Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 19:247–272.
KRISZTINA KALTENECKER
Solidarität und legalisierte Willkür
Zum Ungarnbild der Bonner Dokumentation1
1. Einleitung
Der vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte erstmals im Jahre 1956 in Düsseldorf herausgegebene zweite Band der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa” schildert das Schicksal der Deutschen in Ungarn (1918-1950).2 Die sogenannte „Bonner Dokumentation” wurde von einer vom Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte berufenen wissenschaftlichen Kommission unter der Leitung von Theodor Schieder zusammengestellt. Ihre „Einleitende Darstellung” ist die systematische geschichtswissenschaftliche Stellungnahme der Bonner Kommission zu der Frage, welche innen- und außenpolitischen Motive zu der juristisch verdeckten Zwangsaussiedlung der Ungarndeutschen führten. Die beigefügten Anlagen sind Rechtsbestimmungen und die Karte der deutschen Siedlungsgebiete in Ungarn anhand der Volkszählungsergebnisse von 1920. Erlebnis- und Befragungsberichte, Tagebuchnotizen und ein Brief bilden die Dokumentsammlung.
Ungarn wird in den geschichtswissenschaftlichen Erörterungen und lebensgeschichtlichen Berichten des Dokumentbands in seiner Eigenschaft als Vertreiberland dargestellt. Die vorliegende Buchbesprechung fasst die Merkmale der Deutschenvertreibung zusammen, welche die Bonner Kommission als spezifisch für Ungarn besonders hervorhebt. Ein Vergleich des Bonner Ungarnbildes mit den Aussagen der damals zugänglichen primären und sekundären Quellen der Zwangsaussiedlung deckt das Subjektive an dieser Charakteristik auf.
2. Zur Quellenbasis der Bonner Dokumentation
Dass die Kommission um Theodor Schieder die von den schriftlichen und mündlichen Berichten gewonnenen Erkenntnisse den Aussagen der Aktenbestände der ungarischen Archive oder den Protokollen der Ministerratssitzungen nicht gegenüberstellen konnte, bedarf keiner besonderen Erklärung. Gleichwohl betonen die Herausgeber in der Vorbemerkung, dass sie über keine große Fülle an primären Quellen verfügten. Der Engpass sei vor allem auf die Scheu der ungarländischen Deutschen zurückzuführen gewesen, die sich, ihrer mangelnden Ausdrucksfähigkeit in deutscher Hochsprache bewusst, wenig bereit zeigten, über ihre eigenen Erlebnisse in eigenhändigen Niederschriften zu berichten. Deswegen habe die Kommission verstärkt zum Mittel der selbsterstellten Quellen greifen müssen.3 Es bleibt unerklärt, warum die zeitgenössischen Presseberichte nicht herangezogen wurden. Die im Band abgedruckten Dokumente gehen zum einen auf die unter Leitung von Fritz Valjavec (München) durchgeführten Sammlungen, zum anderen auf solche des Arbeitskreises von Ludwig Leber (Stuttgart) zurück. Theodor Schieder und seine Mitarbeiter (Werner Conze, Adolf Diestelkampf, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels) waren sowohl für die quellenkritische Sortierung als auch für die Auswertung der Dokumente verantwortlich. Zu den systematischen Erläuterungen der sieben Kapitel und sieben Anlagen umfassenden „Einleitenden Darstellung” werden von den Zeitgenossen vor allem drei Autoren, Matthias Annabring,4 Hans-Joachim Beyer5 und Stefan Kertész6 berücksichtigt. Die