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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 9:157–161.

ALOIS RIKLIN

Der Geist der Machtteilung

Vom wahren Sinn einer Lehre Montesquieus

 

1748 veröffentlichte Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu, sein Lebenswerk «De l’esprit des lois». Fast zwanzig Jahre hatte er daran gearbeitet. Nachdem er zuvor mit den «Lettres persanes» (1721) und den «Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence» (1734) europaweite Berühmtheit erlangt hatte, stellte er mit dem neuen Werk die früheren womöglich in den Schatten. Innert zweier Jahre erschienen 22 Editionen. Aus dem Bestseller von damals wurde ein Longseller der Weltliteratur. Stärkste Beachtung fand seit je die sogenannte Gewaltenteilungslehre im England-Kapitel. Doch so grobschlächtig, wie diese Doktrin in Staatskunde- und Staatsrechtslehrbüchern kolportiert wird, war sie nicht gemeint.

Die landläufige Rezeption Montesquieus nimmt eine strikte Gewaltentrennung an mit der Zuweisung der gesetzgebenden Gewalt an das Parlament, der ausführenden an die Regierung und der rechtsprechenden an die Gerichte. Da hat sich doch tatsächlich in den 250 Jahren eine ganze Bibliothek über Montesquieus angebliche «séparation des pouvoirs» angesammelt, obwohl er selbst den Begriff nie verwendet hat. Ein einziges Mal, beim Postulat der richterlichen Unabhängigkeit, kommt das Adjektiv «séparé» vor. Was war dann aber das wirkliche Anliegen Montesquieus?

 

Gewaltenteilung

Montesquieu kombinierte in seinem Modell einer freiheitlichen politischen Ordnung drei Gewalten, drei soziale Kräfte und sieben Staatsorgane. In jedem Staat, schrieb er, gebe es die drei Gewalten der «puissance législative», der «puissance exécutrice» und der «puissance de juger». Als soziale Kräfte identifizierte er entsprechend dem englischen Vorbild das Volk, den Erbadel und den Erbmonarchen. Die sieben Staatsorgane sind das Wahlvolk, die Volkskammer des Parlaments, das Volksgericht, die Adelskammer des Parlaments, das Adelsgericht, der König und die Minister. Die drei Gewalten unterteilte Montesquieu in mehrere Kompetenzen, bündelte einzelne Kompetenzen aus zwei oder drei Gewalten und wies je ein Kompetenzenbündel den verschiedenen Organen und gesellschaftlichen Kräften zu.

Für das Zusammenspiel aller Teile lassen sich aus dem einfach scheinenden, tatsächlich aber höchst komplexen England-Kapitel die folgenden Hauptregeln des Modells ableiten.

Regel 1: Es dürfen nicht zwei und schon gar nicht alle drei Gewalten in der ausschließlichen Verfügung einer einzigen sozialen Kraft oder eines einzigen Staatsorgans sein. Obwohl das Hauptgewicht der Legislativmacht bei den sozialen Kräften Volk und Adel beziehungsweise beim Zweikammerparlament liegt, nimmt auch der König durch sein Legislativ-Veto an der Gesetzgebung teil («prend par à la législation»). Umgekehrt ist das Parlament an der Exekutivmacht beteiligt, insofern es die korrekte Ausführung der Gesetze durch die Regierung überwacht und die Minister zur Rechenschaft ziehen kann.

Regel 2: Es darf keine der drei Gewalten ausschließlich einer einzigen sozialen Kraft oder einem einzigen Staatsorgan anvertraut sein. Die Gesetzgebung ist auf alle drei sozialen Kräfte und auf drei Staatsorgane verteilt, die ausführende Gewalt ebenfalls auf alle drei sozialen Kräfte und vier Staatsorgane, die judikative Gewalt auf zwei soziale Kräfte und vier Staatsorgane.

Regel 3: Jede soziale Kraft muss an jeder der drei Gewalten angemessen beteiligt sein, sofern sie ihr unterworfen ist. Der König ist an der rechtsprechenden Gewalt nicht beteiligt; dafür ist er ihr aber auch nicht unterworfen.

Regel 4: Die Basis der Willensbildung ist nicht die Gleichheit der Individuen, sondern, ungeachtet der Zahl ihrer Mitglieder, die Gleichheit und Unabhängigkeit jeder sozialen Kraft. Der König als Einzelperson und der Adel als Minderheit können von der Mehrheit des Volkes und seiner Repräsentanten nicht überstimmt werden und umgekehrt.

Mischverfassung

Dies ist es, was Montesquieu wirklich gemeint hat. Nicht die Gewaltentrennung war sein Anliegen, sondern ein subtiles Netzwerk von Teilungen und Mischungen, Hinderungs- und Eingriffsmöglichkeiten, Veto- und Kontrollpotentialen, Gegengewichten und Gleichgewichten, checks and balances. Vorsichtig schrieb er von «une certaine distribution des pouvoirs», von «distribuer», «balancer», «arrêter», «tempérer» und «combiner les puissances». Die drei Gewalten sind in seinem Modell der gemäßigten Machtteilung teils getrennt, teils vermischt.

