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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:221–224.

TAMÁS KANYÓ

Oral-History-Projekt: Emigration und Identität

Methodische Aspekte zur Lebenswegbetrachtung 1956er Flüchtlinge in der Schweiz

 

Im Zuge der Niederschlagung der Revolution in Ungarn 1956 verließen um die 200’000 Menschen das Land. Die Schweiz nahm damals ungefähr 13’000 Flüchtlinge auf.

In zwei Abhandlungen versuchte ich der Frage nachzugehen, welche Spuren diese Ereignisse in den lebensgeschichtlichen Erinnerungen einzelner ausgewählter Zeitzeugen hinterlassen haben.

Die in ungarischer Sprache verfasste Arbeit „Emigration und Identität. Aspekte der Integration 1956er Ungarnflüchtlinge in der Schweiz“ richtete sich die Frage nach der Art und Weise der spezifischen Auseinandersetzung mit der neuen Lebenslage der Flüchtlinge: Wie haben sie die ihnen auferlegte Arbeit der Neuorientierung, der Neusozialisierung, der Integration aufgefasst und bewältigt1.

Der andere in deutscher Sprache erschienene Artikel „Die Schweiz und die ungarische Revolution von 1956“2 untersuchte die schweizerische Perspektive. Was haben die Ereignisse von 1956 ausgelöst, wie erfuhren Schweizer Personen die Begegnung mit den Flüchtlingen und welchen Stellenwert erhielten diese Ereignisse in lebensgeschichtlichen Bezügen.

Es ist möglich – um auf die „Ergebnisse“ der an zweiter Stelle erwähnten Arbeit zu kommen – kurz zu konstatieren, dass große Teile der Schweizerischen Bevölkerung durch die Revolution ungewöhnlich stark erschüttert wurden, dass sie sich in großem Maß solidarisierten. Es kam zu Spendenaktionen, Solidaritätskundgebungen. Von verschiedenen Gruppierungen wurden Demonstrationen organisiert. Wobei die Interpretation der Ereignisse eine Eigendynamik entfaltete, die in der innenpolitischen Auseinandersetzung – Abrechnung mit linken Parteien – eine wichtige Rolle spielte, aber direkt wenig mit der Revolution in Ungarn zu tun hatte. Als Erklärung für diese große Solidarität mögen neben einer humanen Tradition, die eigene Betroffenheit, dass man nicht in Frieden, sondern im Kalten Krieg lebte und die Lehre aus der damaligen Diskussion um den unmenschlichen Umgang mit jüdischen Flüchtlingen während des Zweiten Weltkriegs gelten. Sodann bliebe noch die Schilderung all jener Aktionen, welche z. B. die damals entstandenen Vereine durchführten, um politische Aufklärungsarbeit zu leisten, oder um Flüchtlingen bei der Integration zu helfen.

Mit der Zusammenfassung wurden allenfalls die möglichen Themen benannt, die eigentliche Substanz der Arbeit liegt in den vermittelten Stimmen der Zeitzeugen, die hier nicht aufgeführt werden.

Die Betrachtungsweise impliziert schon in der Fragestellung einen mikrohistorischen Ansatz, der hier wiederum auf Oral-History-Quellen basiert. Aus Erfahrungen aus der Fachliteratur und gelegentlich in Auseinandersetzungen im Rahmen einer Diskussion sollen hier ein paar kritische Punkte aufgezeigt werden, die das Spezifische an Oral-History-Texten, an den genannten Beispielen darstellen. Letztlich geht es hier um die Frage bei der Auseinandersetzung mit narrativen Konstruktionen, was dabei der Historiker als seine Aufgabe wahrnimmt.

Aus der häufig geäußerten Kritik an Oral-History-Texten – z.B. Erinnerungsaufzeichnungen seien unzuverlässig und zu subjektiv – und der Tatsache, dass viele Werke dieses Genres zunächst mit einer Apologie beginnen, lassen oft ein grundlegendes Missverständnis vermuten. Ein Grund dafür mag in der Unklarheit bestehen, welche Ziele und Ansprüche mit diesen Texten verbunden sind.

