Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 4:25–38.
DOMOKOS KOSÁRY
Der Nationalstaat und seine Zukunft
Bereits mit seiner Themenwahl erteilt der Historiker die Antwort auf irgendeine Frage. Und diese Antwort formuliert er aufgrund seiner historischen Kenntnisse, den fachlichen Vorschriften gemäß, und mit Hilfe einer Analyse der Vergangenheit. Die Frage jedoch wird ihm von seiner, der gegenwärtigen Epoche gestellt. Im Allgemeinen ist diese Problemstellung eine solche, die sich auf diese Weise zuvor noch nicht ergab, doch erscheint eine Beantwortung für eine bessere Einschätzung der Gegenwart unvermeidlich.
In diesem Aufsatz bin ich mit einer der größten Fragen der Gegenwart, ja sogar der Zukunft konfrontiert, die da lautet: hat der Nationalstaat eine Zukunft? Selbstverständlich könnte ich daraufhin entgegnen, dass es sich bei der Zukunft vorläufig noch nicht um eine historische Kategorie handele und dass man die Historiker eher als Propheten der Vergangenheit anzusehen pflege, die gern nachträglich voraus zu kündigen wünschen, was bereits einmal abgelaufen war. Wenn ich trotzdem eine Antwort auf diese Frage zu erteilen versuche, kann ich zu meiner Rechtfertigung nur so viel erwähnen, dass sich bereits eine äußerst umfangreiche Literatur mit der geschichtlichen Entwicklung von Nationalstaaten befasst, wobei oftmals auch auf Aspekte der Perspektiven eingegangen wird, die im allgemeinen in Abhängigkeit davon eingeschätzt werden, worin man die Voraussetzungen ihres Zustandekommens erblickte.
Ein ungarischer Historiker, Gyula Pauler, gab im Jahre 1900 seinem übrigens äußerst soliden Buch den Titel „Die Geschichte der ungarischen Nation bis zu Stephan dem Heiligen”, d.h. bis zu Beginn des 11. Jahrhunderts.1 Er erachtete also die Nation als etwas von Anfang an Existierendes, Zeitloses. Heute aber wissen wir alle bereits, dass die Nation, der Nationalstaat, der Nationalismus, allesamt historische Erscheinungen sind, die auf eine verhältnismäßig nicht allzu ferne Vergangenheit zurückblicken. Ein anderer, ebenfalls hervorragender ungarischer Historiker, Jenő Szűcs, wies in einer ausführlichen Analyse2 nach, dass die Loyalität der Menschen im Europa des Mittelalters in erster Linie an lokale Gemeinschaften, Religionen, die für Feudalgesellschaften charakteristischen persönlichen Beziehungen gebunden war. Das heißt, sie waren sich der Zugehörigkeit zu ethnisch-sprachlichen Nationalitäten in weiterem Sinne kaum bewusst, obwohl es deutliche Anzeichen auch einer Loyalität dieser Art gab. Zunächst bezeichnete man die Bewohner einiger Provinzen Frankreichs als natio. Ab dem 13. Jahrhundert tauchen mit dem Adel, mit der Struktur einer ständischen Gesellschaft die Begriffe communis patria sowie horizontal dazu in umfassenderem Sinne natio auf. Dies bedeutete aber allein eine geringfügige, vertikal obere Schicht der Gesellschaft, den privilegierten Adel.
In Ostmitteleuropa – so auch in Ungarn und Polen – konnte sich diese Adelsnation, der die Mehrheit der Gesellschaft, das Bauerntum nicht angehörte, und die oftmals einen äußerst ausgeprägten ständischen Nationalismus zu vertreten vermochte, bedeutend länger erhalten als im Westen. Über die Vorgeschichte von Nationen und Nationalismen in Europa sind seither in mehreren Ländern nützliche Forschungen angestellt worden.3
Im Prozesse der Herausbildung moderner Nationen war der dramatischste Augenblick jener, als Ende des 18. Jahrhunderts die Französische Revolution herrschaftlichen Absolutismus und feudale Privilegien hinwegfegte. Die Vertreter des Tiers Etat haben die Führung des französischen Staates und der Gesellschaft im Namen der gesamten Nation an sich genommen, wie auch die Leitung jenes Staates, den absolutistische Herrscher bereits seit dem 16. Jahrhundert in eine zentral verwaltete, einheitliche Organisation zu verwandeln wünschten, wobei aber zahllose Funktionen noch von korporativen Körperschaften versehen wurden. Daran hatte sich nun etwas geändert.
Der Nationalstaat war geboren. Innerhalb seiner Grenzen lebte – zumindest theoretisch – eine einzige Nation: die französische. Es gab nur eine einzige offizielle Sprache: die französische. Selbstverständlich wissen wir, dass in Wahrheit auch im einstigen Frankreich nicht alles ganz dieser Anforderung entsprach.
Grundsätzlich aber war dies doch hauptsächliches Vorbild aller weiteren Nationalstaaten. Daran ändert auch jene Tatsache nichts, dass die Typologie der Nationalismen sowohl zeitlich als auch räumlich verschiedene Varianten zu unterscheiden vermag.
Offensichtlich ist nämlich, dass eine jede Nation einen solchen Nationsbegriff kreiert hat, der in der gegebenen spezifischen Situation geeignet war, zum Ziel zu führen.
Laut der Franzosen haben die innerhalb der Landesgrenzen Lebenden die Nation gebildet. Deutsche und italienische Einheitsbestrebungen hingegen haben der politischen Zersplitterung wegen eine gemeinsame Sprache und Abstammung betont. Plamentatz differenziert die deutschen und italienischen Varianten – die sog. Risorgimento-artigen Nationalismen gemäß einem Ausdruck von Hall4 – von jenen der ostmitteleuropäischen Nationen, die seiner Meinung nach größtenteils so „erfunden” werden mußten.5 Doch auch diese Typologie kann noch mehr verfeinert werden.
