Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:351–360.
GERALD VOLKMER
Die Siebenbürgische Frage in den diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien 1878–1916
Mein Interesse an der Geschichte der internationalen Beziehungen führten zur Wahl des Dissertationsthemas: „Die Siebenbürgische Frage in den diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien 1878–1916“.
Die Fragestellungen der noch in Arbeit befindlichen Dissertation sollen im Folgenden erläutert werden.
Die Siebenbürgische Frage
Den Untersuchungsgegenstand des Forschungsvorhabens stellen die historischen Zusammenhänge dar, die von der Forschung in dem Begriff „Siebenbürgische Frage“ zusammengefasst werden. Diese Zusammenhänge sollen an dieser Stelle kurz erläutert werden.
Mit der Herausbildung eines rumänischen Nationalbewusstseins im 18. und 19. Jahrhundert ging in Siebenbürgen die Forderung der Rumänen einher, an der politischen Macht des Landes beteiligt zu werden. Diese Macht befand sich seit 1437 in den Händen des ungarischen Adels, der Székler (ungarischer Freibauernstamm) und der Sachsen (Nachkommen deutscher Einwanderer aus dem 12. und 13. Jahrhundert) und wurde von der im 19. Jahrhundert entstandenen rumänischen Nationalbewegung auch für die Rumänen eingefordert. Die Ablehnung der rumänischen Forderungen durch die Magyaren ließ nach dem österreichisch-ungarischen „Ausgleich“ 1867 und der Union Siebenbürgens mit Ungarn 1868 jenen ausgeprägten rumänisch-ungarischen Gegensatz entstehen, der teilweise bis zur Gegenwart nachwirkt. Aus dem Kampf der Rumänen um politische Rechte entwickelte sich vor dem Hintergrund der demographischen Verhältnisse – die Rumänen stellten die absolute Bevölkerungsmehrheit – der Streit um Siebenbürgen selbst, der in der politischen Polemik „Siebenbürgische Frage“ genannt wurde – ein Begriff, den die Forschung später übernehmen sollte. Hier gilt es, die besonders von der rumänischen Geschichtsschreibung nachdrücklich vertretene These zu hinterfragen, das Phänomen der rumänischen Nationalbewegung sei identisch mit der Siebenbürgischen Frage an sich. Vielmehr müssen auch die Positionen der ungarischen und sächsischen „Nationalbewegungen“ in Siebenbürgen in die Diskussion eingebracht werden, um die Siebenbürgische Frage in ihrer ganzen Vielfalt darstellen zu können. Dieses ist notwendig, da die Siebenbürgische Frage die Beziehungen Rumäniens zu Ungarn auch zwischen 1918 und 1945 und in abgeschwächter Form von 1945 bis heute bestimmte, allerdings unter den umgekehrten Vorzeichen einer ungarischen Minderheit in Rumänien.
Als Faktor der europäischen Politik trat Siebenbürgen bereits im 16. Jahrhundert in Erscheinung, nachdem die autonome Woiwodschaft Siebenbürgen vom 10. Jahrhundert bis 1541 zum Königreich Ungarn gehört hatte. Siebenbürgen spielte als autonomes Fürstentum unter der Souveränität des Osmanischen Reiches zwischen 1541 und 1691 im Staatensystem Ostmittel- und Südosteuropas eine bedeutende Rolle. Als machtpolitisches und völkerrechtliches Subjekt beeinflusste es die europäische Politik in vielfältiger Weise. Nun bleibt zu fragen, ob Siebenbürgen – zwischen 1699 und 1877 unangefochten ein Teil der Habsburgermonarchie – für den Zeitabschnitt 1878 bis 1916 erneut, diesmal jedoch als machtpolitisches und völkerrechtliches Objekt in Gestalt der Siebenbürgischen Frage, Einfluss auf die internationalen Beziehungen genommen hat. Die geplante Untersuchung soll sich jedoch auf die Rolle der Siebenbürgischen Frage in den bilateralen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien beschränken und die Frage ausklammern, in welcher Weise die Siebenbürgische Frage das 1815 entstandene und zwischen 1848 und 1878 neugeordnete Staatensystem Europas berührt haben könnte.