Bei den oben genannten Beispielen sind schon Fragestellungen auf dieses Genre Oral History angewiesen. Der Versuch Identität aufzuzeigen heißt, eine Geschichte von sich zu erzählen. In gewisser Hinsicht bergen wohl die meisten Oral-History-Texte, also lebensgeschichtliche Erzählungen daher das Thema Identität in sich; hier (Emigration und Identität) zeigt dieser Begriff im Titel die Richtung an, worauf die Gespräche letztlich peilten, da es beim Thema „Emigrantendasein“ eines der Schlüsselbegriffe darstellt. Was dabei herauskommt sind Einblicke in Lebenswelten und in eine Art Geschichtsbewusstsein verschiedener Individuen. Die Durchführung der Interviews erfordert größte Sorgfalt3 welche auch ethische Fragen aufwirft4. Als Zwischenresultat erhält man vom Tonband transkribierte Erzählungen, die einerseits einem Reduktionsprozess folgen, da die paralinguistischen Elemente (Lautstärke, Pause, Gestik usw.) unvermeidlich ausgeblendet werden, andererseits entsteht eine erste Struktur der Aussagen durch die Transkription.

Ein wesentliches Problem entsteht bei der „textgerechten“ Analyse der narrativen Konstruktionen, es handelt sich eben nicht um einen Text, an den man nun von außen herangehen kann. Die bis zu einem gewissen Grad geteilte Urheberschaft, d. h. die eigene Mitwirkung, ist so prägnant, dass eine Objektivierung eine große Herausforderung darstellt. Als eine Hilfe auch für die verständliche Darstellung mag die Auswahl „geschlossener Formen“ sein. In der Erzähltradition lassen sich verschiedene Texttypen aufzählen: „Eine Episode“ oder eine kleine „Geschichte/Anekdote“. Diese können aufgrund ihrer Tendenz zu einer Geschlossenheit, d.h. Strukturiertheit durch Setzung von Anfang und Ende, sowie einem Höhepunkt in einer Pointe als eine solche Einheit betrachtet werden, die es für den Analysierenden leichter ermöglicht jenen äußeren Standpunkt einzunehmen und Kommentare zuzufügen. Diese Wahl der geschlossenen Form ermöglicht – zum Preis einer gewissen Redundanz – überdies dem kreativen Lesenden einen gewissen autonomen Spielraum: Die „Quellen-Stimmen“ bleiben gewissermaßen hörbar.

In diesen Oral-History-Arbeiten besteht kein Anspruch auf allgemeine Repräsentativität, es ist das Exemplarische der Stimmen, das im Vordergrund steht. Indem mehrere Zeitzeugen zum selben Themenkreis interviewt werden, ermöglicht dem interpretierenden oral historian eine Differenzierung des Gesamtbildes, in der so entstehenden Polyphonie werden Relationen und Positionen unter den gesammelten Daten der Befragten erst überhaupt sichtbar.

Zu den speziellen Aufgaben des oral historian gehört durch seine Involviertheit im Text, die eigene Standortbestimmung u.a. als Voraussetzung einer Quellenkritik. Hervorzuheben wäre da die Mittlerfunktion gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen müssen die mikrohistorischen Annäherungen auch in einen größeren historischen Kontext gesetzt werden, um größere Klarheit zu erhalten, wobei diese Kontextualisierung meist in der Tradition der „historischen Zunft“ geschieht. Gleichzeitig bewegt sich der oral historian im offenen Grenzland zu anderen Disziplinen. Je nach Thema wird z. B. eine sozialpsychologische oder sprachwissenschaftliche Annäherung erforderlich.