Die Nationalismen Ostmitteleuropas waren ebenfalls im Grunde darum bemüht, dem Vorbild des bürgerlichen Nationalstaates zu folgen, nur mangelte es in diesem Falle an zahlreichen Voraussetzungen. Zunächst einmal verfügten die sich herausbildenden Nationen nicht über eigene, unabhängige, einheitliche Staaten. Derzeit nämlich, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, existierten selbst jene Länder im Rahmen großer multinationaler Reiche, die einst im Mittelalter über eine eigene Souveränität verfügten. Wie bekannt, waren Böhmen und Ungarn ins Habsburger Reich eingegliedert. Dann deckten sich politische Grenzen noch seltener mit den ethnischen. Verschiedenste ethnische Gruppen Zugehörende lebten vielerorts gemischt, ineinander übergehend, und oftmals in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten.
Das alte, historische Ungarn war bereits im Mittelalter ein multinationales Aufnahmeland, wobei die Ungarn doch die Mehrheit darstellten. Noch prägnanter gestaltete sich Ungarn zu einem wahren kleinen Europa infolge der kriegerischen Verheerungen des 16./17. Jahrhunderts sowie der erneuten Ansiedlungen im 18. Jahrhundert. Letztendlich aber war ausgerechnet das Bürgertum in diesen Ländern aufgrund der ökonomischen und gesellschaftlichen Zurückgebliebenheit sehr schwach. Hier verschmolzen die Bestrebungen nach nationalem Fortschritt, bürgerlicher Modernisierung und dem Anschluss aneinander.
Trotz dieser Schwierigkeiten nahm der Prozess der Herausbildung von Nationen auch in dieser Region seinen Lauf.6 Und zwar in zwei Phasen. Die erste wies kulturellen Charakter auf. In diesem Falle hat man mit der Pflege nationaler Sprache und Literatur, der Darstellung realer oder fiktiver verheißungsvoller Elemente der Vergangenheit – bei welcher der Intelligenz eine bedeutende Rolle zukam – ein nationales Selbstbewusstsein neuen Typs entwickelt. Es handelte sich hierbei um eine neue Erscheinung und nicht um die Neubelebung etwas bereits Dagewesenen. In der zweiten, der politischen Phase dann waren die nationalen Bewegungen darum bestrebt, die Anerkennung ihrer Nation als eigene, selbständige politische Einheit kollektiv zu erreichen und auf dem für sich beanspruchten Territorium die eigene Vorherrschaft geltend zu machen.
Diese beiden Phasen haben alle sich bildenden Nationen durchgemacht. Da ihnen jedoch in der jeweiligen gesellschaftlich-politischen Struktur nicht dieselbe Position zukam, hat auch ihre Entwicklung verschiedenste Varianten hervorgebracht.
Die eine Form verkörperten die über einen eigenen Adel, eine umfassende feudale Struktur und ständische Vergangenheit verfügenden Nationen, wie z.B. die Ungarn, Kroaten und im Norden die Polen. Jene beriefen sich zumeist auf historische Rechte. Die Ungarn verfügten sogar über ein eigenes, autonomes politisches Organ: der Landtag (dietas). Nach und nach aber entfalteten sich auch all die eine nur unvollständige feudale Struktur aufweisenden, über keinerlei ständische Organe verfügenden nationalen Bewegungen, die ihre Zielsetzungen immer entschiedener vertraten.
Aus dieser Situation ergab sich praktisch unvermeidlich, dass es zu Spannungen und Konflikten zwischen der multinationalen Habsburgermacht und nationalen Bewegungen und vor allem mit den Ungarn kam, bzw. andererseits auch im multinationalen Ungarn zwischen den die führende Position innehabenden Ungarn sowie anderen Nationalitäten. Obwohl man stetig um eine Entschärfung dieser Spannungen bemüht war, haben jene doch das gesamte 19. Jahrhundert geprägt. Das Schicksal der Habsburgermonarchie und des historischen Ungarns aber besiegelte letztendlich die im ersten Weltkrieg erlittene Niederlage der Zentralmächte.
Den Prozess an sich also können wir beschreiben. Inwiefern aber sind uns die Triebkräfte dessen vertraut? Die beste Analyse des Problems lieferte uns Ernest Gellner in einem hervorragenden Buch, das dank seines kritischen Geistes die zu Recht internationale Resonanz hervorrief.7 Gellner sieht die nationale Entwicklung als ein Produkt der modernen Epoche, d.h. als eine historische Erscheinung an. Er verurteilt entschieden die gefährlichen Exzesse gegenwärtiger Nationalismen, ihre Machtansprüche. Gleichzeitig aber weist er auch darauf hin, dass es ein unverzeihlicher Fehler wäre, aus diesem Grunde die nationale Entwicklung als eine Art Aberration anzusehen. Seiner Ansicht nach nämlich entspricht die nationale Entfaltung einem historischen Bedürfnis, und zwar als Begleiterscheinung der Industriegesellschaft. Jene war es nämlich, die in einem zuvor stark zersplitterten Land die gemeinsame Sprache und Kultur nötig hatte.