Das ist indessen nicht alles. Die Machtteilung ist nur der eine Aspekt des Modells. Der andere Aspekt ist die Mischverfassung. In der allgemeinsten Definition bedeutet Mischverfassung eine politische Ordnung, die unter Beteiligung verschiedener sozialer Kräfte demokratische, oligokratische und monokratische Elemente miteinander verbindet. Vom 4. Jahrhundert v. Chr. bis zum Römischen Kaiserreich und vom Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert war sie in der westlichen Zivilisation die vorherrschende Idee des besten Staates.

Hannah Arendt vermutete, Montesquieu habe von der gemischten Verfassung keine Kenntnis gehabt. Dem ist nicht so. Nur ein paar Seiten nach dem England-Kapitel beschrieb er das «gotische» Regime und die Römische Republik als Mischverfassungen. In den nachgelassenen Schriften bezeichnete er Sparta, Rom und England ausdrücklich als gemischte Regime. Richtig ist, dass Montesquieu im England-Kapitel die Mischverfassung nicht ausdrücklich erwähnte; aber durch die Verteilung der Macht auf den Erbmonarchen, den Erbadel und das Bürgertum ist sie in der Gewaltenteilung inbegriffen. Die ungeschriebene englische Verfassung verstand Montesquieu als eine Erscheinungsform jenes «gotischen» Regimes, das in den germanischen Wäldern entstanden sei. Letzteres pries er sogar als «la meilleure espèce de gouvemement que les hommes aient pu imaginer».

Exakt gegen dieses aus seiner Sicht korrupte, kranke, absurde «gotische Regime» war ein knappes Jahrhundert zuvor James Harrington in der «Oceana» (1656) angetreten. Mit bitterer Ironie verhöhnte er das angebliche «Meisterwerk neuzeitlicher Klugheit» als einen ständigen Ringkampf, in dem der jeweils Stärkere obsiege. Harrington verabscheute alle monarchischen Regime seiner Zeit und lehnte insbesondere jene aus König, Oberhaus und Unterhaus gemischte Verfassung ab, die vor und nach dem Interregnum (1649–1660) in England herrschte und die Montesquieu so sehr faszinierte. In Anlehnung an die «Nomoi» von Platon und die «Politik» von Aristoteles schwebte Harrington stattdessen eine republikanische Oligodemokratie vor.

Das abweichende Mischverfassungsideal erklärt den rätselhaften Seitenhieb des Schlossherrn von la Brède auf den englischen Landedelmann: «... il a bâti Chalcédoine, ayant le rivage de Byzance devant les yeux.» Die Auflösung des Rätsels findet sich bei Herodot. Die Chalcedone seien mit Blindheit geschlagen gewesen, als sie für den Bau der Stadt Chalcedon den schlechteren Platz auswählten, obwohl der schönere, auf dem später Byzanz entstand, noch unbesiedelt war. Beide, Harrington und Montesquieu, plädierten für eine gewaltenteilige Mischverfassung, aber der erste für eine besitzständische, der zweite für eine geburtsständische. Blind war Harrington in den Augen Montesquieus, weil er die angeblichen Stärken von Erbmonarchie und Erbaristokratie nicht sehen wollte.

 

Selektive Rezeption

Die Rezeption geht manchmal merkwürdige Wege. Thomas von Aquin schrieb: «Quidquid recipitur ad modum recipientis recipitur» (Was wahrgenommen wird, wird nach der Art des Wahrnehmenden wahrgenommen). Die selektive Lesart Montesquieus begann in Nordamerika. Die amerikanischen Verfassungsväter lösten das Gewaltenteilungskonzept aus dem Zusammenhang der Mischverfassung. Die Debatte verengte sich auf die richtige Interpretation des Gewaltenteilungsaspekts. Dabei galt das England-Kapitel geradezu als Orakel der separation of powers. Der gleiche Text wurde von den einen im Sinne einer strikten Gewaltentrennung, von den andern im Sinne einer gemäßigten Gewaltenteilung gelesen.

Eröffnet wurde der Streit bereits in der Kolonialzeit, beispielsweise in anonymen Zeitungsfehden in der «Boston Gazette» 1763 und der «Maryland Gazette» 1773. Die Declaration of Rights von Massachusetts forderte 1780 die strikte Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative. Auch Thomas Jefferson neigte zur strikten Gewaltentrennung. Der Philadelphia-Konvent einigte sich demgegenüber im Verfassungsentwurf von 1787 auf eine gemäßigte Version. Kraft des Legislativ-Vetos erhielt der Präsident einen Anteil an der Legislativmacht. Und mit dem Recht zur Wahl der Richter des Supreme Court wurde dem Präsidenten und dem Senat ein Einfluss auf die Rechtsprechung eingeräumt.

