. Aber eigentlich interessiert mich das nicht. Viel interessanter ist die Frage, wie es überhaupt dazu gekommen ist, denn meines Erachtens konnte wohl kaum einer zwingend aus der Entwicklung ablesen, dass sich der Kommunismus aus dem Staub der Weltgeschichte machen wird und der Sowjetblock noch in diesem Jahrhundert der Vergangenheit angehört. Noch in den 70er Jahren gab es eine beachtliche Literatur, die sich mit der Sowjetmacht auseinander setzte und sie als immer stärker werdende Bedrohung der freien demokratischen Welt verstand.

Die westliche Welt war schon lange auf dem Weg, sich mit der Stärke des Sowjetblocks abzufinden. Da der Westen rein ideologisch pragmatisch an die Dinge herangegangen ist, ließ er es beim Containment der sowjetisch-kommunistischen Gefahr durch den Kalten Krieg bewenden, war aber aus nahe liegenden Gründen an einer Entspannung interessiert. Chruschtschow hat dem durch die These von der Koexistenz und damit durch die Verabschiedung von einem wesentlichen Bestandteil der marxistischen Theorie, nämlich dem historischen Zwang zur kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und dem Endsieg der kommunistischen Revolution, auch entsprochen.

„Die Zeit, die ist ein gar sonderbares Ding.” Hugo von Hofmannsthal lässt seine Marschallin im „Rosenkavalier” angesichts einer berührenden Betrachtung über das Alter diese nachdenklichen Worte sagen. Das gilt heute mehr denn je nicht nur für den persönlichen Lebensablauf, sondern vor allem für die Schnelligkeit der Ereignisse und das Tempo der Veränderung. Vielleicht ist sogar der Alterungsprozess der Personen in unseren Breitengraden langsamer geworden, dafür ist er schneller in den gesellschaftlichen Prozessen. Wir werden zur eigenen Lebenszeit noch zum Museumsstück. Wenn ich daran denke, dass nur mehr als ein Jahrzehnt seit 1989 um ist, wird mir deutlich, wie Personen und Denkweisen, die zu diesem „annus mirabilis” geführt haben, bereits der Vergangenheit angehören. Fast scheinen die Helden dieser Zeit schon verschwunden, von der Gier der Zeit, ständig Neues haben zu wollen, vertrieben, beerdigt und verschluckt, obwohl viele von ihnen noch leben. Meist leben sie noch dazu unter ihrer Würde, mit schäbigen Pensionen, wahrscheinlich sind manche kommunistischen Machthaber von vorgestern besser abgesichert, weil sie sich auf ihre Weise Reichtümer beiseite schaffen konnten.

Mich verbinden persönlich wichtige Erinnerungen mit diesen Menschen, sie sind ein Teil meines Lebens. Dazu zählt Árpád Göncz. Ich möchte nicht die Biographie diverser Persönlichkeiten ergänzen, sondern ein paar durchgehende Linien der Entwicklung aufzeigen, wie sie für mich sichtbar geworden sind. Es gilt auch festzuhalten, was manche wie Göncz Großartiges geleistet haben, welche Opfer damit verbunden waren, welche Fehler und Verkennungen geschahen. Die Zeit scheint mir dazu reif zu sein, da das Geschehen vor der Jahrhundertwende inzwischen durch Globalisierung und unerbittlichen ökonomischen Wettbewerb, durch das Übrigbleiben einer Supermacht und der Beliebigkeit der Ideen, polarisiert durch die Sehnsucht nach einfachen Erklärungsweisen, durch nationalistische Strömungen und den Eintritt neuer Erdteile in das große Spiel eine neue Qualität bekommt. Mittel-, Ost- und Südosteuropa tendieren nach dem gewaltigen Bruch zur Normalisierung. Nun gilt es festzuhalten, was an gemeinsamen und unterschiedlichen Tendenzen da sichtbar wurde und was wie in die Zukunft führen kann. Schließlich ist es für viele ein Zwischenresultat ihres Lebens und Zeit, über die Begegnung mit Mitteleuropa Auskunft zu geben und ihre Relevanz für die Zukunft festzuhalten.