Die Argumentation ist überzeugend. Es stimmt aber auch, dass einige Kritiker Gellner beschuldigten, außer Acht gelassen zu haben, dass der Nationalismus vielerorts – u.a. in England und Frankreich – der Herausbildung der industriellen Gesellschaft vorausging.8 Diese Kritik ergab sich deshalb, weil der Begriff so zu allgemein ist. Aufgrund welcher Kriterien können wir exakt ermessen, von genau welchem Punkt an eine Gesellschaft als industrielle bezeichnet werden kann? Es gibt aber auch weitere Probleme: hat wohl diese industrielle Entwicklung die ihr gefällige Vereinheitlichung geschaffen, oder haben letztendlich ebenso andere Faktoren dazu beigetragen, das Zustandekommen der Industriegesellschaft zu unterstützen? Neueste Forschungen sind eindeutig zu jener Auffassung gekommen, dass im Europa des 18. Jahrhunderts in jeder Hinsicht ein gradueller Aufstieg zu verzeichnen war, eine Hebung des Niveaus, und damit im Zusammenhang stiegen die kommunikativen Möglichkeiten der Gesellschaft.9 Es ist also wahrscheinlich, dass wir uns mit der Wechselwirkung mehrerer Faktoren befassen müssen. Eines ist auf alle Fälle gewiss – innerhalb des europäischen Staatengebildes, das eine Vielfalt von Regionen auf verschiedenen Ebenen vereinte, hat das Vorbild, die Herausforderung der entwickelten Länder des Westens einen großen Einfluss auch auf jene Zonen ausgeübt, in denen ökonomische sowie anderweitige Voraussetzungen nicht dasselbe Niveau erreichten. Es gab sogar einen Forscher, der den in den Vordergrund tretenden nationalen Gedanken auf soziologische Faktoren, auf die Erscheinung neuartiger Eliteschichten in bedeutendem Umfange zurückführte.10
Im Verlaufe der vergangenen Jahre haben viele behauptet, dass der Nationalstaat überholt sei, seine Tage gezählt wären. Laut Hobsbawm ist das deshalb zu erwarten, weil infolge einer Globalisierung der Wirtschaft Nationalstaaten ihrer früheren ökonomischen Rolle verlustig gehen.11 David Harvey ist der Ansicht, dass die transnationalen Beziehungen seit 1945 nationale Grenzen und Souveränitäten überwunden haben – sowohl auf dem Gebiet des globalen Kapitalismus als auch der postmodernen Kultur. Dem Finanzkapital kommt in diesem neuen Globalsystem eine bedeutendere koordinierende Rolle zu, als den Nationalstaaten.12 Das alles stimmt zwar in gewissem Sinne, doch war das Finanzkapital auch zuvor nicht in nationalstaatliche Rahmen gezwängt, und der transnationale Kapitalismus ist ebenfalls nicht gerade eine neue Folge der postmodernen Ära. Wir gewinnen den Eindruck, dass sich die Globalisierung der Wirtschaft zwar selbstverständlich auf die Rolle der Nationalstaaten auswirkt, diese Einwirkung jedoch nicht unmittelbar, nicht ausschließlich einseitig und nicht einmal in schnellem Rhythmus zur Geltung kommen wird.
Im Großen und Ganzen ist dies die praktisch einhellige Meinung auch jener sich aus Fachleuten zusammensetzenden Autorengarde, die sich unlängst in einer Sonderausgabe der Zeitschrift „Daedalus” der American Academy of Arts and Sciences mit diesem Problem befasste.13
Eine gewisse Verringerung der Bedeutung und Souveränität der Nationalstaaten, die in erster Linie in Westeuropa konstatiert werden kann – und nicht überall auf dem Erdball –, erfolgte nicht vor allem sowie nicht unmittelbar der ökonomischen Globalisierung wegen, sondern stand vor allem mit der europäischen Integration und mit dem Wandel der Positionen Europas im Zusammenhang. Der Kapitalismus – wie wir wissen – wurde in Europa geboren. Ebenso der bürgerliche Nationalstaat. Und letzterer steht nun in Europa erstmals vor einer historischen Entscheidung. Die eine, vorteilhaftere Alternative ist, sich der Integration zu fügen, sich selbst zu erneuern, auf einen Teil seiner Souveränität freiwillig zu verzichten, sich des ausschließlichen Herrschaftsanspruches zu entsagen, denn auf diese Weise kann der Nationalstaat positive Werte mit permanentem Charakter beibehalten bzw. weiter ausbauen. Die andere Alternative: mit der Neugeburt überholter Traditionen werden ausschließliche nationalistische Machtansprüche beibehalten und man setzt damit seine Umgebung massiven Gefahren aus – sowie damit letztendlich sich selbst. Hugh Seton-Watson, einstiger Osteuropa-Experte der Universität London hat zu Recht betont, dass eine Rejektion des Nationalerbes die politische Dekadenz zur Folge haben würde, denn es wären reiche Quellen der menschlichen Kultur zunichte gemacht.14 Aber auch er hob hervor, was wir seither ständig mehr und immer eindrücklicher betonen: wie gefährlich doch für uns alle die aggressiven Bestrebungen des Nationalismus sind, die neuerdings hauptsächlich im östlichen Teil Europas auftreten. Die Zukunft des Nationalstaates also – um auf die ursprüngliche Fragestellung zurückzukommen – wird vom Ergebnis dieser Entscheidung abhängig sein. Die Wahl ist zu treffen zwischen einer zeitgemäßen Erneuerung, Europäisierung des Nationalstaates oder einer Wiederbelebung aggressiver Nationalismen, Spannung, Instabilität sowie der damit einhergehenden ökonomischen Stagnation.15