Veröffentlichungen von Johann Weidlein7 bleiben unerwähnt, so dem Anschein nach unbeachtet. Zumindest weist die Bonner Kommission auf die in der Frage der politischen Verantwortung für die Zwangsaussiedlung entstandene emotionsgeladene Kontroverse der ungarndeutschen Intelligenzler und die Kontinuität ihrer Spaltung in zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager (um Johann Weidlein und um Ludwig Leber) nicht direkt hin. Der „Weidleinschen Partei” wird das Auftreten vor der wissenschaftlichen Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland erschwert.8
3. Die „Faszination des Magyarischen”
Die „Einleitende Darstellung” behandelt den ungarischen Nationalismus anhand der Minderheitenpolitik Ungarns. Zwei Ebenen der Magyarisierung werden unterschieden: die Ebene 1. der örtlichen Verwaltungsorgane und 2. der zentralen Gesetzgebung.9
Die Untersuchung der sogenannten „passiven Resistenz” der nationalistischen örtlichen Behörden,10 das heißt der Magyarisierungsmethoden der Verwaltung vor Ort, kommt zu dem Ergebnis, dass der Familiennamen- und Sprachwechsel gesetzwidrig zur Vorbedingung des sozialen Aufstiegs der Minderheitenangehörigen gemacht wurde.11 Diese administrative Praxis wird im Rahmen eines bieder-sentimentalen Ungarnbildes auf das Wert- und Sendungsbewusstsein des Magyarentums zurückgeführt und dadurch entwertet, das heißt unter Zuhilfenahme der Konkretisierung einer Metapher ihrer politischen Bedeutung beraubt12: Die magyarische Mentalität (verstanden als Force majeure, unkontrollierbare Gegebenheit) habe die Magyarisierung als natürliche Bekundung der Treue zu Ungarn eingefordert.13 Die Frage, warum die ungarischen Regierungen eine solche gesetzwidrige Praxis ihrer untergeordneten Organe duldeten oder gar unterstützten, wird nicht geklärt. Folglich bleibt der systematische Zusammenhang zwischen Magyarisierung (hier Sprachwechsel und Namensänderung aufgrund von Zwang), der Doktrin der einheitlichen politischen magyarischen Nation und den Revisionsbestrebungen unklar.
Die Einleitung hält die Schulpolitik für den traditionellen Schwerpunkt der durch gesetzliche Maßnahmen erstrebten Magyarisierung (z. B. die Schulgesetze von 1879 und 1907, die Regierungsverordnungen Nr. 4.800/1923 MP. und Nr. 11.000/1935 MP.). In der Bilanz wird betont, dass um 1940 nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der ungarländischen Schwaben die deutsche Schriftsprache beherrschte.14 Die Frage, inwiefern ein systematisches strategisches Zusammenwirken zwischen den örtlichen Verwaltungsorganen und der schulpolitischen Gesetzgebung bestand, bleibt offen. Der Arbeitskreis Theodor Schieders bestimmt die spezifische Mittelfunktion der ungarischen Schulpolitik im Falle der Nationalitäten, nämlich ihren den Revisionsbestrebungen dienenden Charakter, nicht.
Die scharfe Unterscheidung zwischen Magyarisierung und Assimilierung ist bezeichnend für die „Einleitende Darstellung”. Sie geht von einem Prozess der „fortlaufenden Assimilierung” der Ungarndeutschen durch die Staatsnation aus und erklärt ihn mit drei Gründen:
– 1. Das Magyarische habe schlechthin als die Sprache der Gebildeten gegolten, deren Beherrschung für den sozialen Aufstieg unumgänglich notwendig gewesen sei.