Was sind die Kriterien für die „Konstruktion“ der Narrativa. Zum einen sind es sicherlich die sinnstiftenden Momente. Als Beispiel seien hier drei Positionen erwähnt, die sich beim Vergleich der gesammelten Daten ergeben haben, als es darum ging, zu sehen wie große Entscheidungen im Verlaufe des Lebens (Emigration, Wahl des Destinationsortes, Ausbildungs- und Berufswahl usw.) getroffen wurden. Alle drei Zeitzeugen hatten nach der Emigration beruflich eine relativ große Karriere gemacht. Bei einem dominierte durch die Erzählung hindurch ein Moment der Aktivität, er hat sich selber um seine Schulbildung bemüht (im Flüchtlingslager hätte er noch wochenlang Ping Pong spielen können, ohne, dass die Erwachsenen ihn davon abgehalten hätten) und auch bei den weiteren Schritten wird diese autonome Unternehmungslust betont. Dieser Position steht der passive Antipode entgegen. Bei jenem wird unterstrichen, dass er z. B. in die Schweiz kam, weil Bekannte ihn dazu bewegt haben, seine Anstellungen erhielt er, weil er gerufen oder darum gebeten wurde. Die dritte Position vertritt eine religiöse, in eine kalvinistische Richtung deutende Argumentation, es ist der Allmächtige, der den Zeitzeugen zwingt jene Schritte zu tun, er muss emigrieren, da er frisch nach einer Bauchoperation die zu erwartenden Schläge der Polizei – er stand auf der schwarzen Liste als Anführer eines Revolutionskomitees – kaum überlebt haben würde.

Es gehört nicht zum Ziel an sich des Kommentars Typen oder Kategorien zu bilden. Zu unterstreichen ist die Möglichkeit bei der Betrachtung von narrativen Konstruktionen durch die anthropologische Größe, Geschichten „greifbar“ darzustellen.

Bei der Annäherung zu den sinnstiftenden Momenten in der lebensgeschichtlichen Erzählung ist ebenfalls die Frage nach der Erinnerungskultur des Informanden von Bedeutung. Wie verdeckt waren die Geschichten, wie sehr wurden sie öffentlich oder privat thematisiert5.

Abschließend soll auf die spezielle Rolle oder Chance von Oral History in den ehemaligen sozialistischen Ländern hingewiesen werden. Lange dominierte ein offizielles „Staatsnarrativ“. Zum Resultat gehören verschüttete Geschichten. Die Möglichkeit, dass Unbenanntes, ins Private Geschobene von der Geschichtsschreibung nun thematisiert wird, kann auch als therapeutisches Moment begriffen werden. Einerseits für die Betroffenen, weil das den Prozess ihrer persönlichen Verarbeitung fördern mag und andererseits kann durch die Thematisierung verschwiegener Kapitel der jüngeren Geschichte auch eine Sensibilisierung in breiteren Kreisen bewirkt werden. Lutz Niethammer, ein Doyen der Oral History fasste sein Anliegen programmatisch im Satz: „Eine demokratische Zukunft bedarf einer Vergangenheit, in der nicht nur die Oberen hörbar sind.“6

 

Anmerkungen

1

Ein Teil der Überarbeitung der ungarischen Fassung wurde vom Europa Institut Budapest in Form eines Stipendiums unterstützt, die Edition ist für den Herbst 2001 geplant.

2

Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Heft 2/2000, S. 208–224

3

Vgl. Fuchs, Werner: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen, 1984; Rosenthal, Gabriele: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt a.M., 1995; Schütze, Fritz: Das narrative Interview. Hagen, 1986; Plato, Alexander von: Zeitzeugen und die historische Zunft, Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss. In: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Heft 1/2000, S. 5–29.

4

Vgl. Leh, Almut: Forschungsethische Probleme in der Zeitzeugenforschung. a. O. S. 64–76

5

Vgl. Jureit, Ulrike: Konstruktion und Sinn: methodische Überlegungen zu biographischen Sinnkonstruktionen. Oldenburg, 1998

6

Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis von „Oral History“. Frankfurt a. M., 1980, S. 7