Die Europäische Gemeinschaft war eigentlich geboren, nachdem zwei bedeutende historische Nationen – die deutsche und die französische – im Anschluss an die im Laufe von zwei furchtbaren Weltkriegen erlittenen Schicksalsprüfungen zu der Einsicht gelangten, dass es besser wäre, sich gemeinsam der vom Osten her drohenden Gefahr zu stellen, der Sowjetunion zu trotzen, da die östliche Hälfte Europas bereits verloren war. Der Gegner war ein mächtiger und das Schicksal der von ihm unterjochten Nationen Ost-Mitteleuropas ein bitteres. Bis zu einem gewissen Grade jedoch war dieser Feind für den Westen auch von Nutzen. Nicht allein, weil der Druck von außen den Zusammenhalt des Westens, die Entstehung des Gemeinsamen Marktes sowie Bereicherung förderte, sondern schon allein deshalb, weil er die Sorgen des ärmlichen, östlichen Teiles Europas auf sich nahm. Es ist nicht unsere Aufgabe, hier auf den Integrationsprozess des Westens einzugehen, dank dessen es zu einer Standardisierung der Wirtschafts- und Rechtseinrichtungen zugehöriger Staaten kam, die ihre gemeinsamen Organe bildeten, einige Elemente ihrer freiwillig aufgegebenen Souveränität einbrachten. Und im Verlaufe dieses Prozesses sind ihre eigenen Funktionen nicht wirklich entschwunden. Wesentlich war, dass die europäische Integration erfolgreich voranschritt, was die zurückgebliebenen Verwandten im Osten mit Nostalgie aus der Ferne konstatierten. Übergangs der 80-er/90-er Jahre dann war eine gewisse Stagnation zu verzeichnen, und zwar aus zweierlei Gründen. Zum einen griffen derzeit politische Regelungen bedeutender in die nationale Souveränität ein.16
Zum anderen – und das war der Hauptgrund – verschwand unerwartet mit dem rapiden Zerfall der Sowjetunion der gemeinsame Feind. Präziser formuliert: die Gefahr in ihrer bisherigen Form existierte nicht mehr. Trotz allem hoffen wir sehr, dass der Integrationsprozess seinen Fortlauf nimmt.
Ein neues Problem tauchte jedoch deshalb auf, weil auch die Nationen der ost-mitteleuropäischen Region von der sich zurückziehenden Fremdherrschaft befreit wurden, die wiederum eine katastrophale Wirtschaft hinterließ. Hier ging es nämlich nicht einfach darum, demokratische politische Institutionen zu reorganisieren – wie z.B. in Spanien nach dem Systemwechsel – sondern auch die ökonomische Sphäre war betroffen, die von der Sowjetmacht ruiniert wurde. Hinzu kam, dass die Gesellschaften – wenn auch nicht überall gleichermaßen – infolge der historischen Schockwirkung sowie Unterdrückung dazu neigten, nicht rationell sondern emotionell an die Probleme heranzugehen, mit diesen Gemütsbewegungen den alten oder neuen populistischen Nationalismus bzw. Populismus stärkend. Umso mehr, da die verbleibenden Kräfte des alten Regimes, die auch früher schon mit Vorliebe mit gewissen nationalistischen Motiven manipulierten, diese jetzt gern hervorholten. Die Europäische Gemeinschaft andererseits war offensichtlich nicht darauf vorbereitet, die Probleme dieser Region wirksam anzugehen. Ein eindeutiger Beweis hierfür ist die sich auf dem Territorium des einstigen Jugoslawiens abspielende blutige Tragödie.
Ein Mangel an entsprechenden Reaktionen gibt all jenen Rückhalt, wie auch ein Beispiel in anderen Ländern, die mittels Gewalt und aggressiver Methoden vollendete Tatsachen zu schaffen wünschen. Die Europäische Gemeinschaft aber war zwar ökonomisch gesehen ein Riese, politisch jedoch noch ein Kind und in militärischer Hinsicht – leider – nur ein Embryo.
Der südslawische Konflikt und ebenso die glücklicherweise friedliche Trennung von Tschechen und Slowaken hat nämlich bei vielen westlichen Beobachtern den Eindruck erweckt, dass im Osten ein der europäischen Integration entgegengesetzter Desintegrationsprozess einsetzte, dessen nicht vorauszusehende Folgen die Ausweitung der Europäischen Gemeinschaft, die Einbeziehung der östlichen Nachbarn gefährden würden. Mit anderen Worten: die beiden Teile Europas streben in verschiedene Richtungen.
Als Historiker möchte ich diese Ansicht ein wenig korrigieren. Der ungarische Staatsmann Ferenc Deák hatte vor dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn im Jahre 1867 gesagt, dass eine falsch geknöpfte Weste zunächst vollkommen zu öffnen sei, bevor sie dann erneut – und nun bereits richtig – zugeknöpft werden könne. Meiner Meinung nach gilt dieses Prinzip gegenwärtig auch für Ost-Mitteleuropa. Sowohl im Falle Jugoslawiens als auch der Tschechoslowakei handelte es sich um solche künstliche Staatsgebilde, Scheinföderationen, die nach dem ersten Weltkrieg anstelle der multinationalen Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn geschaffen wurden, sich sozusagen als Nationalstaaten auf das Nationalprinzip berufend. In Wahrheit aber waren jene niemals Nationalstaaten, und obwohl sie zeitweise deren Fehler aufweisen konnten, haben sie praktisch Multinationalität, hierarchischen Charakter und die Probleme der einstigen Monarchie geerbt.
