Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:131–139.
ZOLTÁN SZÁSZ
Territorialverschiebungen und Grenzziehungen 1918–1947
Der Begriff der Grenze wird im Schrifttum nicht nur aus politischen oder politisch-geographischen Aspekten thematisiert, es existiert diesbezüglich auch eine beträchtliche ethnographische und soziologische Literatur, die die in den Gesellschaften fungierenden, durchaus verschiedenartig beschaffenen Grenzen mittels Analyse von anthropologischen Merkmalen oder individuellen Identitätsentwicklungen erläutert. Ein gemeinsames Charakteristikum sämtlicher Grenzen besteht darin, dass sie neben der Trennung auch die Komponente „Verbindung“, die Dichotomie der Freiheit und Isolierung, des „Ich“ und des anders Beschaffenen beinhalten.1
Die ursprünglich eher als „Zone“ verstandene germanische Mark oder der bis heute ähnlich doppeldeutige ungarische Begriff „határ“ wurde in der modernen Zeit – nicht nur als Mittel der symbolischen Abgrenzung sondern auch eine Markierung im Sinne von Lucien Febvre – auf eine „frontierartige“, krasse Trennlinie konfrontativen Inhalts eingeschränkt. Im volkstümlichen Musikstück von Zoltán Kodály, der in seiner Bedeutung mit Béla Bartók zu vergleichen ist, steht der Grenzsoldat diesseits des Schlagbaums an der preußisch-galizischen Grenze im tiefen Schnee frierend, während jenseits der Grenze – selbstverständlich auf der ungarischen Seite – die Sonne scheint und die Sonnenblume blüht. Die beiden Werke (von Febvre und Kodály) entstanden beinahe in der gleichen Zeit, 1926 und 1928.
Dass die Grenzen periodisch der jeweiligen machtpolitischen Realität angepasst wurden, klingt genauso banal wie die Feststellung, dass die Geschichtsschreibung, seitdem sie sich als „Nationalwissenschaft“ definiert und das „Territorium der Nation“ zu berücksichtigen hat, die territoriale Aspiration förderte und/oder die bestehenden Verhältnisse rechtfertigte.
I.
Der schwächste Abschnitt der historisch-machtpolitisch legitimen Grenzen in Europa, die Balkangrenze des Türkenreiches wurde am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in den Balkankonflikten von 1912–13 durchbrochen: Durch die somit neu entstandenen, nunmehr national legitimierten Grenzen wurde ein dritter Krieg vorprogrammiert.
Bei der Gestaltung der Grenzen in Ostmitteleuropa spielte die Tatsache eine bedeutende Rolle, dass England, Frankreich oder sogar die Vereinigten Staaten die Staatsstrukturen der Region weder beim Ausbruch des Weltkriegs noch während seiner ersten Periode grundlegend verändern wollten. Der Anfang brachte nur die Möglichkeit kleinerer Änderungen mit sich. Während 1859 oder 1866 die schnellen militärischen Niederlagen – und freilich das internationale politische Denken des 19. Jahrhunderts – das Habsburgerreich vor der Eskalation der inneren Krise und vor dem Verfall retteten, trugen nun paradoxerweise der lange Krieg und die Widerstandsfähigkeit der Doppelmonarchie zur Herausbildung von inneren wie äußeren destruierenden Kräften bei.
Das sog. Versailles-System (die Gesamtheit der Pariser Friedensverträge) entstand unter äußerst schwierigen historischen Bedingungen. Vier Großmächten wurde gleichzeitig die militärische Niederlage zuteil, drei von diesen brachen auch territorial völlig zusammen. Die Sieger mussten die europäischen Grenzen neu zeichnen, vor allem im Osten: Von Skandinavien bis in den Nahen Osten. Ein machtpolitisches Vakuum musste effizient beseitigt werden.
Formal gesehen war Versailles die gründlichste Friedenskonferenz der Weltgeschichte: Sie beschäftigte mehrere tausend Unterhändler und Experten, die ihre Arbeit in 59 Ausschüssen und auf etwa 1650 Tagungen verrichteten.