– 2. Die Voraussetzungen für eine bewusste Absonderung von dem Magyarentum als kulturelle und religiöse Sondergruppe hätten gefehlt. Den Ungarndeutschen auf dem Lande habe nur ein „beschränktes Kulturgut” zur Verfügung gestanden: Trachten, Volksbräuche, Volkslieder und die „schwere bäuerliche Sprache”. Ihre Geschichte habe als identitätsstiftender oder –bewahrender Faktor versagt.15
– 3. Auch die Konfessionszugehörigkeit habe das Ungarndeutschtum mit dem magyarischen Staatsvolk verbunden. Die katholische Kirche habe als die alle nationalen Gruppen vereinigende Kirche die Spannungsmomente und Gegensätze der Nationalitäten zugunsten des Staatsvolkes ausgeglichen. Erst ab Ende der 1930er Jahre habe sie eine aktive Rolle in der Minderheitenpolitik gespielt, indem sie sich gegen die unter dem Einfluss des reichsdeutschen Nationalsozialismus zustande gekommene Überspitzung des Volkstumskampfes engagiert habe.16
Die Dokumentation unterscheidet zwischen direkt und indirekt erzwungenem Sprachwechsel: Im ersten Fall sei die sprachliche Umstellung Ergebnis der gesetzwidrigen administrativen Praxis vor Ort, im zweiten hingegen Resultat eines pragmatischen, selbstverständlichen Entschlusses der aufstrebenden städtischen Beamten und Freiberufler. Somit wird die Paradoxie der Minderheitenpolitik Ungarns, welche von den Nationalitätenangehörigen nicht einfach die Magyarisierung der Namen und den Sprachwechsel erforderte, sondern, dass sie auch mit dieser Prozedur spontan einverstanden sind, durch eine Differenzierung verhüllt.17
Inkonsequenterweise versäumt es die wissenschaftliche Kommission, ihre eigenen in der Frage der ungarischen Schulpolitik erzielten Forschungsergebnisse zur Analyse der ungarndeutschen kulturellen Verhältnisse heranzuziehen. Ihre Ausführungen laufen auf die Feststellung der Überlegenheit der magyarischen Kultur gegenüber der ungarndeutschen hinaus. Durch diese These pflichtet sie der „Faszination des Magyarischen” sowie dem „Mythos der irrationalen und unwiderstehlichen Attraktivität des Magyarentums” bei.
Die Bonner Dokumentation stellt fest, dass die katholische Kirche Ungarns die Magyarisierungspolitik unterstützte und zum Schutze der Minderheiten nichts unternahm. Sie räumt ein, dass die katholische Kirche weder gegen die Assimilierung noch gegen die Magyarisierung auftrat. Sie bestreitet aber, dass die Unterstützung des „Magyarischwerdens” und die Unterlassung der Hilfe zur Abwehr gegen das „Magyarischmachen” ein offensives Vorgehen sei.18 Dadurch gerät sie zu sich selbst in Widerspruch. In ihrer Schilderung erscheint das Engagement der katholischen Kirche Ungarns gegen den Volksbund als ein Widerstandskampf gegen den aus dem „Dritten Reich” nach Ungarn herangetragenen Nationalsozialismus.
Obwohl Johann Weidlein namentlich nicht erwähnt wird, deutet die Struktur der Argumentation darauf hin, dass es den Herausgebern vorrangig um die Widerlegung seiner über den „unnatürlichen Assimilierungsprozess” vertretenen Thesen ging.
Die wissenschaftliche Kommission bezeichnet die Revision des Friedensvertrags von Trianon (1920) und darüber hinaus die Wiedererrichtung des ungarischen Großreiches der Stephanskrone als das Hauptziel der ungarischen Politik.19 Die nationalitätenpolitischen Konsequenzen dieser Zielsetzung werden allerdings nicht hinreichend erläutert. Die für die Zwischenkriegszeit charakteristische Überzeugung der ungarischen Politiker, dass die Magyarisierung und die Nicht-Erfüllung der minderheitenpolitischen Vorschriften des Trianoner Friedensvertrags die Chancen der Wiedergewinnung der nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete erhöhen würden, wird nicht erklärt. Zudem bleiben die Fragen unklar, warum Jakob Bleyer und seine Mitstreiter immer