Eigentlich konnte kein einziger neuer Kleinstaat als ein im wahrsten Sinne des Wortes nationaler Staat angesehen werden. Auch Rumänien nicht, mit seinen bedeutenden ungarischen und deutschen siebenbürgisch-sächsischen Minderheiten. Selbst das neue, kleinere Ungarn nicht. Nicht allein, weil trotzdem – wenn auch nicht in großem Ausmaße – Nationalitäten erhalten blieben, d.h. vor allem die Deutschen, die Donauschwaben, sondern weil nahezu ein Drittel der eigenen Nation sich nun außerhalb der Landesgrenzen befand. Dieses wirtschaftlich und politisch geteilte Ost-Mitteleuropa mit seinen schwachen Staaten sowie internen Widersprüchen wurde so zur Zeit des zweiten Weltkrieges leichte Beute der gierigen Diktatoren in der Nachbarschaft. Und jene Ereignisse, die sich gegenwärtig in den einzelnen Ländern unserer Region abspielten bzw. abspielen, sind praktisch historisch kritische Reaktionen der Geschichte auf derart verpfuschte Konstruktionen, die früher oder später nach einer Korrektur oder nach Änderungen verlangen. Dies gilt unter anderem für die bedeutendste solcher Scheinföderationen, die Sowjetunion, nach deren Zerfall eine ganze Reihe potentieller, zuvor bereits existierender Konflikte an die Oberfläche drangen. Hinzuzufügen wäre jedoch, dass der Misserfolg der Sowjetunion nicht nur eine Dezentralisierung zur Folge hatte, sondern im Falle Deutschlands eine solche nationale Wiedervereinigung, die vom Gesichtspunkt der Zukunft Europas her von ungeheuer großer Bedeutung ist.
In Ost-Mitteleuropa wurde eigentlich jener Prozess fortgesetzt, der nach dem Ende des ersten Weltkrieges mit der Auflösung der multinationalen Österreichisch-Ungarischen Monarchie seinen Anfang nahm. In diesem Falle war ebenfalls ein erneutes Knöpfen der Weste erforderlich, damit sie richtig sitzen würde. Es ist nämlich völlig unwahrscheinlich, dass sich jene neuen Kleinstaaten wie die Slowakei, Slowenien oder Kroatien – deren Gründung selbstverständlich als historisches Ereignis zu begrüßen ist – von der Europäischen Gemeinschaft, von den Integrationsprozessen zu isolieren wünschen. Es gibt bereits viele sichere Anzeichen dafür, dass diese Staaten, ähnlich wie ihre Nachbarn, den Anschluss an die Europäische Gemeinschaft suchen; denn Sicherheit, nationaler Aufschwung, kultureller und ökonomischer Fortschritt sind praktisch nur innerhalb dieser größeren, umfassenden Rahmen zu erzielen. Und dies ist eines der Hauptziele der politischen Führung sämtlicher Länder dieser Region. Der Ausschluss aus der europäischen Integration, die Marginalisierung kann sowohl ökonomisch wie auch politisch als ein lebensgefährliches Unterfangen bezeichnet werden.
Nicht die Geburt neuer Kleinstaaten beschwört die Gefahr von Konflikten herauf, und abwehren kann man diese Konflikte nicht, indem man an Lösungen festhält, die sich als falsch erwiesen. Eine andere, tatsächlich drohende Erscheinung birgt die Gefahr, die sich bis zu einem gewissen Grade parallel zu diesem Prozess bemerkbar macht, von jenem aber trotzdem zu unterscheiden ist. Wir sprechen hier von dem gewalttätigen, populistischen, mit Fremdenhass gespickten Nationalismus, der sich in der Region der einstigen Sowjetmacht vielerorts zeigt und der im grundsätzlichen Widerspruch zum europäischen Gedanken sowie zu den wahren nationalen Interessen steht. Europäische und wirklich nationale Interessen stehen nämlich keinesfalls im Gegensatz zueinander. Ganz anders verhält es sich aber mit der heutigen extremen Weiterentwicklung nachteiliger Züge der nationalstaatlichen Konzeption des 19. Jahrhunderts, die beiden Interessen entgegenwirkt, die mit allen Mitteln innerhalb der Landes- grenzen eines gegebenen Staates die ausschließliche Alleinherrschaft einer dominanten Nation geltend zu machen wünscht, und zwar nicht allein mit Einschränkungen und Unterdrückung auf sprachlichem, kulturellem Gebiet, sondern manchmal sogar mittels der sogenannten „ethnischen Säuberung” mit ihren brutalen Methoden. Und das in einer Region Europas, in der politische und ethnische Grenzen außerordentlich selten übereinstimmen.
