Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 26:65–70.
PÉTER SIPOS
Österreichs Neutralität in der internationalen Politik 1955–1989
Im Zeitalter der Konfrontation zwischen den Supermächten setzten die internationalen Kräfteverhältnisse dem politischen Spielraum der kleinen Staaten, so auch dem Österreichs, von vorne herein enge Grenzen. Zum Schutz ihrer Sicherheit boten sich ihnen lediglich zwei Möglichkeiten: Entweder der Anschluss an einen der Machtblöcke oder der Verbleib in dauerhafter Neutralität.
Kleinstaaten und Neutralität
Die „ewige” österreichische Neutralität entwickelte sich in Zusammenhang mit dem sowjetisch-amerikanischen Konflikt und mit dem machtpolitischen Gleichgewicht in Europa. Die Existenz des freien und unabhängigen Österreichs wurde durch den Staatsvertrag von 1955 garantiert. Auf seiner Grundlage verankerte die österreichische Bundesverfassung die Neutralität des Landes. Die Beendigung der Besatzung durch die vier Großmächte konnte von Österreich ohne dauerhafte Teilung des Staatsgebiets – wie im Falle von Deutschland, Korea und Vietnam nach dem Zweiten Weltkrieg – nur so erreicht werden, dass das Land sowohl außerhalb des westlichen als auch des östlichen Machtblocks blieb. Diese Bedingung formulierte der vierte Punkt des Staatsvertrages: Er untersagte den „Anschluss” an Deutschland und schrieb die ständige Neutralität vor.
Die auf diese Weise erfolgte Festlegung der internationalen Position des Landes gewährleistete nicht nur seinen Fortbestand als souveräner und ungeteilter Staat, sondern Österreich erfüllte aufgrund seiner Neutralität auch eine bedeutende Rolle im Prozess der Entspannung, insbesondere in Ostmitteleuropa, sowie bei der Bewahrung des Friedens und des politischen Gleichgewichts.
Die Neutralität eröffnete Österreich zugleich – so die Worte von Kanzler Julius Raab von der Volkspartei – „seit 1918 zum ersten Mal die Möglichkeit einer aktiven und konstruktiven Außenpolitik”. Und der sozialdemokratische Außenminister und spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky erklärte 1964 in Budapest in seinem als Gast der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrag folgendes: „Ich selbst halte die Neutralität Österreich für einen der historischen, geographischen und wirtschaftlichen Situation angemessenen außenpolitischen Grundsatz. Je uneingeschränkter wir uns zu dieser Maxime bekennen, desto stabiler ist Österreichs Position in Europa, desto größer unsere Unabhängigkeit und desto sicherer unsere Freiheit.”
Auch die grundlegende innenpolitische Voraussetzung der Neutralität entstand nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich der feste Wille des österreichischen Volkes zur Bewahrung seiner Unabhängigkeit und sein Vertrauen in die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Landes. (Diese innere Einstellung wird auch durch die Ergebnisse der Meinungsumfragen in den 1980er Jahren unterstrichen, also nach nahezu drei Jahrzehnten der Erfahrung mit der Neutralität. Etwa 80 Prozent der Befragten bevorzugten zu diesem Zeitpunkt die Neutralität gegenüber der Zugehörigkeit zu einem Bündnissystem.
Die Popularität der Neutralität und ihre allgemeine Akzeptanz hatten ihre Wurzeln auch in der Tatsache, dass die Neutralität eine freie Entscheidung der österreichischen Gesetzgebung war und nicht aufgrund äußeren Drucks zu einem Verfassungsgesetz wurde.
Blockfreiheit und Neutralität
Ständige Neutralität bedeutet aber keinesfalls ideologische Neutralität. Österreich wie auch die anderen neutralen Staaten in Europa (Schweiz, Schweden und Finnland) identifizierten sich nämlich mit der westlichen Welt und der bürgerlichen Demokratie. Gemäß dem mehrfach zum Ausdruck gebrachten Standpunkt führender österreichischer Politiker verpflichtet die Neutralität zwar den Staat, schränkt aber keinesfalls das Recht der Bürger ein, ihre Meinung frei zu äußern. Kanzler Josef Klaus betonte nicht zufällig gerade im September 1968, am zweiten Tag der sowjetischen Intervention in der Tschechoslowakei: „Für die österreichische Regierung gab es nie einen Zweifel, dass Österreich ein freier und demokratischer Staat ist, der niemals und in keinerlei Form den Kommunismus akzeptiert hat.”