Der neuen Grenzziehung gingen drei wichtige Momente voraus. Das eine war das Experimentieren, das von den Mittelmächten während der Zeit der russischen Revolutionen angefangen wurde und in Richtung der „Rekonstruierung“ baltischer Staatsgebilde, Polens und der Ukraine tendierte. Im zweiten ging es um die territorialen Zugeständnisse seitens der Entente, die die mit Italien, Serbien und Rumänien abgeschlossenen Geheimverträge enthielten. Die siegreichen Entente-Mächte kombinierten ihre eigenen Ziele und die Bestrebungen der kleineren Verbündeten mit den in jenen Jahren herrschenden ideologischen Ansätzen – dem Leninschen Selbstbestimmungsrecht der Nationen und dem Wilsonschen Selbstbestimmungsrecht der Völker. Als drittes wichtiges Moment gilt nämlich, dass sich bereits im Januar 1919, zum Zeitpunkt der Einberufung der Friedenskonferenz „die Konturen der neuen Staatsgebilde in diesem »Zwischeneuropa« abzeichneten.”
Der mit Deutschland abgeschlossene Friedensvertrag ist genügend bekannt, hier müsste man nur darauf hinweisen, dass es eher politisch bestraft und wirtschaftlich geschwächt werden sollte, die territorialen Reduktionen (73 500 km2 – 13 %; 7 Mio Einw. – 10 %) betrachtete man als sekundäre Vergeltungsmaßnahmen, in einigen Fällen wurden sogar Volksabstimmungen zugelassen (Ostpreußen, Oberschlesien, Schleswig, das Saarland).
Der deutsche „Versailles-Diktat-Mythos“ ergab sich nicht so sehr aus der Härte der Gebietsverluste sondern viel eher aus der offenbarten Demütigung. (Auf dem Wiener Kongress von 1815 – obwohl es keine 1646 Sitzungen gab – erzielte man die Neuintegrierung des besiegten Frankreich. Der Wiener Kongress war, was die historisch-politische Weisheit angeht, dem Versailles-Vertrag weit überlegen).
Bei der Gestaltung der zwischen Deutschland und Sowjetrussland gelegenen Zone waren die vier Großen in Paris durch die ihren Verbündeten entgegengebrachte Sympathie, ihre früheren Versprechungen und ihre Arroganz beeinflusst. Die äußerst irrealen Forderungen der kleinen Sieger machten allerdings in Paris keinen guten Eindruck.
Polen erhob Anspruch – mittels einer historischen Argumentation – im Osten auf große litauische, weißrussische und ruthenische Gebiete und, indem es sich einer falschen ethnographischen Argumentation bediente, fast auf das ganze preußische Territorium. Polen musste sich beim Streit um Teschen auch mit den Tschechen anlegen. Rumänien verlangte aufgrund des – von ihm bereits verletzten – Bukarester Geheimvertrags von 1916 den ganzen, jenseits der Theiß gelegenen Teil Ostungarns, was im Falle des Banats mit den serbischen Ansprüchen kollidierte. Die Tschechen beharrten aus historischen Gründen auf der Integrität Böhmens, auf ethnischer Grundlage ließen sie sich die Slowakei nicht nehmen, und sie hätten gern einen Korridor zwischen Preßburg und Kroatien gesehen.
Erwähnenswert ist, dass die für die Grenzfragen zuständigen 5 Ausschüsse zur Überprüfung der gestellten Forderungen eingesetzt wurden, was eine organische und umfassende Berücksichtigung der Interessen Österreichs, Ungarns und Bulgariens völlig ausschloss. Eine fachkundige Untersuchung von der Seite der Entscheidungsträger wurde auch durch den Umstand beeinträchtigt, dass Polens und Rumäniens weitere Aufgaben im Kampf gegen den Bolschewismus harrten, ferner, dass die Antragsteller bereits große Gebiete besetzt hielten (die Serben drangen beispielsweise im April 1919 bis Klagenfurt vor).