Dieser Ultranationalismus klammert sich nach außen an die absolute Souveränität und weist jede internationale Regelung zurück, um nach innen gerichtet dagegen allen, auch anderen Nationalitäten, den eigenen Willen, die eigene Sprache aufzuzwingen. Den betreffenden Staat sieht er als seinen eigenen alleinigen Besitz an, die dort lebenden bzw. zugeteilten nationalen Minderheiten als eine Art Störfaktor, eventuell als brauchbaren „Rohstoff”. Oder man ist darum bemüht, jene loszuwerden. Als ob es sich um eine Art privater Menagerie handeln würde, in welcher der Besitzer nach Belieben mit den Tieren umspringt oder auch darum bemüht ist, die nutzlosen alten Tiere loszuwerden. Dieses nationalistische Prinzip der Identifizierung von Nation und Staat ist für das künftige Europa völlig unannehmbar. Diese gefährliche Konzeption des Nationalstaates muss geändert werden, sie ist zu ersetzen durch eine andere, neue, humanitäre und europäische Konzeption – in der Praxis und überall, wo das noch nicht geschehen ist. Bzw. wo politische und ethnische Grenzen in dem Maße voneinander abweichen, wie im Großteil Ost-Mitteleuropas. Ich möchte hier betonen, dass ich jetzt in erster Linie von jener Region spreche und von solchen Fällen, in denen eine Verschiebung der Grenzen und nicht eine Fortbewegung der Menschen erfolgte. Die Immigration in diesem oder im westlichen Teil Europas, in der Gegenwart oder Zukunft, ist ein anderes Problem, das eine spezifische Analyse erfordert. Wir sprechen von einer Änderung, einer Europäisierung, einer Humanisierung der nationalen Konzeption, nicht jedoch von einer Annullierung. Denn Europa wird selbst vereint nicht einen einzigen Staat bilden, mit einer einzigen Nation darin. Die Europäische Gemeinschaft besteht auch heute aus zahlreichen Nationen und Staaten. Wenn der Integrationsprozess erfolgreich fortgesetzt wird, neue Regionen mit einbezogen werden, dann erhöht sich damit die Vielfalt. Mit der freiwilligen Beteiligung können die Nationen alle innerhalb der umfassenden gemeinsamen Rahmen ihre Identität bewahren. Und gekennzeichnet wird dieses Gebilde durch eine Vielfalt von Traditionen und, sich daraus ergebend, durch das gegenseitige Kennenlernen und Achten der anderen. Zwar bleiben die Staaten der Nationalitäten erhalten, doch mit verminderter Souveränität, veränderter Funktion und in einer solchen europäisierten Form, die sich von der vorangehenden, unterdrückenden, die Alleinherrschaft beanspruchenden Variante deutlich unterscheidet. Von jener Form also, die vielerorts in Ost-Mitteleuropa existiert und bis in unsere Tage Quelle menschlichen Leides sowie zahlreicher Konflikte ist. Ich gestehe offen, dass wir Ungarn in dieser Beziehung besonders empfindlich sind, da im Anschluss an die Weltkriege infolge der derzeitigen Regelungen zahllose Ungarn zu Bewohnern der Nachbarstaaten wurden. Vielleicht aber motiviert uns gerade das, ernsthafte Anstrengungen im Interesse international annehmbarer, reeller Lösungen zu unternehmen. Es geht hierbei nämlich nicht simpel und in erster Linie um lokale Probleme der Beziehungen einer Nation zu ihren Nachbarn. Es handelt sich um ein solches internationales Problem, dem auch vom Gesichtspunkt der Fortsetzung der europäischen Integration her große Bedeutung zukommt. Die veraltete nationalstaatliche Konzeption – nämlich gemäß der nach dem Prinzip cuius regio, eius natio Staat und Nation selbst dort als eine Einheit angesehen wird, wo politische sowie national-ethnische Grenzen absolut nicht übereinstimmen – ist also hinsichtlich der Zukunft Europas, wie klar wird, eine gefährliche und unannehmbare. Erforderlich ist deshalb Ausarbeitung und Anerkennung eines solchen internationalen Normensystems, in dem klargestellt wird, welchen Anforderungen jene Staaten auf diesem Gebiet Genüge zu leisten haben, die sich der Europäischen Gemeinschaft anzuschließen wünschen. Wir denken hierbei selbstverständlich nicht an irgendeine Änderung der politischen Grenzen, sondern daran, dass den nationalen, ethnischen Minderheiten ein zweckentsprechender gesetzlicher Schutz sowie kollektive Rechte zu gewähren sind.
Eine Umgestaltung der gegenwärtigen Nationalstaaten nämlich wäre auf verschiedenen Ebenen erforderlich. Zunächst einmal auf höchster Ebene, nach außen, auf eine Art und Weise, dass eine freiwillige Einschränkung der Souveränität den Integrationsansprüchen Genüge leistet. Eine Veränderung hat aber ebenso intern im Lande zu erfolgen, auf niedrigerer Ebene, den Minderheiten das verbriefte Recht gewährend, sich ihrer eigenen Kultur und Sprache und deren Weiterentwicklung, dem Aufbau eigener Institutionen widmen zu können, ungehindert den Kontakt zur Außenwelt bzw. zu den außerhalb der Landesgrenzen lebenden Verwandten aufnehmen zu können. Ebenso ungehindert müssen sie sich in das freie Strömen von Gedanken, Informationen oder Veröffentlichungen einschalten können. Eine derartige Lösung gefährdet in keinem einzigen Staat dessen Sicherheit oder internen Frieden, ganz im Gegenteil: mehr als Angst oder Unterdrückungsmaßnahmen ist diese Lösung Garant für ein besseres nachbarschaftliches Verhältnis. Es handelt sich hierbei im Grunde genommen um simple Menschenrechte.
Es ist bekannt, dass die Menschenrechte im Allgemeinen ausschließlich als Rechte von Individuen angesehen werden. In gewissen Fällen jedoch können diese individuellen Rechte – wenn es um Gemeinschaften geht, wie z.B. auch die nationalen Minderheiten – nur dann tatsächlich angewandt werden, sind nur dann wirksam, wenn sie durch Kollektivrechte erhärtet werden. In dieser Region Europas zum Beispiel gibt es wohl kaum eine Person, die in der Lage wäre, eine Universität zu gründen, auf die wiederum eine tatsächlich bedeutende Minderheit offensichtlich zu recht Anspruch erheben könnte. Damit gelangen wir zum Problem des Minderheitenschutzes, einer internationalen Rechtsfrage, die eine internationale juristische Regelung erfordert. Selbstverständlich können wir nicht auf technische Details eingehen, das ist nicht unsere Aufgabe. Ich möchte nur einige, eher historische Momente erwähnen.
