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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:9–14.

HERBERT BATLINER

Qualität und Kreativität

Festrede

 

Magnifizenz,

Spektabilitäten,

Festlich Versammelte,

 

Es ist für mich nicht leicht, die Gefühle der Freude und Dankbarkeit, die mich in dieser Stunde bewegen, in Worte zu kleiden.

Ich freue mich sehr über die mich so ehrende akademische Auszeichnung. Es ist dies der erste Doktor honoris causa, den ich dazu noch von der größten und ältesten Universität dieser Stadt Budapest erhalte. Ich freue mich aber auch über diese wunderbare Feierstunde, in der ich auch ein Zeichen der mitteleuropäischen Verbundenheit zwischen Ihrem Land und meiner Heimat, dem Fürstentum Liechtenstein, sehe.

Ich bin zutiefst dankbar dafür, dass ich als leidenschaftlicher Europäer nach Jahrzehnten fruchtbarer Verirrungen nun das Zusammenwachsen dieses Kontinents miterleben und nach Kräften unterstützen darf. Damit kann Europa – wie Papst Johannes Paul II. einmal gesagt hat – wieder aus zwei gesunden Lungenflügeln atmen.

In diesem Sinn sehe ich diese festliche Stunde auch als einen kleinen aber sinnigen Mosaikstein vor dem Hintergrund dreier großer, historischer Daten:

– dem „Jahr Zehn” nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs;

– dem Millennium der Geschichte Ungarns;

– und dem bevorstehenden Eintritt in ein neues Jahrtausend unserer gemeinsamen christlichen Zeitrechnung.

Ich möchte noch eine kurze Bemerkung über unsere beiden Länder anfügen, die ja beide Teil eines historisch gewachsenen mitteleuropäischen Raumes sind. Ich erwähne diesen Begriff „Mitteleuropa” nicht aus einem Gefühl verklärter Nostalgie und sicher nicht, um einen längst verblassten politischen Mythos gegen alle Wirklichkeit neu zu beleben. Unsere Völker blicken heute nicht zurück, sondern ungeduldig nach vorne in eine Zukunft, die den ganzen Kontinent hoffentlich bald zu einer großen Friedens-, Wohlstands- und Schicksalsgemeinschaft vereint.

Ich verwende den Begriff „Mitteleuropa” aber sehr bewusst,

– weil ich an das gewaltige Netzwerk geistiger und emotionaler Kanäle zwischen den Menschen und Völkern dieses Großraums glaube;

– weil uns viele gleiche oder ähnliche Erfahrungen und geistig-kulturelle Werte geprägt haben;

– und weil wir gemeinsam gerade das Vielstimmige, aber auch das Kleine, für einen wesentlichen europäischen Wert halten.

Ich sehe aber noch eine andere Gemeinsamkeit unserer beiden Länder – so unterschiedlich sie auch nach ihrer Größe und ihrer jüngeren Geschichte sind: beide stehen heute angesichts der europäischen Integration vor Bewährungsproben, die vermutlich größer sind als vieler anderer Staaten, die den europäischen Einigungsprozess schon weit länger und unmittelbarer mitgestalten konnten. Und doch bin ich fest davon überzeugt, dass gerade kleinere und kleine Staaten geistige Labors und Zentren der Kreativität sein können, die imstande sind, auf andere auszustrahlen und es sei mir hier gestattet, nur ein Beispiel zu erwähnen: Liechtenstein mit seinen 31 000 Einwohnern hat in den letzten Wochen über 500 Flüchtlinge aufgenommen, während z. B. das benachbarte österreichische Bundesland Vorarlberg mit einer Bevölkerungszahl von zehnmal mehr lediglich 400 Flüchtlinge aufnahm. Die Schweiz müsste, gemessen an ihrer Bevölkerung, im Vergleich zu Liechtenstein ca. 100 000 aufnehmen.