Eingrenzung von Untersuchungszeitraum und Region
Das bisher Dargelegte weist bereits auf die Begründung für die zeitliche Eingrenzung des Themas hin. Mit der Entstehung der rumänischen Nationalbewegung in Siebenbürgen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging auch der Kampf der Rumänen um politische Gleichberechtigung einher. Aufgrund der außenpolitischen und völkerrechtlichen Oberhoheit des Osmanischen Reiches über den erst seit 1859 in Personal- und seit 1862 in Realunion existierenden rumänischen Nationalstaat konnten sich die Vorgänge in Siebenbürgen, obwohl Siebenbürgen mit Ungarn bereits 1867/68 vereinigt wurde, bis 1878 nicht zu einem relevanten Problem für die „Große Politik“ zwischen Wien und Bukarest entwickeln. Dieses änderte sich mit der Etablierung des unabhängigen Königreichs Rumänien auf dem Berliner Kongress 1878. Das ebenfalls auf dem Berliner Kongress entstandene autonome Bulgarien schirmte Rumänien vom kränkelnden Osmanischen Reich und dem engeren Balkan ab, wodurch die Aufmerksamkeit des Königreichs nun verstärkt auf Russland und die Donaumonarchie gelenkt wurde. Die rumänische Nationalbewegung in Siebenbürgen erhielt mit dem sich etablierenden unabhängigen Königreich Rumänien allmählich einen international handlungsfähigen Partner, dessen Außenpolitik für die europäische Diplomatie immer mehr an Bedeutung gewinnen sollte. Erst die Verbindung zwischen der rumänischen Nationalbewegung in Siebenbürgen und dem rumänischen Nationalstaat sollte die Siebenbürgische Frage zu einem Problem für die internationalen Beziehungen werden lassen. Die zeitliche Eingrenzung nach oben durch den Eintritt Rumäniens in den Ersten Weltkrieg im August 1916 bietet sich an, da sich die rumänische Politik damit endgültig für die Ententemächte und gegen die Mittelmächte entschieden hatte. Siebenbürgen dem rumänischen Königreich einzuverleiben, wurde schlagartig zum offiziellen Kriegsziel der Bukarester Regierung erhoben. Mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Wien und Bukarest wurde die Lösung der Siebenbürgischen Frage aus den Händen der Diplomaten in die der Militärs gelegt. Der Krieg führte zum Zerfall der Donaumonarchie und zur Entstehung Großrumäniens, so dass bezüglich der Fragestellung vom Beginn eines neuen historischen Abschnitts auszugehen ist.
Die Beschränkung auf das historische Siebenbürgen erscheint sinnvoll, da es als einzige Region Ungarns auf eine eigenständige staatlich-administrative Entwicklung seit dem Hochmittelalter zurückblicken kann, die sich im Status eines Großfürstentums bis 1868 manifestierte. Nach der Vereinigung mit Ungarn im Jahre 1868 trugen diesem Faktum vor allem die rumänischen und sächsischen Nationalbewegungen mit ihrer zentralen Forderung Rechnung, die staatliche Autonomie der historischen Region Siebenbürgen wiederherzustellen.
Nationalpolitik und Nationalbewegungen in Siebenbürgen
Die ungarische Regierung besaß nach dem „Ausgleich“ mit Österreich 1867 und der Vereinigung Siebenbürgens mit dem Königreich Ungarn 1868 innenpolitisch freie Hand in Siebenbürgen. Die Angst der ungarischen Regierung vor dem panslawistischen Russland, das aus dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78 gestärkt hervorgegangen war und seine Ansprüche in Südosteuropa offen formulierte, steigerte sich durch die Tatsache, dass die Magyaren lediglich knapp 50 % der Bevölkerung Ungarns stellten. Aus Angst, das Reich könne aufgrund seiner heterogenen ethnischen Zusammensetzung auseinanderfallen, begann die ungarische Regierung Maßnahmen zu ergreifen, die das ungarische Volk „stärken“ und andere Ethnien, freiwillig oder durch Zwang, zum Übertritt zum Magyarentum bewegen sollten. Diese Politik der Assimilierung wurde von der Forschung mit dem Begriff der „Magyarisierungspolitik“ belegt. Sie manifestierte sich deutlich im Wahlgesetz von 1874, das für Siebenbürgen höhere Schranken bei der Wahlberechtigung errichtete. Mehr Bodenbesitz und höhere Schulbildung als Voraussetzungen zur Ausübung des Wahlrechts sowie der extrem unterschiedliche Zuschnitt der Wahlkreise sollten vor allem die mehrheitlich als Bauern und Hirten lebenden Rumänen von der Macht fernhalten. Das Volksschulgesetz von 1879 erklärte den ungarischen Sprachunterricht für alle Schulen als obligatorisch und verpflichtete alle Lehrer, die ungarische Sprache zu erlernen. Im Jahre 1883 beziehungsweise 1891 dehnte das Mittelschulbeziehungsweise Kindergartengesetz diese Bestimmungen weiter aus und griff so in die Selbstverwaltung der Kirchen und Schulen ein. Das Gesetz über die alleinige Führung der ungarischen Ortsnamen von 1897 und ein eigens für Siebenbürgen erlassenes scharfes Pressegesetz, das die öffentliche Diskussion der Siebenbürgischen Frage verhindern sollte, rundeten das Bild einer faktischen Diskriminierung der nichtmagyarischen Nationalitäten ab. Zu untersuchen ist, wie die Diplomatie der Habsburgermonarchie und die Diplomatie des Königreichs Rumänien die ungarische Nationalitätenpolitik vor dem Hintergrund der Siebenbürgischen Frage wahrgenommen haben.