Als im Mittelalter einzelne Gemeinschaften Privilegien zugesprochen bekamen, wie zum Beispiel die Sachsen Siebenbürgens im Jahre 1224, wurde damit ein massiver Schutz gewährt, was aber nicht den bewussten Schutz einer nationalen Minderheit zum Ausdruck brachte, da wir uns ja noch in der Zeit vor der Konstituierung der Nationen befinden.
Von einem bewussten Minderheitenschutz kann ab dem 17. Jahrhundert die Rede sein, in erster Linie jedoch in konfessioneller Hinsicht. Ich könnte aus der Arbeit Pufendorfs von 1672 zu den Rechten der Nationen zitieren, ebenso Werke von John Locke, die Friedenskonferenz von Paris im Jahre 1856 oder den Berliner Kongress 1878. Trotzdem möchte ich mich vor allem auf das nach dem ersten Weltkrieg gestaltete System des Minderheitenschutzes berufen, das sich mit der Festlegung der neuen Grenzen in dieser Region gleichsam von 1919–1924 herausbildete. Eines der Vorteile war, dass man die Rechte der Minderheiten nicht allgemeingültig zu formulieren versuchte, z.B. für Afrika, Südamerika und die Ukraine gleichermaßen zutreffend, sondern man beschränkte sich auf eine Region. Dieses System ging beinahe ausschließlich auf die Völker Ost-Mitteleuropas ein. Die Erzwinger des Friedenspaktes nämlich, die die neuen Grenzen zogen, waren sich derzeit noch im Klaren darüber, welche Probleme sich daraus ergeben würden, so dass man 17 Staaten den Minderheitenschutz vorschrieb. Obwohl dieser Minderheitenschutz weder vollkommen noch tatsächlich wirksam war, hätte man ihn doch weiterentwickeln können.
Der große Wandel erfolgte im Anschluss an den zweiten Weltkrieg, denn anstelle eines noch wirksameren Minderheitenschutzes trat die Beseitigung des kaum vorhandenen ein.
Im neuen Herrschaftssystem, dem Stalin bereits seinen Stempel aufdrückte, konnten ungehindert solche ausgesprochen despotische Methoden zur Entfaltung kommen, die – je ein Volk kollektiv als Schuldigen verurteilend, als verantwortlich für den Krieg deklarierend – zu moralischen und rechtlichen Absurditäten führten, gleichzeitig den Ausgangspunkt unzähliger Tragödien bildend. Aufgrund des Prinzips der kollektiven Verantwortung hat man ganze Menschengruppen vertrieben, umgesiedelt, aus ihrer Heimat ausgesiedelt, zum Verlassen ihrer Heime gezwungen – also ob je eine Nation global für etwas verantwortlich wäre, als würden andere Nationen weniger zuständig sein. All das stand selbstverständlich im Einklang mit den sowjetischen Methoden und mit jenem Bestreben der Sowjetunion, ihre Machtsphäre in Richtung Westen auszudehnen.
Eine zu erwähnende Ausnahme war Rumänien, wo in den ersten Jahren nach 1945 die Hoffnung bestand, dass der ungarischen Minderheit entsprechende Rechte zustehen würden. Dieser kurzen, berechtigte Hoffnungen weckenden Zeit jedoch folgten schon sehr bald schwere Enttäuschungen.
Der Pariser Friedensvertrag 1946/47 betrachtete die Minderheitenfrage als interne Angelegenheit der Staaten, so dass jene damit der jeweiligen Staatsmacht ausgeliefert waren. Die Organisation der Vereinten Nationen wich der Angelegenheit behutsam aus und befasste sich nur nebensächlich mit diesen Problemen. Man versuchte zwar, eine sich mit ethnischen, sprachlichen und konfessionellen Minderheiten befassende Kommission zu bilden, doch wurde die Konstituierung von der ersten Londoner Sitzungsperiode der UNO mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Frage der Minderheiten mit den allgemeinen Menschenrechten geregelt sei. Deshalb auch die Streichung des Minderheitenproblems aus der generellen Deklaration der Menschenrechte 1948.
Ein neues Kapitel zu dieser Frage wurde in den 60-er Jahren aufgeschlagen, als es verschiedene Bestrebungen gab, sich der Angelegenheit des Minderheitenschutzes anzunehmen. Neuerdings greifen auch der Europarat, das Europa-Parlament, die Vereinten Nationen und mehrere internationale Organe das Problem auf, was ein sicheres Zeichen dafür ist, dass jenem Aufruf eine ständig größere Resonanz zukommt, in dem die Erteilung kollektiver Rechte für Minderheiten als ein solches Bedürfnis erwähnt wird, das den Interessen der Zukunft Europas dient.
Gegenwärtig steht Europa im Westen und Osten gleichermaßen vor einer schwierigen Entscheidung.
Die Nationen der Region im Osten haben zu entscheiden, ob sie in das 21. Jahrhundert voranzuschreiten oder aber in das 19. zurückzuschreiten wünschen. Die letztere Variante scheint eine leichtere Wahl zu sein, ist in Wahrheit aber eine gefährlichere. Bei einem Rückschritt nämlich würde man nicht nur die besten nationalen demokratischen Traditionen des 19. Jahrhunderts verleugnen, sondern das Hauptproblem wäre, dass eine Rückkehr zum unausgereiften frühen Kapitalismus, zu gesellschaftlichen und nationalen Konflikten den Rückstand zum höher entwickelten Europa weiter vertiefen und seine Verhältnisse noch mehr destabilisieren würde. Die einzige wahre – wenn auch kompliziertere – Lösung kann nur sein, wenn man um den Anschluss an das Niveau der modernen Wirtschaft im Westen bemüht ist und die veraltete Konzeption vom Nationalstaat dahingehend ändert, dass mit der neuen Struktur eine tatsächliche Integration in die Europäische Gemeinschaft ermöglicht wird. Dazu ist eine gegenseitige Achtung freier Kommunikation und nationaler Kulturen erforderlich. Das heißt, es geht um eine solche großzügige und sinnvolle Eigennützigkeit in der Politik, die nicht nur uns sondern auch anderen dienlich ist und ohne die die vielen Nationen in Europa nicht in Frieden miteinander leben könnten. Gleichzeitig ist all das selbstverständlich verbunden mit einer Ablehnung von Vorurteilen, feindlicher Gesinnung, nationalistischer und ähnlicher Vorurteile sowie anderer, ebenso destabilisierender Faktoren.