Ein paar Gesichtspunkte zur weiteren Orientierung noch und warum manche Menschen in dieser Wendezeit so bedeutend gewesen sind:

– Die Veränderung in diesem Raum Europas geschah autochthon. Weder kann man davon reden, dass es Einfluss von außen war, noch war es militärischer oder politischer Druck. Das Gleichgewicht der Blöcke und damit des Schreckens hätte vom Westen aus gesehen noch Jahrzehnte fortbestehen können, wenn es nicht handelnde Personen im Osten gegeben hätte.

– Die Idee des Kommunismus und einer sozialistischen Gesellschaftsordnung waren schon lange am Ende. 1953 Berlin, 1956 Budapest, 1968 Prag und das Kriegsrecht in Polen haben Schritt um Schritt dazu beigetragen. Letztlich hat die „Arbeiterklasse” den Ausschlag zum Sturz gegeben (Solidarnosc als Gewerkschaft).

– Es waren weniger die wirtschaftlichen Misserfolge als das Angebot geistiger Alternativen durch Literaten, Intellektuelle und Künstler wie Árpád Göncz und andere. Es war möglich, eine Metawelt als positive Alternative zum realen Sozialismus zu schaffen, die als Perspektive für die Zukunft auch von den Massen verstanden wurde.

– Universitäten, Kirchen, Schriftstellervereinigungen spielten eine unterschiedliche, aber wesentliche Rolle in diesem Prozess, wodurch auch neue Legitimationen entstanden sind. Eine moralische Komponente in allen Bürgerbewegungen war entscheidend.

– Der Westen war nicht vorbereitet und hat bis heute bei den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen bis zur heutigen EU-Erweiterung eine Antwort nicht so recht gefunden. Es ist erstaunlich, dass der Zusammenbruch des Sowjetimperiums zwar immer rhetorisch herbeigesehnt wurde (Ronald Reagan: „the empire of the evil”), aber bis heute ist eine erträgliche Formel zur multivariablen Landschaft nicht gefunden worden. Bipolare Situationen sind offensichtlich leichter zu bewältigen.

– Persönlichkeiten haben diese Phase Mittel- und Osteuropas geprägt, die vornehmlich nicht aus der Politik kamen und inzwischen freiwillig oder durch Abwahl wieder dorthin gegangen sind, woher sie kamen – Göncz als Beispiel.

– Die vielgestaltige Landkarte dieser Regionen ist wieder sichtbar geworden:

– Minderheitenprobleme, historische Grenzziehungen tragen ebenso zum Problemkatalog bei wie Geschichtsmythen und antiquierte Machtvorstellungen.

– Der Fall des Eisernen Vorhangs hat kulturelle Verschiedenheiten deutlicher gemacht, die im Fall einer Konfrontation durch wechselseitiges Nichtverstehen Träger kontinentaler, sogar globaler Konflikte werden könnten. Das Eingehen auf die slawische, orthodoxe und islamische Welt ist zu einer Herausforderung der Zeit geworden.

Ob es Europa überhaupt gibt, ist durch 1989 zur Disposition gekommen, wobei die Integration des Kontinents von Machtbestrebungen aller Art polarisiert wird. Ebenso kann es zu einer Isolation, bzw. permanenten Selbstbefassung der Europäer führen, wenn nicht der Verfassungskonvent der EU einen Weg zum besseren eröffnet hat.

Ein wenig sich der Erinnerung widmen, verlangt nicht nur der Respekt vor den in dieser Zeit handelnden Personen und ihrer Leistungen, sondern auch die Suche nach Lösungen. Um die Wurzeln muss man wissen, wenn man evolutionär in die Zukunft gehen will. Die Marschallin Hofmannsthals philosophiert über die Sonderbarkeit der Zeit vor dem Spiegel. Ihn uns zeitweise vorzuhalten, verlangt der ordentliche Umgang mit uns selber, sonst wären wir keine verantwortungsbewussten Zeitgenossen.