Die Maßnahmen der Budapester Regierung, selbst ein Ausdruck der ungarischen Nationalbewegung, die ihren deutlichsten Ausdruck im Kampf gegen das Haus Habsburg 1848/49 gefunden hatte, beantworteten die anderen Nationalitäten mit eigenen Nationalbewegungen. Im Königreich Ungarn (ohne Kroatien-Slawonien) stellten die Rumänen mit den Slowaken und Deutschen die größten ethnischen Minderheiten. In Siebenbürgen selbst stellten die Rumänen im Jahre 1880 sogar 56,85 %, die Ungarn 30,25 % und die Deutschen 10,16 % der Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund soll geklärt werden, wie die Siebenbürgische Frage mit dem Phänomen der Nationalbewegungen in Siebenbürgen zusammenhing. Hier soll herausgearbeitet werden, ob die Spezifika, die Siebenbürgen als multiethnische Region ausmachten, von Bukarest, Budapest und Wien zur Kenntnis genommen wurden.
Eines dieser Spezifika stellten die Deutschen Siebenbürgens dar, die, so heißt es, in der Auseinandersetzung um Siebenbürgen als ein ausgleichendes, ja vermittelndes Element auftraten. Trotz ihres geringen zahlenmäßigen Anteils an der Landesbevölkerung gelang ihnen dies aufgrund ihres großen Einflusses auf die Kultur- und Presselandschaft sowie die Wirtschaft Siebenbürgens. Politisch drückte sich diese Position auf der einen Seite in der gemeinsamen Opposition der Sachsen und Rumänen gegen die Budapester Magyarisierungspolitik aus, vor allem nach der Aufhebung der sächsischen Selbstverwaltung durch die ungarische Regierung im Jahre 1876. Auf der anderen Seite beteiligten sich die Abgeordneten der ebenfalls 1876 gegründeten Sächsischen Volkspartei im ungarischen Reichstag nach 1890 an allen ungarischen Regierungskoalitionen, um so die Auswirkungen der Magyarisierungspolitik, in erster Linie für die Sachsen, abzumildern. Des Weiteren stand eine Vereinigung der Siebenbürger Sachsen mit dem deutschen Mutterland stets außer Frage, so dass ihnen die klassische Rolle einer nationalen Minderheit zufiel und sie folglich in der Frage der staatlichen Zugehörigkeit Siebenbürgens nicht mit den Ungarn und Rumänen konkurrierten. Es soll untersucht werden, ob eine Rezeption dieser vermittelnden Rolle der Siebenbürger Sachsen in der „Großen Politik“ Wiens, Budapests und Bukarests stattgefunden hat. Welche Stellung nahmen die sich am Deutschen Reich orientierenden Eliten der Sachsen in der Siebenbürgischen Frage ein? Kam für die sächsische Nationalbewegung als einzige Alternative zur Zugehörigkeit Siebenbürgens zu Ungarn nur die Autonomie im Rahmen der Habsburgermonarchie in Frage oder wurden auch andere Modelle diskutiert?