Die entscheidungsprägenden Großen – im Gegensatz zu 1815 – hatten also keine freie Hand. Russland lag außerhalb ihres Einflussbereiches; sie – die vier Großen – und ihre kleinen ostmitteleuropäischen Verbündeten versuchten einander gegenseitig zu manipulieren, was durch zahlreiche Beispiele anhand der Friedenskonferenz-Materialien zu veranschaulichen ist, und in den nationalen Geschichtsschreibungen oft als heroischer Kampf dargestellt wird.
Das „Prinzip der ethnischen Grenzen“ funktionierte auf einer deklarativen Ebene gut, doch die Umsetzung konnte aus den vorhin genannten Gründen heraus nur mit Abstrichen realisiert werden. Das Türkenreich mit seiner 3 Mio. km2 Gesamtfläche und seinen 25 Mio. Einwohnern konnte ohne weiteres auf 300 000 km2 reduziert werden – wobei auch dieser Schritt sich im Nachhinein als verfehlt erwies und den tragischen griechisch-türkischen bewaffneten Konflikt zur Folge hatte. Das binnen 5 Jahren zweimal geschlagene Bulgarien fand sich mit seinen territorialen Verlusten widerstandslos ab. Österreich konnte die Mehrheit seiner historischen Länder beibehalten, im Süden stützte es sich sogar auf die positiven Ergebnisse eines Referendums. Es erhielt sich sogar neue Gebiete, und zwar den burgenländischen Teil Ungarns (mit 4 020 km2). Sein damals wichtigster Anspruch, der Vereinigung mit Deutschland, wurde nicht zugelassen, obwohl dieser Wunsch nicht als aggressive Forderung anzusehen war und dazu noch mit dem ethnischen Prinzip im Einklang stand.
Das sich Ende 1918 auf 148 000 km2 erstreckende Polen galt 1921 mit seinen 388 634 km2 und 28 Mio Einwohnern als eine Mittel-Großmacht. Dieser Zuwachs ging allerdings mit 6 Kriegen einher. Einer der Träume von Pilsudski ging nicht in Erfüllung: Die polnisch-litauisch-ukrainisch-weißrussische Konföderation. Die Sonderstellung Danzigs war den Polen ebenso ein Dorn im Auge wie die Tatsache, dass noch Polen in Deutschland zurückgeblieben waren.
Der 247 500 km2 große serbisch-kroatisch-slowenische Staat hatte mit sechs Ländern territoriale Konflikte, unter ihnen mit der Siegermacht Italien. Bei der Volksabstimmung in Kärnten entschied sich die Bevölkerung in der „Zone A“ mit 59 % für Österreich.
Das von 138 000 km2 auf 298 000 km2 anwachsende Rumänien berief sich auf der Friedenskonferenz vor allem auf ethnographische Prinzipien. Es stützte sich außerdem stets auf eine historische Argumentation, ferner auf seine Verdienste im Kampf gegen den russischen und ungarischen Bolschewismus. Das (von kurzen Unterbrechungen abgesehen) seit 1916 mit der Entente verbündete Rumänien leistete gute Dienste bei der Ausschaltung der ungarischen Räterepublik, doch mit seinen willkürlichen „Eigeninitiativen“ bereitete es den Großmächten Schwierigkeiten. Das nach einer großen Selbständigkeit strebende, aber nur als drittrangiger Verbündeter angesehene Land wurde in Paris nach einem seltsamen Drehbuch behandelt, das von R. W. Seton-Watson „comedy of errors“ genannt wurde. Das nahm aber auf die Grenzziehung keinen Einfluss. Das Banat wurde aufgrund der Minderheitenreziprozität zwischen Bukarest und Belgrad aufgeteilt; an Rumänien trat das Königreich Ungarn größere Gebietsteile ab, als das ihm noch übriggebliebene Territorium. Bessarabien blieb in rumänischem Besitz – was aber von der Sowjetunion nie anerkannt wurde. Die Ostgrenze Rumäniens wurde also anders umgestaltet als die von Polen oder den drei baltischen Ländern, mit denen Sowjetrussland 1920 Frieden schloss.