 

Meine Damen und Herren,

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert geht unsere Industriegesellschaft in eine große, fast grenzenlose Informationsgesellschaft über. Ich muss auf diesem akademischen Boden niemanden davon überzeugen, dass es künftig nicht mehr die Bodenschätze oder die Zahl von Arbeitskräften sein werden, die das Überleben und den Wohlstand eines Landes sichern. Worauf es letztlich ankommen wird, das ist nicht mehr die Quantität, sondern allein die Qualität und Kreativität dessen, was wir gerne als „Humankapital” bezeichnen.

Das Dilemma kommender Jahrzehnte liegt wohl vor allem darin, dass sich das weltweit verfügbare Wissen in atemberaubender Geschwindigkeit potenzieren wird, dass aber die Zeitspanne, die wir in unserem Leben für die Vermehrung unseres Wissens einsetzen können, bestenfalls konstant bleibt.

Unter diesen Vorzeichen bedeutet Wissen also nicht das Sammeln möglichst vieler Informationen, die uns auf den Datenautobahnen entgegen strömen, nein, mehr denn je wird es darauf ankommen, die Informationen zu sortieren, zu bewerten und sie kreativ zu nützen, um daraus anwendbares Wissen entstehen zu lassen.

Nur wer richtig selektiert und Zusammenhänge begreift, kann gezielt agieren, reagieren und regieren.

„Wissen ist Macht, denn es ist der Stoff, aus dem die Zukunft ist” – so hat es der englische Philosoph Francis Bacon schon vor 400 Jahren weitsichtig formuliert. Das war damals – angesichts eines ganz anderen Machtbegriffs – ein bemerkenswert prophetisches Wort. Heute wissen wir, dass Fortschritt in einer offenen und demokratischen Gesellschaft nur über Wissenschaft und Forschung entstehen kann und jeder Wohlstand zuallererst im Kopf wächst. So zählt auch die Mobilisierung unserer geistigen Reserven zu den zentralen Zielen jeder vorausdenkenden Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik. Bildung und Forschung entscheiden heute direkt über unsere Zukunftsfähigkeit und unseren Platz im künftigen „Europa des Geistes”. Unsere Schulen und Universitäten prägen die Jugend und damit die Welt von morgen – im Guten und im Schlechten. Sie fördern entweder das weltbürgerhafte und kosmopolitische oder aber die Provinzialität und geistige Enge. Sie stimulieren Neugierde und Toleranz oder gleich gerichtetes Denken und intellektuelle Untugenden der Ausgrenzung, Unduldsamkeit und des Dogmatismus.

Im Rückblick spricht vieles dafür, dass es nicht der Wunsch nach einer Vision – einer Illusion – war, der den Kommunismus ruiniert hat. Ich meine, es war vielmehr das Verbot, manche Wahrheiten zu suchen, zu sagen und zu akzeptieren. So gesehen, war es das Verhindern echter Wissenschaft außerhalb der zugelassenen Ideologie, das vor einem Jahrzehnt den Mahlstrom der Geschichte in Gang gesetzt hat.

Ich halte es mit Thomas Mann, der einmal geschrieben hat: „Europa – das ist das Gegenteil von provinzieller Enge, von borniertem Egoismus, von nationaler Rohheit und Unbildung. Europa bedeutet Freiheit, Weite, Güte und Geist. Europa – das ist Niveau, ist ein kultureller Standard.”

Diesen Maßstab müssen wir Europäer immer wieder an unser Tun anlegen – auch und gerade in diesen bitteren Wochen, in denen sich mitten in Europa die Gewalt wieder einmal das letzte Wort erobern konnte.

 

Meine Damen und Herren,

Ich hatte die Möglichkeit, in den vergangenen Wochen und sogar Jahren, an vielen Diskussionen teilzunehmen, in denen versucht wurde, den Blick über das Jahr 2000 hinweg in das kommende Jahrhundert zu heben. Ziemlich unbestritten war dabei, dass es – hier in Europa, aber auch global – zu einer neuen, bisher nie gekannten Gleichzeitigkeit von Zusammenarbeit und Wettbewerb kommen wird – und zwar sowohl in der Wirtschaft, wie auch in der Wissenschaft und Forschung. Dank der modernen technischen Transportmittel sind Informationen, Kommunikation und Wissen keinen zeitlichen und räumlichen Schranken mehr unterworfen. Die Folge dieser Entwicklung ist das Entstehen einer immer grenzenloseren Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, von Konkurrierenden und Kooperierenden, dem sich niemand entziehen kann, in der aber auch niemand an Boden verlieren darf. Denn wer zurückbleibt, wird sich bald auf einer Insel der Irrelevanz wiederfinden.