Weiterhin soll nach den Positionen gefragt werden, die die Ungarn und Székler als „Staatsvolk“ und zweitgrößte ethnische Gruppe Siebenbürgens in der Siebenbürgischen Frage einnahmen. Obwohl die ungarischen Eliten Siebenbürgens als Verfechter des Gedankens der ungarischen Staatsnation die Magyarisierungspolitik der ungarischen Regierung mittrugen, gilt es zu klären, ob auch die Pläne der ungarischen Liberalen Lajos Mocsáry und Oszkár Jászi über eine Einbeziehung der nationalen Minderheiten in das politische Leben des Königreichs in den Reihen der Ungarn Siebenbürgens auf fruchtbaren Boden fielen. Wurden im Rahmen der um die Jahrhundertwende in der österreichisch-ungarischen Monarchie geführten öffentlichen Diskussion über eine Reform und Föderalisierung der Donaumonarchie nicht auch Modelle entwickelt, die von einem „dritten Weg“ für Siebenbürgen ausgingen, der von einer direkten Zugehörigkeit zu Ungarn oder Rumänien abwich. Wurde gar an eine Selbständigkeit Siebenbürgens in Anlehnung an den Status zur Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts gedacht? Welche politisch-gesellschaftlichen Kräfte und Bevölkerungsgruppen in der Doppelmonarchie beteiligten sich an einer solchen Diskussion? Wurden jene Vorstellungen in der Diplomatie Österreich-Ungarns und Rumäniens rezipiert?
Dominiert wurde die Siebenbürgische Frage jedoch von der Nationalbewegung der Rumänen in Siebenbürgen. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts stellten die Rumänen die absolute Bevölkerungsmehrheit. Außerdem besaß die rumänische Nationalbewegung mehr Gewicht als die Nationalbewegungen der anderen Völker Siebenbürgens aufgrund der unmittelbaren Nachbarschaft Siebenbürgens zum rumänischen Nationalstaat. Aufgrund dieser Tatsache stellte sie für die ungarische Regierung auch die größte Bedrohung der staatlichen Integrität dar und sollte von der Budapester Nationalitätenpolitik am härtesten getroffen werden. Besonders die 1881 in Hermannstadt gegründete Rumänische Nationalpartei erregte die meiste Aufmerksamkeit, da sie als Sprachrohr der Rumänen in Ungarn die Wiederherstellung der Autonomie Siebenbürgens, die Benutzung des Rumänischen als Amtssprache, die Selbstverwaltung der rumänisch-orthodoxen und rumänisch-unierten Kirchen, das allgemeine Stimmrecht und die Revision der minderheitenfeindlichen Gesetze forderte. Diese Forderungen, im „Hermannstädter Programm“ zusammengefasst, wurden von der ungarischen Regierung als staatsgefährdend zurückgewiesen. Die Rumänische Nationalpartei rief daraufhin die eigene Bevölkerung zum Wahlboykott auf und brachte 1892 ihre Klagen in Form eines Memorandums vor Kaiser Franz Joseph. Der lehnte die rumänischen Forderungen aus Rücksicht auf die ungarische Regierung ab, und Budapest klagte die Unterzeichner des Memorandums in einem spektakulären Prozess des Separatistentums an. Die passive Haltung des Wiener Hofes und der österreichischen Regierung im Laufe des Prozesses brachte die Rumänen Ungarns nun gegen die gesamte Habsburgermonarchie auf, hoffte man doch, der Kaiser werde die ungarische Regierung in ihre Schranken weisen. Vor diesem Hintergrund soll die Wahrnehmung der rumänischen Nationalbewegung in Siebenbürgen durch die österreichisch-ungarische und rumänische Diplomatie herausgearbeitet werden.