Im Zuge der Auflösung des historischen Ungarns und beim Ziehen der neuen ungarischen Grenzen trat die Widersprüchlichkeit der Friedensordnung am markantesten zutage.
Bis Ende 1918 löste sich das alte Ungarn auf. Die großzügigen Föderalisierungsvorschläge, Kantonszenarien und die die Minderheitenrechte berücksichtigenden sog. Volksgesetze der Károlyi-Regierung fanden keinen positiven Widerhall. In den tschechischen, rumänischen und serbischen Besatzungszonen konnte man mit keinerlei Reformplänen experimentieren. Oszkár Jászi konnte nur so viel erreichen, dass er sich mit M. Hodža auf eine entlang der ethnischen Grenzen gezogene slowakisch-ungarische Demarkationslinie einigte, die aber von E. Benes gleich gekündigt wurde. Danach wurden die Demarkationslinien auf tschechische oder rumänische Bitte immer weiter nach innen verschoben – unter Berufung auf militärische Gründe. Anfang 1919 lag in Paris der Entwurf zur Ziehung der neuen tschechoslowakisch-ungarischen und rumänisch-ungarischen Grenzen vor. Nach der Proklamation der ungarischen Räterepublik drangen die rumänischen Truppen bis an die Theiß vor und auch die Tschechen gingen zum Angriff über. Der antikommunistische Inhalt war gleichzeitig ein guter Vorwand, die beanspruchten Gebiete frühzeitig zu „reservieren“, zu sichern. Die ungarische Rote Armee begann mit erfolgreichen Feldzügen im Nordosten, doch auf den Druck der Entente sah sie sich gezwungen, die eroberten Gebiete wieder zu räumen. Die ungarischen Truppen versuchten dann ostwärts die Rumänen bis zur Linie Sathmar-Arad zurückzudrängen. Bekanntlich scheiterte diese Operation völlig, die rumänische Armee besetzte danach sogar die ungarische Hauptstadt.
Eine seit langem umstrittene, latente Frage stellt in der ungarischen Geschichtsschreibung – oder im Sündenbock suchenden Eifer der politischen Publizistik – das folgende Problem dar: Wurde Ungarn wegen der Räterepublik dermaßen streng bestraft, oder aus anderen Gründen? Unseres Erachtens trug die rote Revolution zur weiteren Verzerrung des über Ungarn bei den Nachbarn und in Paris skizzierten Bildes bei, doch sie nahm auf die Grenzziehungen im Wesentlichen keinen Einfluss. Fachwissenschaft und Publizistik geben nicht die gleiche Antwort.
Selbst bei der Arbeit der Friedenskonferenz erwies es sich als problematisch, dass das ethnische Prinzip und das Selbstbestimmungsprinzip unentwegt verletzt werden. Die an der Grenze gelegene Insel Schütt (Csallóköz) wurde aus reinen wirtschaftspolitischen Überlegungen der Tschechoslowakei zugesprochen, als „Gegenleistung“ verzichteten die Tschechen auf ihre eigenen, auf die nördlichen ungarischen Industriegebiete erhobenen weiteren Ansprüche. Auch wegen des Eisenbahnnetzes wurden Gebiete abgetreten. Die Eisenbahnlinie Arad-Großwardein-Sathmar wurde für eine lebenswichtige strategische Linie erklärt, somit mussten diese Städte Rumänien übergeben werden. Auf diese Weise entschied man über das Schicksal von mehr als 300 000 Ungarn, obwohl anfangs die amerikanische und italienische Delegation eine ethnische Grenze befürwortete.
In dem ungarischen Friedensvertrag beigelegten Millerand-Brief steht die
folgende Passage: „Die Großmächte beugten sich mit Bedauern der Notwendigkeit, dass einzelne wichtige Bestandteile der ungarischen Bevölkerung unter die Souveränität anderer Staaten geführt werden müssen“. Dem Pariser Argument, dass nämlich wegen der ethnisch gemischten Siedlungen eine optimale Grenzziehung schwierig erscheint, kann man, das Karpatenbecken im Ganzen gesehen, zustimmen. In der Nähe der neuen Grenzen existierten aber auch tatsächliche ethnische Grenzen, im Verhältnis zur Slowakei bestand sogar ein sog. krasser Spachgrenzentyp. Die „sonstigen Überlegungen“ waren stärker als die deklarierten ethnischen Prinzipien. Ein Drittel der Magyaren Ungarns (3,3 Mio. Seelen) geriet unter die Verwaltung der neuformierten Staaten.