In der internationalen Politik ist es notwendig, zwischen Neutralität und Blockfreiheit zu unterscheiden. Zur Gruppe der Blockfreien gehörten zumeist die Staaten der Dritten Welt. Unter diesen sind kommunistische Länder (Kuba und Vietnam) ebenso vertreten, wie eindeutig westorientierte Staaten (Singapur und Thailand). Die neutralen Länder in Europa hingegen waren eindeutig der pluralistischen Demokratie und der Marktwirtschaft verpflichtet.
Dieser Unterschied schloss selbstverständlich die Kooperation der beiden Ländergruppen auf internationalen Foren – als N (neutral) + N (nonaligned) Block – nicht aus. Auf dem 1970 abgehaltenen Gipfeltreffen der Bewegung der „Blockfreien” in Lusaka wurde auf österreichische Initiative der Status eines „Gastes” eingeführt. Ab 1976 nahmen Österreich, Schweden, Finnland und die Schweiz regelmäßig mit Beobachterstatus an den Konferenzen der blockfreien Staaten teil.
Die aktive Neutralität
Neutralität bedeutete keineswegs Passivität oder Enthaltung in der internationalen Politik.
Die österreichische Neutralität unterschied sich deutlich vom schweizerischen und vom schwedischen Modell und ähnelte vielmehr der finnischen Variante, und zwar in zweierlei Hinsicht. Österreich schrieb der politischen Aktivität größere Bedeutung zu und setzte weniger auf ein entwickeltes Militärpotential. (Die Schweiz und Schweden verfügten demgegenüber über eine beträchtliche militärische Infrastruktur, eine entwickelte Rüstungsindustrie, autarke Waffengattungen und ein breites System der Bürgermiliz. Auch ihre geostrategische Lage war wesentlich günstiger: Schweden lag – nach einer allgemeinen Redewendung – „auf keiner Straße, die von irgendwo nach irgendwohin geführt hätte”, und die Schweiz fühlte sich im Schutz der Alpen in sicherer Entfernung von der Frontlinie eines möglichen bewaffneten Konflikts der Supermächte. Deshalb bevorzugten sie die bewaffnete Neutralität.) Finnland hatte eine gemeinsame Grenze mit der Sowjetunion, noch dazu an einer Stelle, die unter dem Aspekt der Sicherheit der beiden Länder sensibel war. Die geostrategische Situation Österreichs war im Zeitalter der Konfrontation der beiden Militärblöcke noch heikler. Österreich grenzte an zwei NATO-Staaten (Italien und West-Deutschland) und an zwei Staaten des Warschauer Vertrags (Ungarn und die Tschechoslowakei), außerdem an die neutrale Schweiz und an das blockfreie Jugoslawien und – nur der Vollständigkeit halber – an den Zwergstaat Liechtenstein. Die Donau ist seit Jahrhunderten eine der Hauptverkehrsadern in Europa. Wien, Wohnort jedes fünften Österreichers, liegt östlicher als Prag und war keine 50 Kilometer von den Truppen des Warschauer Paktes entfernt. Außerdem ist Wien nicht nur eine der anziehendsten Städte der Welt, sondern auch eine der am schwersten zu verteidigenden. All dies inspirierte die österreichische Regierung dazu, der Diplomatie den Vorrang gegenüber der präventiven militärischen Vorbereitung zu geben. Der 1985 angenommene Nationale Verteidigungsplan räumte dementsprechend der Außenpolitik und der inneren Stabilität Priorität gegenüber den Bemühungen der nationalen Verteidigung ein.
Vermittler und Friedenshüter
Die Schweiz trat damals den Vereinten Nationen nicht bei. Österreich hingegen sah gerade in der UNO eine Garantie für seine Neutralität. Im Dezember 1955 wurde es Vollmitglied der Organisation. In den folgenden Jahren entwickelte sich Wien sogar – nach New York und Genf – zu einem der „Hauptquartiere” der Weltorganisation und zudem zum Sitz mehrerer internationaler Organisationen. 1973/1974 war Österreich eines der nicht ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und der österreichische Diplomat und Politiker Kurt Waldheim übte von 1971 bis 1981 das Amt des UNO-Generalsekretärs aus.