Wichtig scheint mir – und das gilt für Ungarn ebenso wie für die anderen Länder Europas –, dass wir nicht nur bereit und fähig sind, die Tiefe und Reichweite dieser Umwälzungen und ihre unmittelbaren Auswirkungen auf unser künftiges Schicksal möglichst rasch zu erkennen. Es muss uns auch gelingen, den gefährlichen Entfremdungsprozess zwischen einer immer komplexer werdenden Wissenschaft und Forschung und einer mit Oberflächlichkeit und Kurzatmigkeit überfütterten Öffentlichkeit zu stoppen.

Was bedeutet das konkret? Lassen Sie mich 5 Gedankengänge, die Sie vielleicht als hypothetisch betrachten, hier darlegen:

1. Ich persönlich glaube, es bedeutet, dass wir uns – wo immer wir in Europa leben – dagegen auflehnen müssen, wenn versucht wird, das bequeme Mittelmaß zum nationalen Wesenszug zu machen;

2. Es bedeutet, dass wir – wie es etwa in den 60er Jahren nach dem sogenannten „Sputnik-Schock” in Amerika geschehen ist – ein neues öffentliches Wissenschafts- und Forschungsbewusstsein schaffen, das es der Politik erlaubt, entsprechende Prioritäten mehrheitsfähig zu machen;

3. Es bedeutet aber auch, dass wir – wo immer wir gehört werden – die Freude an geistiger Arbeit an der Entfaltung schöpferischer Kräfte, an der Leistung und am lebenslangen Lernen wecken und unterstützen;

4. Es bedeutet zudem, dass wir die Anstrengungen und Erfolge unserer großen Begabungen und geistigen Eliten auch öffentlich mit Stolz und Ermutigung registrieren (das soll vor allem ein Appell an die Medien sein);

5. Und es bedeutet schließlich, dass sich auch die Wissenschaft noch mehr als bisher um eine öffentlich verständliche Sprache bemüht, um sich und ihre Ziele auch dem Laien besser zu erklären.

 

Meine Damen und Herren,

Ich weiß schon, dass der Umgang und die bewusste Förderung von „Eliten” heikel ist und bei vielen von uns noch immer auf tief sitzende Widerstände stößt. Das gilt – um nicht missverstanden zu werden – keineswegs nur östlich der alten europäischen Trennungslinie, wo die „Gleichheit” jahrzehntelang zu den heiligsten Gütern der herrschenden Ideologie zählte. Auch in meiner eigenen Heimat sind wir eher dazu erzogen worden, uns nur nicht über andere zu stellen, und besondere Begabungen lieber nicht allzu offen zu zeigen.

An der Schwelle eines neuen Zeitalters sollten wir uns alle rückhaltlos manchen Fragen stellen. Etwa: Wie sehr bekennt sich jeder von uns wirklich zu einer nachdrücklichen Förderung von Kreativität und Leistungswillen?

Wie sehr sind wir bereit, den besten Köpfen den Weg an die Spitze frei zu machen?

Wie viel Ängstlichkeit, am Ende von Jüngeren, Dynamischeren, Besseren eingeholt und überholt zu werden, steckt nach wie vor in unseren Strukturen – und in uns?

Und wie sehr beeinflussen unsere etablierten Bürokratien und Obrigkeiten den freien Flug des Geistes und die Kreativität?