Bei diesem Problem muss noch Folgendes erwähnt werden: in gar keinem ungarischen Gebiet wurde ein Referendum durchgeführt, obzwar sich die ungarischen Unterhändler auf der Friedenskonferenz dafür ausgesprochen hatten, dass Ungarn sich dem Ergebnis der Volksabstimmungen unbedingt unterwerfe. Doch die Referenden hätten nicht nur ethnische Korrektionen ermöglicht; sie hätten der ungarischen Gesellschaft bei der Aufarbeitung des großen Nachkriegstraumas geholfen (das Land verlor zwei Drittel seiner Gebiete und 30 % des Ungarntums). Die Frage der Volksabstimmung wurde auch von der amerikanischen Delegation aufgeworfen. Die Nachbarn Ungarns wollten aber davon nichts wissen. Eine Einstellung dänischen Typs lag ihnen völlig fern.
Die grenzziehungsbezogenen Bestimmungen des ungarischen Friedensvertrags waren auch für die Entscheidungsträger problematisch. Man kann trotz allem feststellen, dass sie von ihren eigenen Gesichtspunkten aus eine „gute Entscheidung“ trafen. Eine ethnisch korrekt gezogene Grenze hätte fast so große Mengen der ungarischen Bevölkerung den sog. Nachfolgestaaten überlassen, außerdem eine ganze Reihe von historisch-symbolischen Stätten und eine enorme Menge von Naturschätzen – man hätte keineswegs über eine zufriedenstellende Lösung sprechen können. Dazu hätte noch eine andere Lösungsvariante auch die drei Entente-Verbündeten, die weit mehr verlangt hatten, als sie zuletzt zugesprochen bekamen, tief enttäuscht. Die Frage vereinfachte sich also: Man hatte die Wahl, entweder vier unzufriedenen Donaustaaten zu schaffen oder drei Verbündete großzügig zu saturieren, auf Kosten eines vierten Staates, eines einstigen Gegners. Die zu wählende Alternative – aus der Sicht der Entente – ließ keinen Raum für Zweifel übrig.
Die im Versailles-System formierten und legitimierten neuen Staaten waren ethnisch kaum homogener als die Verwaltungseinheiten der früheren Reiche. Um die ethnische Sprengkraft neutralisieren zu können, setzte man für die Staaten der Region Minderheitenverträge ein. Ferenc Glatz weist darauf hin, dass bei der Umsetzung der staatsbürgerlichen Toleranz den nicht geschulten Gesellschaften neue Normprinzipien aufgezwungen wurden. Die neuen Staaten betrachteten das internationale Recht nur als sekundär. Bei den im Völkerbund ausgetragenen konkreten Rechtsstreiten hatte das politische Prestige („der Sieg“) verständlicherweise einen höheren Stellenwert als der Kern der einschlägigen Probleme. Dies rief eine Enttäuschung hervor.
In Bezug auf die Gebietsänderungen könnten einige Thesen wie folgt formuliert werden:
1) Trotz der verspäteten nationalen Entwicklungen mussten diese Länder „supranationalen“ Ansprüchen gerecht werden. Sie vertraten sich selbst und gleichzeitig auch die Interessen der großen Vier.
Die neuen Grenzen basierten nur selten auf historisch-organischen Ländereinheiten (wie z.B. in Böhmen, Kroatien oder Finnland); der Regionalismus galt lediglich als ethnographische Besonderheit.
2) Die Grenzziehungen hatten zu viele strittige Elemente, so dass im System der gegenseitigen Angst selbst die Absicht oder Möglichkeit zu Gebietskorrektionen ausgeschlossen war. Ein Anspruch solchen Inhalts war mit einer an das ganze internationale System adressierten Herausforderung gleichzustellen.