Nach 1890 ergriff die öffentliche Meinung im Königreich Rumänen immer deutlicher die Partei der rumänischen Nationalbewegung in Siebenbürgen, vor allem die im Dezember 1891 in Bukarest gegründete „Kulturliga“. Deren Auslandssektionen bezogen in mehreren Veranstaltungen und Presseaktionen, vor allem in Frankreich und Italien, aber auch in Deutschland und Österreich, Stellung gegen die Nationalitätenpolitik der ungarischen Regierung und traten offensiv für den „Dako-Romanismus“ und die Idee der Einheit des rumänischen Volkes dies- und jenseits der Karpaten ein. Die Lobby der Rumänischen Nationalpartei Siebenbürgens im Königreich Rumänien versuchte also zusätzlich zur Beeinflussung der Politik in Bukarest auch die Regierungen und die öffentliche Meinung in ganz Europa für ihre Ziele zu gewinnen, wodurch die Siebenbürgische Frage und insbesondere die rumänische Nationalbewegung von der europäischen Presse und Politik zur Kenntnis genommen wurde. Da die rumänische Nationalbewegung im Gegensatz zu jenen der anderen Völker als einzige dazu geeignet war, den administrativen und politischen Status quo Siebenbürgens wirksam in Frage zu stellen, erfuhr sie auch die entsprechende Aufmerksamkeit in den europäischen Hauptstädten. Deshalb kommt der Ermittlung der Ziele der rumänischen Nationalbewegung eine entscheidende Bedeutung zu. Im Laufe der Entwicklung der rumänischen Nationalbewegung bildeten sich im Wesentlichen eine gemäßigte und eine radikale Strömung heraus. Erstere forderte die Wiederherstellung der Autonomie Siebenbürgens innerhalb der Habsburgermonarchie, letztere trat für den Anschluss Siebenbürgens an das Königreich Rumänien ein. Zum Adressaten der Autonomieforderungen wurde das österreichische Kaiserhaus im Westen, als Partner der irredentistischen Strömung bot sich hingegen der rumänische Nationalstaat im Osten an. Ursprünglich bezeichnete seit 1877 der Begriff „Irredentismus“ die italienische Bewegung, die für die Eingliederung der terre irredente („unerlösten Gebiete“) Südtirol, Istrien und Dalmatien in das italienische Mutterland eintrat. Bezüglich der siebenbürgischen Problematik ergeben sich Fragen nach Art und Zeitpunkt der Entstehung rumänischer irredentistischer Strömungen auf beiden Seiten der Karpaten und zu der weiteren Entwicklung. Im Vordergrund der Untersuchung soll jedoch deren Einfluss auf die diplomatischen Beziehungen zwischen der Donaumonarchie und Rumänien stehen.
Schließlich soll das Zusammenwirken von nationalen Bewegungen und internationaler Politik während jener Spätphase des Übergangs vom traditionell übernationalen Staatenverband zum modernen Nationalstaat so untersucht werden, dass die Erkenntnisse in ihrer abstrakten Essenz für die Gegenwart verwertbar sein können, ohne indes der Gefahr zu erliegen, den historischen Kontext außer Acht zu lassen.
Der Einfluss der Siebenbürgischen Frage auf die diplomatischen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien
Nach dem Berliner Kongress von 1878 setzte sich Österreich-Ungarn als erste Großmacht für die Anerkennung der Unabhängigkeit Rumäniens ein, um über gute Beziehungen zu Bukarest einen maßgeblichen Einfluss auf das Land ausüben zu können. Doch der Streit zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien in der Frage der Donauschifffahrt belastete das geheime Bündnis Rumäniens mit der Habsburgermonarchie, das Rumänien aufgrund seiner Furcht vor Russland und angesichts der instabilen Lage auf dem Balkan 1883 mit Wien und Berlin eingegangen war. Weiterhin stand der traditionell frankophilen Einstellung der rumänischen Eliten die enge dynastische und wirtschaftliche Verflechtung Rumäniens mit den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn gegenüber. Dieses ambivalente Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien sollte die Rolle der Siebenbürgischen Frage in den diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Staaten prägen.
Der Schwerpunkt der Arbeit wird auf der Diskussion der Siebenbürgischen Frage im diplomatischen Verkehr zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien liegen. Die Nationalbewegungen der Völker Siebenbürgens, insbesondere die der Rumänen, die Aktionen ihrer Lobby im Königreich Rumänien sowie in anderen europäischen Staaten, die Rezeption der Siebenbürgischen Frage in der europäischen Öffentlichkeit und die Haltung der österreichisch-ungarischen und rumänischen politischen Eliten zu der Siebenbürgischen Frage sind zu berücksichtigen, sofern sie für die Diplomatie der beiden Staaten relevant waren. Meistens führte die Agitation rumänischer Staatsbürger in Österreich-Ungarn und österreichisch-ungarischer Staatsbürger im Königreich Rumänien zu diplomatischen Verwicklungen, die für die Fragestellung der Untersuchung sehr aufschlussreich sind.