Jene Spezies, die den genannten Gesichtspunkten entspricht, bzw. die angeführten Fragen herbeigeführt hat, wird heute als „Dissidenten” bezeichnet. Ich weiß nicht, wer diesen Begriff eingeführt hat, er zeichnet sich aber durch eine ungeheure Farblosigkeit aus. Niemand will sie Revolutionäre nennen, obwohl sie eine ungeheure Revolution, einen Umsturz epochemachender Art bewirkt haben. Einzig und allein die Vorgänge in der Tschechoslowakei wurden als „Samtene Revolution” bezeichnet. Damit war aber dort keine Verharmlosung gemeint, sondern die Tatsache, dass man das bei Revolutionen übliche Blutvergießen vermieden hat und die Humanität der Vorgangsweise als ein Ergebnis historischer Reife beeindruckend war, wie eben auch bei der Sezession der beiden Landesteile zur heutigen Tschechischen Republik und der Slowakei.

Konterrevolutionäre im kommunistischen Sinn konnte man ja diese Intellektuellen, Wissenschafter, Künstler, Menschenrechtskämpfer, Priester und Lehrer nicht nennen. In den Kategorien der westlichen Demokratien waren sie eine besondere Erscheinung, denn vielfach kamen sie aus den Erfahrungen kommunistischer Parteimitgliedschaften oder aber aus den nichtpolitischen Raum. Ihre Kampfmittel waren auch nicht Instrumente der Propaganda oder gar subversive Tätigkeit. In einer pathetischen Sprache würde man sagen, dass sie mit den blanken Waffen des Geistes und ihrer analytischen Fähigkeit angetreten sind, auf eine eigentümliche Weise ungeschützt und erst recht damit unter einem besonderen Schutz stehend. Am ehesten ließen sie sich noch mit der Strategie der Gewaltlosigkeit vergleichen, wie sie etwa Ghandi im indischen Freiheitskampf angewendet hat.

Es war aber nicht die Begeisterung der Massen, der Druck der Straße, sondern das Aufrollen des kommunistischen Systems von Innen heraus.

Klassisches Beispiel ist dafür das „Kulturforum”, das im Oktober und November 1985 in Budapest stattfand. Die Teilnehmer von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs lesen sich wie eine Ehrentafel des Geistes und der Literatur, der Westen war prominent, eigentlich nur mit Susan Sonntag vertreten, die offensichtlich aufgrund ihrer Herkunft ein besonderes Sensorium für die Situation hatte. Ich erinnere mich noch, wie schwer es war, überhaupt einen österreichischen Schriftsteller dafür aufzutreiben (Barbara Frischmuth bin ich heute noch verbunden, dass sie sich zur Teilnahme bereiterklärt hat.). Die Empfindungslosigkeit der Geisteswelt des europäischen Westens gegenüber den um ihre Freiheit ringenden Gefährten im Osten bedarf noch einer eigenen Untersuchung. In einem späteren Abschnitt waren es allein französische Intellektuelle, meist ehemalige Kommunisten, die sich das Gefühl dafür erhielten, dass es hier offensichtlich um jene Freiheit ging, die zu jeder Zeit immer wieder von Menschen auch mit der Feder in der Hand erfochten wird. Ich bin in Besitz vieler Erzählungen, wie schwierig es war, auf diversen PEN-Kongressen entsprechende Resolutionen durchzubringen. Damit soll die tapfere Rolle verschiedener Schriftsteller gar nicht gemindert werden. In Österreich waren es aber besonders jene, die selbst das Schicksal der Emigration erfahren haben und erst zu Österreichern wurden und ihre Wurzeln in Mittel- oder Osteuropa nie vergaßen.