3) Der Stabilitäts- und Konsolidierungsbedarf wertete die Bedeutung des „Schutzmächtesystems“ auf, welches bereits auf eine eigene Tradition zurückblickte.
Die „Vakuumzone“, der „cordon sanitaire“, die Kleine Entente und der Balkanbund, kurzum: Missionsbewusstsein und Minderwertigkeitsgefühl erleichterten keineswegs die Suche nach breiteren Kooperationsmodalitäten. Es blieb nichts anderes übrig, nur ein Konglomerat der Staaten, was im Bewusstsein der Intelligenz Verwirrungen bewirkte.
4) Die föderativen Prinzipien (Paneuropa-Leitbilder) verbreiteten sich kaum. Die wirtschaftspolitischen Kooperationsszenarien (Briand, Hantos, Gratz) galten selbst in ihrer „Agrarblock-Variante“ noch als frühreif. Nach 1933 gewinnen diese Pläne mehr an Raum, jedoch eher auf einer Losungsebene.
Die während des Zweiten Weltkriegs von ungarischer Seite konzipierten föderativen Pläne (z.B. jener von Bethlen) waren durch die „Revision der Revision“ geprägt, genauer formuliert: Sie versuchen den
Gedanken der teilweisen Revision in Föderationsszenarien einzuweben. Diese stehen eindeutig im krassen Gegensatz zu den Integrationsvorstellungen von Hodža, Benes oder Tito (der Bethlensche Entwurf sah vom Baltikum bis zum Ägäischen Meer 3 Zonen vor; der Föderative Donaustaat hätte sich aus 5–6 Ländern zusammengesetzt). Der im Exil lebende Jászi konzipiert 1941 einen Plan, der Gemeinsamkeiten mit jugoslawischen, tschechischen, polnischen und griechischen Szenarien aufweist. Demnach hätte ein Nationalitäten-Schutzsystem eingesetzt werden sollen, womit auch weitere ungerechte Grenzziehungen hätten verhindert werden sollen. Jászi erkennt Ende 1944, indem er die Ausdehnung der russischen Einflusszone auf Mitteleuropa prognostiziert, die neuen „strategischen Grenzlinien“ (die Annexion von Königsberg durch die Sowjets, die Besetzung von Danzig durch Polen) und gleichzeitig das Scheitern der Föderalisierungsversuche.
II.
Die auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Grenzänderungen entsprachen den neuen Kräfteverhältnissen unserer Region. Während Sowjetrussland 1919–20 von den Pariser Friedensverhandlungen ferngehalten war, war es nach 1945 in „Zwischeneuropa“ als Besatzungsmacht präsent, anerkannter Weise mit hegemonistischen Ansprüchen. Demzufolge wurde im Zuge der neuen Grenzziehungen die Restaurierung des Versailles-System von 1919–20 mit dem Ergebnis einer gegensätzlichen Ordnung kombiniert. Es ging um die Sanktionierung der Ergebnisse, die aus dem deutsch-sowjetischen Pakt von 1939 und dem damit verbundenen Gebietserwerb von 1939–40 resultierten (die Annexionen wurden 1945 weiter komplettiert). (Die Grenzkorrektionen, die das nationalsozialistische Deutschland eigentlich als ethnisch legitimiert durchgeführt hatte /Österreich, Sudetenland/, wurden ebenso als „teuflisch“ gebrandmarkt wie die sonstigen deutschen Eroberungen oder die ungarnbezogenen Bestimmungen der beiden Wiener Schiedssprüche von 1938 und 1940.)
Dem deutschen ethnischen Prinzip und Volksgruppenrecht gegenüber griffen die Sieger nicht nur auf das Versailles-System zurück, sie warfen das Kollektivschuldprinzip auf. Man war diesmal bemüht, das Ethnikum den Grenzen anzupassen. An die Stelle des legitimen Minderheitenschutzes trat die legitimierte Vertreibung der Minderheiten. Die tschechischen und polnischen Exilpolitiker entschieden sich noch während der Kriegsjahre, sich nach dem Kriegsende ethnisch einheitliche Staaten zu schaffen. Auf den Horror der NS-Herrschaft folgten die Gräueltaten der Vergeltung, die in der Vertreibung und Aussiedlung von mehreren Millionen Menschen, im „Bevölkerungstransfer“ zum Ausdruck kamen.