Ich bin, wie Sie unschwer erkennen, ein überzeugter Anhänger einer weit stärkeren öffentlichen Anerkennung und Unterstützung für außergewöhnliche Begabungen, für Erfindergeist und innovatorische Kraft als bisher. Eine konsequente Mobilisierung unserer kreativen Reserven ist nach meiner festen Überzeugung unentbehrlich, um in Zeiten globaler Konkurrenz unseren Wohlstand, unsere Stabilität und unsere sozialen und ökologischen Standards zumindest abzusichern.

Aber das individuelle Genie ist nur ein Teil einer künftigen Erfolgsrechnung. Ich habe vor wenigen Minuten auf das Dilemma hingewiesen, dass wir Menschen in den kommenden Jahrzehnten zwar immer mehr wissen, nicht aber mehr Zeitreserven erwarten können. Der Ausweg führt unausweichlich in die Spezialisierung und den Einsatz von Hochbegabten – er führt aber zugleich auch in die konsequente Kooperation und Partnerschaft von Arbeitsgruppen, über viele nationale und kontinentale Grenzen hinweg.

Das Erfolgsrezept von morgen heißt deshalb nach meiner festen Überzeugung: wir müssen zugleich und gleichgewichtig auf Teams und Netzwerke, aber auch auf den Einzelnen setzen. Das hat enorme Auswirkungen auf die Ausbildungsziele und die Zusammenarbeit der Universitäten und Forschungsinstitute – und auf den Idealtypus des Gelehrten, des Experten von morgen.

 

Meine Damen und Herren,

An das Ende dieser kurzen Überlegungen möchte ich noch ein sehr persönliches Wort stellen. Oft bin ich bedrückt, wenn ich – gerade auch an dieser Jahrtausendwende – aus öffentlichen Wortmeldungen spüre, wie viel Zukunftsskepsis, wie viel Pessimismus und sogar Zynismus auch in intellektuellen Zirkeln lebendig ist. Ich meine deshalb, wir brauchen heute mehr denn je eine geistige Elite, die nicht nur ihr Gehirn einsetzt, sondern auch ihr Herz. Eine Elite, die an die eigenen Fähigkeiten und an ein besseres Morgen glaubt.

Wir brauchen junge Menschen, die bereit und fähig sind, die Augen offen zu halten für das Unerwartete.

Wir brauchen viel mehr schöpferische Neugier.

Wir brauchen eine Wissenschaftsgesinnung, die bei allem notwendigen Hinterfragen technischer Innovation nicht den Charakter von Kreuzzügen gegen neue Technologien annimmt.

Von Saint-Exupéry gibt es in diesem Zusammenhang ein wunderbares Wort, das für uns alle gilt. Er schreibt: „Wenn du ein Schiff bauen willst, um neue Ufer zu erreichen, so trommle zuerst nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, um Werkzeuge vorzubereiten, um Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen – sondern lehre die Männer zuallererst etwas anderes: nämlich die Sehnsucht nach dem weiten offenen Meer.”

Ich wünsche allen Lehrenden und Lernenden an dieser hohen Schule diese Sehnsucht nach dem unbekannten, fernen Ufer – und die Gewissheit, dass wir – trotz stürmischer Überfahrt – letztlich das ferne, rettende Ufer erreichen können!

Nochmals herzlichen Dank für diese höchste akademische Auszeichnung und Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Dr. Dr. Herbert Batliner ist einer der Gründer des Europa Institutes, ein namhafter Rechtsanwalt, der zahlreiche Stiftungen für Institutionen gewährte, die dem europäischen Geist, der deutschen Sprache und dem Erhalt der ungarischen Kultur dienen. Dem hervorragenden Juristen und Wissenschaftsmäzen wurde von der Juristischen Fakultät der Universität Loránd Eötvös am 28. Mai 1999 die Ehrendoktorwürde verliehen. Dr. Dr. Herbert Batliner ist übrigens seit 1995 – neben zahlreichen internationalen Auszeichnungen – auch Träger des Verdienstkreuzes Ungarns.
Vorliegender Beitrag beinhaltet den Wortlaut seiner Festrede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Universität Loránd Eötvös.