Österreich wurde zu einem wichtigen Schauplatz der Vermittlung zwischen den beiden Supermächten. 1961 war Wien der Gastgeber des Treffens von Nikita S. Chruschtschow und John F. Kennedy und 1979 Hausherr der Besprechung von Jimmy Carter und Leonid Breschnew. In der österreichischen Hauptstadt fanden wichtige Ost-West-Beratungen statt, die zu den Abkommen SALT I (1972) und SALT II (1978) führten. Hier wurde überdies lange Jahre hindurch über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Mitteleuropa verhandelt.
Seit Anfang der 1960er Jahre nahm Österreich bei zahlreichen Gelegenheiten an Friedenseinsätzen der UNO teil. 1960 richtete es erstmals ein Feldlazarett im Kongo ein, 1964 entsandte es ein 700 bis 800 Mann starkes Bataillon und eine Polizeieinheit nach Zypern.
Österreichische Soldaten wirkten zudem bei der Überwachung des Waffenstillstands nach den arabisch-israelischen Kriegen von 1967 und 1973 mit und beteiligten sich 1974 an der Kontrolle der Separation der israelischen und syrischen Truppen auf den Golan-Höhen. Österreichische Beobachter spielten überdies 1988 bei der Überwachung der pakistanisch-afghanischen sowie der irakisch-iranischen Abkommen eine Rolle.
Bis Ende der 1980er Jahre dienten insgesamt 27.052 österreichische Offiziere und Soldaten unter der Flagge der UNO. Die Teilnahme an den Friedensmissionen erforderte von Österreich auch beträchtliche finanzielle Beiträge. Die Kosten wurden nämlich zu 70 Prozent von den Staaten getragen, die die Kontingente aufstellten, und die 30 Prozent, die die UNO übernahm, wurden erst mit mehrjähriger Verspätung ausgezahlt. 1988 überstiegen die diesbezüglichen österreichischen Ausgaben 21 Millionen Schilling (3 Millionen D-Mark).
Flüchtlingsasyl
Es ist eine beachtliche internationale humanitäre Leistung Österreichs, dass es seit der Wiederherstellung seiner Souveränität den Transit mehrere Flüchtlingswellen durch sein Land erlaubte und politisch Verfolgten kontinuierlich Asyl bot. 1956 suchten nahezu 180.000 Personen aus Ungarn Zuflucht in Österreich (siehe den Artikel von Lajos Gecsényi in diesem Band), 1968 etwa 160.000 aus der Tschechoslowakei und 1980/1981 30.000 aus Polen. Ein beträchtlicher Teil von ihnen fand – mittels des Internationalen Auswanderungskomitees – in den Vereinigten Staaten, in Kanada und Australien Aufnahme, während sich einige tausend Flüchtlinge dauerhaft in Österreich niederließen. Tausende von Flüchtlingen kamen auch aus Chile, Kurdistan und aus den Staaten Indochinas, vor allem aus Vietnam. In den 1980er Jahren wurde Österreich zum einzigen Transitland, über das etwa 260.000 Juden aus der Sowjetunion nach Israel, in die Vereinigten Staaten oder in andere Länder auswanderten.
Österreich und die Entwicklungsländer
Österreich leistete gegenüber den Staaten der Dritten Welt sowohl materielle als auch politische Unterstützung. Diesbezüglich sei nur auf einige Fakten verwiesen: Ende der 1980er Jahre überwies Österreich für ein gemeinsam mit der Weltbank finanziertes Programm eine Milliarde Schilling für Maßnahmen, die für die Entwicklung der Wasser- und Energieversorgung, des Gesundheitswesens und der Infrastruktur in den Ländern Schwarzafrikas bestimmt waren. Mehreren Ländern in Afrika sowie Nicaragua, Bangladesch und Pakistan wurde österreichische Lebensmittelhilfe zuteil.