Gegen diese Gewaltenvermischung liefen einige Anti-Federalists Sturm. Centinel forderte «the complete separation», William Penn «the absolute division», und ein Countryman from Dutchess County hielt dafür, dass die drei Gewalten «entirely» getrennt sein müssten. Die Federalists sahen darin eine Missdeutung Montesquieus. Zu Recht machte James Madison geltend, Montesquieu habe nicht gemeint, dass die drei Departemente des Staates überhaupt keinen Anteil und überhaupt keine Kontrolle in Bezug auf die Entscheide der anderen Departemente haben dürften. Der wahre Sinn der Gewaltenteilungslehre Montesquieu fixiert, merkten die amerikanischen Verfassungsväter nicht, dass ihre geschriebene, republikanische und rein repräsentative Verfassung sehr viel näher bei Harrington lag.

Der falsche Montesquieu hat sich nicht nur in die Staatskunde- und Staatsrechtslehrbücher eingeschlichen. Er begegnet uns tagtäglich in der Alltagssprache. Man schlage eine x-beliebige Zeitung auf, und schon liest man von der «Exekutive», wenn die Regierung, und von der «Legislative», wenn das Parlament gemeint ist. Die Irrlehren Regierung = Exekutive, Parlament = Legislative sind anscheinend unausrottbar. Kaum glaubt man, jemanden überzeugt zu haben, verfällt er alsogleich wieder in den zur Gewohnheit gewordenen Jargon. Um Irrlehren handelt es sich, weil de facto in keiner gewaltenteiligen politischen Ordnung eine Regierung jemals die ganze Exekutivmacht und nur sie innehatte noch ein Parlament jemals die ganze Legislativmacht und nur sie versah. Die Regierung besitzt neben der ausführenden regelmäßig eine führende, staatsleitende Funktion, und sie hat bei der Gesetzesvorbereitung einen maßgeblichen Anteil an der Legislativmacht. Regelmäßig erfüllt das Parlament zusätzlich zur meist marginalen Mitwirkung bei der Gesetzgebung noch andere Aufgaben, beispielsweise die Wahl der Regierung und die Mitgestaltung der Außenpolitik; insbesondere besitzt es durch die Kontrolle der Regierung einen erheblichen Anteil an der Exekutivmacht.

An diesem Missverständnis ist Montesquieu nicht ganz unschuldig. Er vertauschte nämlich «Gewalten» und Staatsorgane ziemlich beliebig. Wortklauberische Begriffshuberei war nicht seine Sache. Seine Absicht war, «in allen bekannten Formen gemäßigter politischer Ordnungen zu untersuchen, wie es um die Verteilung der drei Gewalten bestellt ist, um daraus den Grad der Freiheit einer jeden abzuschätzen»; er wollte «einen Gegenstand nicht immer derart erschöpfen, dass dem Leser nichts mehr zu tun übrig bleibt»; es ging ihm darum, dem Leser «nicht etwas zum Lesen, sondern etwas zum Denken zu geben». Terminologische Unschärfe und aphoristischer Stil verführten seit dem 18. Jahrhundert flüchtige Leser und erst recht solche, welche von der Quelle nur aus zweiter Hand erfahren hatten, zur Verbreitung des starren Gewaltentrennungsdogmas. Die strikte Gewaltentrennung hat in der politischen Wirklichkeit nirgendwo jemals funktioniert und ist überhaupt unpraktikabel.

Viele Wege führen zum Rom der Machtteilung. Hauptsache ist, dass die Macht geteilt ist. Die konkrete Ausgestaltung ist zweitrangig. Die Machtteilung ist in der konstitutionellen Monarchie anders als in der Republik, im präsidentiellen System anders als im parlamentarischen, in der repräsentativen Demokratie anders als in der halbdirekten, in der Konkurrenzdemokratie anders als in der Konkordanzdemokratie. Neben der horizontalen Machtteilung gibt es die vertikale im Bundesstaat, die zeitliche in der personellen Rotation, die soziale zwischen den gesellschaftlichen Kräften, die kollegiale in nichthierarchischen Organen, die mehrstufige des Instanzenzuges in Rechtsprechung und Verwaltung, die wirtschaftliche und mediale in der Marktkonkurrenz, die internationale im Mächtegleichgewicht.

Bei all diesen Konkretisierungen bleibt Montesquieus Grundformel gültig: Weil der Mensch, der Macht hat, zum Machtmissbrauch neigt, wenn er nicht auf Grenzen stösst: «Il faut que, par la disposition des choses, le pouvoir arrête le pouvoir.» Der harte Kern der Machtlehre Montesquieus ist die Forderung nach Teilung und Mäßigung der Macht mit dem Zweck, Machtmissbräuche zur verhindern und eine freiheitliche politische Ordnung zu ermöglichen. Dies im Gegensatz zum tyrannischen System der Machtkonzentration und des Machtmonopols, sei es in der Hand eines Alleinherrschers oder sei es in den Händen einer Minderheit, einer Mehrheit, einer marktbeherrschenden Stellung, einer imperialen Macht oder der einzigen Weltmacht.