In aller Deutlichkeit muss gesagt werden, dass die westlichen Demokratien und die Öffentlichkeit auch in Österreich die ganze Angelegenheit ungeheuerlich verharmlost hat. Wie mit dem Begriff der Dissidenten umgegangen wurde, zeigt etwa die Tatsache, dass man etwa auch bei Thomas Bernhard von einem Dissidentenschicksal sprach. Es geht dabei gar nicht um die Bewertung dessen, was es an Diskussionen und Auseinandersetzungen um Thomas Bernhard gegeben hat. Der Vergleich ist zu kritisieren, gegen den sich Thomas Bernhard auch sicher verwahrt hätte. Gulag-Aufenthalte und Gefängnisstrafen, Schreibverbote und Verschweigungen sind etwas anderes als berechtigte und weniger berechtigte kritische Auseinandersetzungen. Ich habe rückblickend den Eindruck, dass man bei uns das Dissident-sein als eine normale Option angesehen hat, die schlicht und einfach für Künstler und Intellektuelle besonders nahe liegend war. Man wurde auf diese Weise quasi berühmter, meinte man hierzulande, genauso wie es naive Jugendliche gibt, die meinen, man hätte sich in der NS-Zeit ja auch ohne Schwierigkeiten zum Zivildienst melden können, um unschuldig zu bleiben. Es war von den Dissidenten im Ostblock für ihre Position ein hoher Preis zu zahlen, eine umfangreiche Literatur gibt darüber Auskunft. Oft ist heute vergessen, dass nicht nur Arrest und Dauerbespitzelung, sondern Berufsverbote, Schlägerrein, Reiseverbote auf der einen Seite und Landesverweise auf der anderen Seite die Mittel waren, Menschen gefügig zu machen oder zum Schweigen zu bringen. Einen Schriftsteller zu entwurzeln, ihm sein Land und damit seine Sprache wegzunehmen ist genauso schlimm, wie andere Sparten der Kunst durch Verschweigung zu bestrafen. Der Künstler braucht seine Öffentlichkeit, sein Publikum, seinen Adressaten für die Aussage, die ihm wichtig ist. Man soll auch nicht unterschätzen, welche verdrehten Wege gegangen werden mussten, um seinen eigenen künstlerischen Weg zu finden. Ich werde nie vergessen, dass in den Zeiten vor 1989 bei der Biennale in Venedig die meisten Christusdarsteller von jenen Künstlern geboten wurden, die unter dem Sowjetsystem zu schaffen hatten. Meistens waren sie brave Parteimitglieder oder Angehörige der entsprechenden Künstlerbünde. Die Bilder offenbarten ein verquertes Verhältnis zur Religion, aber es wurde als Ausdruck der eigenen Unsicherheit und des Ringens gewählt. Die persönliche Qual des Schaffenden war deutlich zu merken.

Es geht nicht darum, eine Ehrentafel zu schaffen, sondern jenen Respekt zu zeigen, die durch ihr Engagement, ihre Anständigkeit und persönliche Festigkeit der Zukunft Europas unter Freiheit und der Demokratie eine ungeheure Chance gegeben haben.

Das Dichterwort über die Vergänglichkeit des Ruhmes von Schauspielern ist bekannt. „Die Nachwelt flicht dem Mimen keine Kränze...”. Auch Politiker sind „in der Erscheinungen Flucht” von kurzfristiger Berühmtheit. Das hat seinen guten Grund und wird von der Fernsehwelt von heute noch verstärkt. Rasch verdrängt ist die Erinnerung durch neue Bilder, und was erst gestern war, kommt einem schon seit Wochen überholt vor.

Die Dynamik der Ereignisse in Europa, besonders in unserer Nachbarschaft, hat dazu geführt, dass so manche Persönlichkeit, die wesentlichen Anteil an den Veränderungen hatte, heute schon vergessen oder in ihrer Rolle gar nicht mehr recht bekannt ist. Zwar wird später schon eine Geschichtsschreibung das ihre dazu tun, um die Vergesslichkeit zu bekämpfen, aber manches verdient heute festgehalten zu werden, sonst ist es rasch vergessen. Vollständigkeit ist gar nicht möglich, aber einige Beobachtungen und Beurteilungen wie bei Árpád Göncz mögen es wert sein, überliefert zu werden.

Nicht alle und nicht alles kann nur positiv gesehen werden. Irrtümer haben diese Persönlichkeiten ebenso begangen. Aber Mut zeichnete sie aus, sie haben sich nicht abgefunden, sondern gesucht und auf ihre Weise gekämpft. Es sind auch oft keine geradlinigen Lebensläufe, sondern mit Brüchen versehene, die allerdings mit den tektonischen Verwerfungen der Zeit gemeinsam gesehen werden müssen. Ein kleines Denk-Mal soll es sein, eine Aufforderung, aus der Erfahrung anderer ein Nach- und Bedenken abzuleiten. Ihre Spuren sollen ein wenig gesichert werden.

Der Corvinus-Preis 2003 sichert die Spur des Árpád Göncz.