Eine bedeutende Initiative ist mit dem Namen Bruno Kreisky verbunden. Der österreichische Kanzler legte 1976 auf der Konferenz der europäischen und latein-amerikanischen Sozialdemokraten dar, dass für die Dritte Welt ein neuer „Marshall-Plan” notwendig sei. Dieser müsse sich auf die wichtigsten Ziele konzentrieren: Errichtung von Häfen und Eisenbahnnetzen, Aufbau von Telekommunikationssystemen und Errichtung von Bewässerungssystemen usw. All diese Maßnahmen würden es möglich machen, die natürlichen Reserven der Welt zu erschließen und zu nutzen, vielen Millionen Menschen Arbeitsmöglichkeiten eröffnen und zugleich neue Märkte für die Industrie in den entwickelten Ländern schaffen.
Bei den Konflikten im afrikanischen und asiatischen Raum nahm die österreichische Regierung immer im Sinne demokratischer außenpolitischer Grundsätze Stellung. So verurteilte sie bei mehreren Gelegenheiten die Apartheid in Südafrika und befürwortete internationale Sanktionen gegen das dortige rassistische Regime, d.h. einen Handels- und Finanzboykott, ein Verbot von sportlichen und kulturellen Beziehungen zu Südafrika sowie ein Waffenembargo. Und in der Nahost-Frage forderte sie, dass bei deren Regelung die legitimen Rechte des palästinensischen Volkes beachtet werden müssten, einschließlich des Rechts auf Selbstbestimmung und der Gründung eines eigenen Staates. Gleichzeitig unterstrich sie das Existenzrecht aller Staaten der Region, so auch das Israels.
Die österreichische Regierung verurteilte darüber hinaus wiederholt die sowjetische Intervention in Afghanistan (1979) und sprach sich für den Abzug der sowjetischen Truppen und für die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des afghanischen Volkes aus.
Österreich – in Europa
Die Aufmerksamkeit der österreichischen Außenpolitik konzentrierte sich – neben ihrem globalen Interesse – natürlich in erster Linie auf Europa. In dieser Hinsicht kam zwei Fragen eine herausragende Bedeutung zu: Zum einen das Verhältnis zu den Gremien und Organisationen der Gemeinschaft sowie der Platz und die Rolle Österreichs in diesen, zum anderen die Beziehungen zu den Ländern der sowjetischen Einflusszone, insbesondere zu den unmittelbaren Nachbarn.
Österreich trat im April 1956 dem Europarat bei. Der österreichische Historiker Leo Steiner würdigte die Bedeutung dieses Schrittes so: „Die so sehr neue österreichische Neutralität wurde von einigen Staaten anfangs misstrauisch betrachtet. Der Eintritt in den Europarat und die Übernahme der Verpflichtungen aus der Charta bewies aber eindeutig, dass wir ideologisch zum Lager der pluralistisch-demokratischen Staaten gehören und keinerlei ideelle Neutralität vertreten.”
Im wirtschaftlichen Bereich war Österreich eines der Gründungsmitglieder der 1960 ins Leben gerufenen Europäischen Freihandelsorganisation. (Die EFTA-Mitgliedschaft war in vollem Maße mit der Neutralität zu vereinbaren.) Gleichzeitig unterhielt Österreich auch lebendige Beziehungen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Absicht, der EWG einzutreten, brachte das Land im Juli 1989 zum Ausdruck, zu einem Zeitpunkt also, als ein sowjetisches Veto bereits anachronistisch und wirkungslos gewesen wäre.
Das Europäische Parlament stimmte dem Beitritt Österreichs im Mai 1994 zu. Diese Absicht wurde im Juni 1994 durch ein Referendum, bei dem 66,4 Prozent der Abstimmenden mit „Ja” votierten, bekräftigt. Am 1. Januar 1995 wurde Österreich schließlich Vollmitglied der Europäischen Union.
Gegen Ende der 1980er Jahre wirkten sich – neben den Prozessen der Europäischen Integration – die grundlegenden Veränderungen, die damals im osteuropäischen Teil des sowjetischen Machtbereichs stattfanden, auf die Situation Österreichs aus. Beide Prozesse standen in einem engen Zusammenhang. Aufgrund der Beziehungen, die den früheren Kontakten und auch den historischen Traditionen entsprachen, erleichterte Österreich mit zahlreichen Initiativen die Umsetzung der Transformationsprozesse in Osteuropa, die Annäherung der osteuropäischen Staaten an die Union und schließlich auch den Beitritt dieser Länder zu den Organisationen der europäischen wirtschaftlichen und politischen Integration.