Polen – für dessen Aufrechterhaltung der Weltkrieg ausbrach – wurde kleiner und weiter nach Westen verschoben. Die Tschechoslowakei (und Ungarn) verloren das Ruthenenland. Jugoslawien vergrößerte sich, Ostpreußen verschwand, Österreich war neugeboren
Die Grenzen wurden mit neuen, emotionalen Inhalten gefüllt. Es entstand der „Eiserne Vorhang“ zwischen Ost und West, außerdem eine überideologisierte Grenze zum seinen eigenen Weg eingeschlagenen Jugoslawien. In der sowjetischen Einflusssphäre funktionierten anderthalb Jahrzehnte lang die einzelne „Bruder-Länder“ voneinander trennenden Grenzlinien als innere eiserne Vorhänge. Das Sowjetsystem erweiterte auch bei der Funktionalisierung der Grenzen die Nationalstaatlichkeit dermaßen, wovon ein bürgerlicher Nationalist im 19. Jahrhundert nicht einmal träumen durfte. „Dies ging zwangsläufig mit einer völligen Tabuisierung der Problematik von Grenzziehungen in den jeweiligen Historiographien Hand in Hand. Erst in den 70-er Jahren sollte dann das Thema Grenze wieder – in indirekter Weise – aufgegriffen werden.”
Ein ungarisches Dorf in der Slowakei wird durch die slowakisch-ukrainische Grenze entzweit. Die auf beiden Seiten wohnenden Dorfbewohner können bis heute nur zueinander hinüberrufen, auf die andere Seite dürfen sie nicht. Es geht um etwas Ähnliches, wie an der galizisch-preußischen Grenze im Háry-Märchen von Kodály.
Hobsbawm beurteilt in seinem Buch über das 20. Jahrhundert die durch Versailles initiierte nationalstaatliche Gebietsaufteilung hyperkritisch. Er vertritt die Meinung von vielen, wenn er ausführt, dass man sich 1919–20 die Chance zur Wiederherstellung eines liberal-bürgerlichen Europa entgehen ließ. Er fügt dem noch Folgendes hinzu: „Die Nationalitätenkonflikte, die den Kontinent der neunziger Jahre spalteten, waren die alten Gespenster von Versailles, die wieder einmal ihr Unwesen trieben.“2
Es mag schon sein, dass die Grenzfragen heute keine zentralen Probleme mehr darstellen. Doch sie leben latent in unseren Ängsten weiter, auch bei uns Historikern. Wenn es den Slowaken um das 10. Jahrhundert geht, wenn die Ungarn von der Türkenzeit sprechen, wenn die Polen sich für die Jagellonen- oder Piastentradition entscheiden müssen, wenn die Bulgaren sich zum türkischen oder slawischen Erbe bekennen müssen usw.
Die Debatten ethnischen Inhalts haben bis heute keine gute Fachkultur. Fraglich ist, welche Folgen ein in diesem Thema initiierter „Historikerstreit“ hätte. Zumindest solange die Geschichtswissenschaft grundsätzlich eine „nationale Wissenschaft“ bleibt.
Anmerkungen
1
Limes, 1997. Nr. 2. S. 7–139. – Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme. (Hrsg. Hans Lemberg). Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung. Bd. 10., 2000, 291 S.
2
Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Carl Hanser Verlag, München–Wien 1995, S. 50.
Zoltán SZÁSZ ist Professor des Europa Institutes und verantwortlich für die wissenschaftliche Leitung der Kaffeerunden. Er ist einer der leitenden Persönlichkeiten der innerhalb des Institutes erfolgenden Minderheitenforschung. Vorliegende Studie wurde im Rahmen eines dieser Projekte des Institutes (Die Zukunft der kleinen Nationen) verfertigt.