Vor diesem Hintergrund soll untersucht werden, wie die „Große Politik“ der Staatsmänner und Diplomaten auf verschiedene Ereignisse reagiert und welche Bedeutung sie ihnen beigemessen hat. Sodann ist zu klären, ob und wenn ja, wie, die Außenpolitiker ihre Haltung zur Siebenbürgischen Frage sowohl in das diplomatische Tagesgeschäft als auch in ihre längerfristigen Planungen eingebracht haben. Vor allem soll herausgefunden werden, ob der Konflikt in der Siebenbürgischen Frage ausgetragen wurde, und wenn ja, auf welche Art und Weise und auf welchen hierarchischen Ebenen. Für eine anschauliche Darstellung der komplexen Beziehungen im Rahmen der Siebenbürgischen Frage bietet sich eine Einteilung in drei hierarchische Ebenen an. Als untere Ebene sollen die Auswirkungen der ungarischen Nationalitätenpolitik und der siebenbürgischen Nationalbewegungen auf die Habsburgermonarchie, Rumänien und Europa insgesamt verstanden werden. Die mittlere Ebene bilden die Gesandtschaften und Konsulate Österreich-Ungarns und Rumäniens in Europa. Die oberste Ebene stellen schließlich die gemeinsamen Ministerien der Donaumonarchie, vor allem das Ministerium des kaiserlichen und königlichen Hauses und des Äußern in Wien sowie der Hof in Wien und die Regierungen des Kaiserreichs Österreich in Wien und des Königreichs Ungarn in Budapest dar. In Bukarest entspräche dieser Ebene die Regierung, insbesondere das Außenministerium und der königliche Hof. Wesentlich ist die Untersuchung der Beziehungen zwischen und innerhalb der drei Ebenen. So wäre der Einfluss zu untersuchen, den die Gesandtschaften und Konsulate aufgrund ihrer Berichte über die Kontakte mit den Staatsorganen und gesellschaftlichen Kräften des Gaststaates auf die Haltung ihrer Außenministerien in der Siebenbürgischen Frage ausüben konnten. Umgekehrt ist das Augenmerk auf den Einfluss der Außenministerien auf die Arbeit ihrer Gesandtschaften und Konsulate mittels ihrer Weisungen sowie auf die direkten Kontakte mit dem jeweils anderen Außenministerium und dessen Missionen zu richten. Weiterhin soll geklärt werden, wie das Zusammenspiel der „Großen Politik“ innerhalb Wiens oder Bukarests im Hinblick auf die Diskussion der Siebenbürgischen Frage funktionierte. Dieses Zusammenspiel bestritten in Rumänien vor allem das Außenministerium, die gesamte Regierung und der Monarch, in Österreich-Ungarn die gemeinsamen Ministerien, in diesem Fall das gemeinsame Außen- und Kriegsministerium, der Wiener Hof und darüber hinaus die österreichische und besonders die ungarische Regierung.
Schließlich ist zu ergründen, in welchem Ausmaße die Siebenbürgische Frage auf andere Politikfelder im Rahmen der bilateralen Beziehungen zwischen der Donaumonarchie und Rumänien Einfluss nehmen und diese eventuell sogar dominieren konnte. Hier sollen die Dreibund- und Balkanpolitik der beiden Staaten den Schwerpunkt der Untersuchung ausmachen. Die gewonnenen Erkenntnisse über das Verhältnis zwischen Nationalitätenpolitik und „Großer Politik“ sollen in die Grundlinien der österreichisch-ungarischen und rumänischen Außenpolitik sowie in die übergreifenden Zusammenhänge der europäischen Politik zwischen 1878 und 1916 eingeordnet werden.
Forschungsaufenthalte in Budapest
Im Juni und Juli 1999 bekam ich als Stipendiat des Europa Instituts Budapest die Möglichkeit, meiner Dissertation durch Studien in der Széchényi-Nationalbibliothek und in der Bibliothek der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie durch Arbeiten im Ungarischen Staatsarchiv und Konzilarchiv der Ungarischen Reformierten Kirche wichtige Impulse zu geben. Ergänzend wurde mir die Teilnahme an einem vierwöchigen Ungarisch-Intensivsprachkurs ermöglicht. Nach Forschungsaufenthalten in Wien und Bukarest hielt ich mich zu Forschungszwecken erneut im Juni und Juli 2000 am Europa Institut, Budapest auf, um dem Einfluss der ungarischen Regierung auf die Haltung der gemeinsamen Außenpolitik der Donaumonarchie in der Siebenbürgischen Frage nachzugehen. Darüber hinaus konnte ich mich an den Feierlichkeiten zum zehnjährigen Jubiläum des Europa Instituts, Budapest beteiligen.