Andererseits steht der Westen vor jener schweren Alternative, entweder etappenweise das gesamte Europa in die Europäische Gemeinschaft einzubeziehen oder sich hinter dem Schutzwall der gegenwärtigen Gemeinschaft eines kleineren Europa zu verschanzen. Für den Westen ist heute scheinbar letztere Lösung die einfachere, denn der Osten mit seinen Wirtschaftsproblemen und nationalen und politischen Spannungen kann einfach als Belastungsposten aufgefasst werden. Daher auch Vorsicht und Verzögerungen bei der ständig strengeren Formulierung von Bedingungen des Anschlusses. Perspektivisch gesehen aber wäre dies jedoch tatsächlich die schlechtere, gefährlichere Lösung. Nicht allein deshalb, weil die Europäische Gemeinschaft ihre eigenen wahren Traditionen leugnen, sondern anstelle von Erweiterung und Ausbau die Stagnation und Isolierung wählen würde. Das wahre Problem ist, dass letztendlich selbst der Westen nicht einer Weiterentwicklung fähig wäre, wenn in der unmittelbaren Nachbarschaft, im Osten, Elend und Destabilisierung die Oberhand gewinnen, eine offene Wunde auf dem Körper Europas darstellend, obwohl man doch die Kraftreserve sein könnte, die zum Ausbau besserer Positionen im Konkurrenzkampf mit der Welt befähigt. Es liegt im perspektivischen Interesse der Europäischen Gemeinschaft, sich selbst stufenweise zu ergänzen und in nicht allzu ferner Zukunft in der Region Ost-Mitteleuropa die Anerkennung und Modernisierung von Nationalstaaten neuen Typs zu unterstützen, die sich den europäischen Normen anpassen und humanere Staaten werden. Auf diese Weise kann man sich mit besseren Chancen auf weitere Schritte zur Lösung immer neuer Aufgaben vorbereiten.
Hinsichtlich der Zukunft können wir wohl kaum uns selbst oder anderen etwas Besseres wünschen, als dass sowohl der Westen als auch der Osten die schwerere und doch realere Lösung wählend, als Nationen, in ihren modernisierten und humanitären Staaten im Rahmen eines vereinten Europa, in dieser größeren Heimat, in Frieden miteinander leben und einander die Hände reichen können.
Anmerkungen
1
Pauler Gyula, A magyar nemzet története Szent Istvánig. (Die Geschichte der ungarischen Nation bis zu Stephan dem Heiligen). Budapest 1900.
2
Szűcs Jenõ, Nemzet és történelem. (Nation und Geschichte). Budapest 1974.
3
John A. Armstrong, Nations Before Nationalism. Chapel Hill 1982. Anthony D. Smith, The Ethnic Origins of Nations. Oxford 1986.
4
John A. Hall, Nationalism: classified and explained. Daedalus 1993, 1–28. Den modernen Ursprung des Nationalismus betont ebenfalls: John Breuilly, Nationalism and the State, Manchester 1982.
5
John Plamenatz, Two Types of Nationalism. In: Eugene Kamenka (ed.) Nationalism. The Nature and Evolution of an Idea. London 1976.
6
Miroslav Hroch, The Social Preconditions of National Revival in Europe. Cambridge 1985.
7
Ernest Gellner, Nations and Nationalism. London 1983. Ebenso weitere Studien. wie z..B. Nationalism and Politics in Eastern Europe. New Left Review 1991.
8
John A. Hall, i. m. 1993.
9
Pierre Chaunu, La civilisalion de l’Europe des Lumieres, Paris 1971. D. Kosáry, Culture and Society in 18th Century Hungary. Budapest 1987. Michael Mann, Sources of Social Power II. The Rise of Modern Nations and Classes 1760–1918. Cambridge 1983. ebenso: The Emergence of Modern European Nationalism. In: J. A. Hall-Ian Jarvic (Hrsg.) Transition to Modernity. Cambridge 1992.
10
Liah Greenfeld, Transcending the Nations Worth, Daedalus 1993, 47–62.
11
Eric Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780. Cambridge 1990.
12
David Harvey, The Condition of Postmodernity. Enquiry into the Origins of Cultural Change, Oxford 1989.
13
Reconstructing Nations and States. Daedalus, Sommer 1993. Neben zuvor bereits erwähnten Autoren vertritt denselben Standpunkt: Katherine Verdery, Whither Nations and Nationalism. Daedalus 1993. 37–46.
14
Hugh Seton-Watson, Nations and States. An Enquiry into the Origins of Nations and the Politics of Nationalism 1977.
15
Michael Mann, Nation-States in Europe and Other Continents Diversifying, Developing, Not Dying. Daedalus 1993. 115–140.
16
Philippe Schmitter, The European Community as an Eergent and Novel Form of Political Dominations. In: Instituto Juan March, Madrid, Working Paper Nr. 26, 1991.
* Vortrag im Europa Institut Budapest als der jährliche „József Eötvös Memorial Lecture”, 4. März 1992.