Quellenauswahl
Österreichisch-Ungarisches Rotbuch. Diplomatische Aktenstücke betreffend die Beziehungen Österreich-Ungarns zu Rumänien in der Zeit vom 22. Juli 1914 bis 27. August 1916. Wien 1916.
Österreich-Ungarns Außenpolitik von der Bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914. Diplomatische Aktenstücke des österreichisch-ungarischen Ministeriums des Äußern. Ausgewählt und bearbeitet von Ludwig Bittner [u.a.]. Bd. 1–9. Wien, Leipzig 1930 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 19–27).
Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie (1914– 1918). Bearbeitet von Miklós Komjáthy. Budapest 1966 (Publikationen des Ungarischen Staatsarchivs II. Quellenpublikationen 10).
Teodor Pavel: Mişcarea românilor pentru unitate naòională şi diplomaţia puterilor centrale [Die Bewegung der Rumänen für die nationale Einheit und die Diplomatie der Mittelmächte]. Bd. 1 (1878–1895). Timişoara 1979. Bd. 2 (1894–1914). Timişoara 1982.
Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie 1896–1907. Bearbeitet von Éva Somogyi. Budapest 1991 (Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867–1918, Bd. 5).
Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie 1883–1895. Bearbeitet von István Diószegi. Budapest 1993 (Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867–1918, Bd. 4).
Documente privind mişcarea naţională a românilor din Transilvania 1881–1891 [Dokumente betreffend die Nationalbewegung der Rumänen aus Siebenbürgen 1881–1891]. Hrsg. von Ofelia Avarvarei [u. a.]. Bucureşti [o. J.] (Din publicaiile Arhivelor Statului Cluj nr. 12).
Diplomaţia europeană şi mişcarea memorandistă (1892–1896) [Die europäische Diplomatie und die Memorandistenbewegung (1892–1896)]. Hrsg. von Corneliu-Mihail Lungu. Bucureşti 1995.
Die völkerrechtliche Praxis der Donaumonarchie von 1859 bis 1918. Eine Auswahl von Dokumenten. Hrsg. von Stephan Verosta und Ignaz Seidl-Hohenveldern. 2 Bände. Wien 1996 (Veröffentlichungen der Kommission für Völkerrecht und internationale Beziehungen, Nr. 2).
Literaturauswahl
A. Krausnecker: Kálnokys Rumänienpolitik in den Jahren 1881–1895. Ein Beitrag zur Geschichte der Balkanpolitik Österreich-Ungarns auf Grund der Akten des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Diss. Graz 1951.
Elisabeth Hickl: Erzherzog Franz Ferdinand und die Rumänienpolitik Österreich-Ungarns. Diss. Wien 1964.
Ernst von Rutkowski: Österreich-Ungarn und Rumänien 1880–1883, die Proklamierung des Königreichs und die rumänische Irredenta. In: Südost-Forschungen 25 (1966), S. 150–284.
Udo Haupt: Die Rumänienpolitik Deutschlands und Österreich-Ungarns vom Rücktritt Bismarcks bis zum Ausbruch des Ersten Balkankrieges (1890–1912). Würzburg 1976.
Uta Bindreiter: Die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien in den Jahren 1875–1888. Wien [u.a.] 1976 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, Bd. 63).
Charles James Dieteman: Austria-Hungary and the Development of Romanian Independence, 1878–1883. Diss. Washington 1977.
Gheorghe Nicolae Cazan, Serban Radulescu-Zoner: Rumänien und der Dreibund 1878– 1914. Bukarest 1983 (Bibliotheca Historica Romaniae. Studien, Nr. 65).
Corneliu-Mihail Lungu: Transilvania în raporturile romăno-austro-ungare (1876–1886) [Siebenbürgen in den rumänisch-österreichisch-ungarischen Beziehungen (1876–1886)]. Bucureşti 1999.
Keith Hitchins: A Nation Affirmed: The Romanian National Movement in Transylvania, 1860–1914. Bucharest 1999.