wieder beteuern mussten, dass ihre Volkstumspolitik an der Zugehörigkeit des Ungarndeutschtums zur ungarischen Staatsnation nicht rütteln wollte, und warum der magyarische Nationalismus den Bleyerschen Grundsatz über die doppelte Identität (das heißt über die gleichzeitige und gleichwertige Zugehörigkeit zur ungarischen Nation und zum deutschen Volk) für eine Provokation und die Bedrohung der Integrität Ungarns hielt. Überzeugend weist die Dokumentation nach, dass Jakob Bleyer sein eigenes Scheitern vor allem auf den magyarischen Nationalismus zurückführte, und dass er 1932 die Hoffnung aufgab, dass Ungarn von sich heraus die deutsche Frage lösen wird.20
Er sah ja in der Ablösung der Doktrin der „einheitlichen politischen ungarischen Nation” durch die der „einheitlichen politischen magyarischen Nation” die Vernichtung des ursprünglichen liberal-nationalen Prinzips von Ferenc Deák.21 Die Bonner Dokumentation vermeidet es jedoch, auf die Rolle von Dezsõ Szabó, Gyula Gömbös, Endre Bajcsy-Zsilinszky und des völkischen Schriftstellerkreises in der Ausarbeitung und Propagierung der neuen innenpolitischen Doktrin der Horthy-Ära einzugehen. Die minderheitenpolitischen Konsequenzen des sich während der Gyula Gömbös-Regierung (1932-1936) gefestigten Prinzips der einheitlichen politischen magyarischen Nation werden nicht aufgezeigt. Die Bonner Kommission lässt den Fall der Gemeinde Hidas (1934)22 sowie die Verurteilung Franz Baschs für die „Schmähung der Nation” (1936)23 unerwähnt.
Hierzu eine kurze Erklärung: Die ungarischen Regierungspolitiker agierten ab 1932 in ihrer Beziehung zur deutschen Nationalität als „Nullsummenspieler”.24 Ihr Verhältnis zur deutschungrischen wie auch volksdeutschen Richtung der deutschen Bewegung war von der Überzeugung determiniert, dass es in allen Konflikt- oder Konkurrenzfällen zwischen Staatsnation und deutscher Minderheit nur zwei Möglichkeiten gibt: Gewinnen oder Verlieren. Sie betrieben die Nationalitätenpolitik fürs Gewinnen in jeder, aber auch jeder Hinsicht- und daher in höchster Alarmbereitschaft und in ununterbrochener Angst vor dem Verlieren. Es lag in der Natur der Sache, dass ihre dauernde Angriffs- und Abwehrhaltung weitgehend politische Situationen erzeugte, gegen sie sich stets wappnen zu müssen glaubten und sie bewiesen ihnen wiederum die Richtigkeit ihrer Annahme von Minderheitenpolitik als dauerndem Kampf. Der Konfrontationskurs zwischen Regierung und deutscher Bewegung blieb also – wie auch die Bonner Kommission schreibt25– kontinuierlich, zumal jedes Eingehen auf ein Nicht-Nullsummenspiel in Form eines der größten nationalen Minderheit gewährten Zugeständnisses als ein Verrat an der magyarischen Mission erschien.26
Die andere Grundsatzfrage der Ministerpräsidentschaft von Gyula Gömbös, nämlich „wieweit die nationalsozialistische Reichspolitik ihre Beziehungen zu den magyarischen Nationalisten durch Rücksichten auf die deutsche Volksgruppe zu gefährden bereit war”27, bleibt ebenso ungeklärt.28
4. Fiktive Verschmelzung der Volksgruppe mit dem Volksbund
Die innen- und außenpolitischen Angleichung Ungarns an die Politik des „Dritten Reiches” wird im Bonner Dokumentband auf die Revisionsbestrebungen zurückgeführt. Eines der Ergebnisse der Angleichung sei die Zulassung einer eigenständigen deutschen Volksgruppe mit starker Bindung an den Nationalsozialismus gewesen. Es ist jedoch nicht eindeutig, ob der Arbeitskreis hier die Zulassung des Volksbundes (1939) oder seine Neukonstituierung durch das Wiener Volksgruppenabkommen (1940) meint. Die Dokumentation bezeichnet das Wiener Volksgruppenabkommen jedenfalls klar als Teil des Angleichungsprozesses.29 Sie macht die ungarische Revisionspolitik für die Auslieferung der Ungarndeutschen gegenüber der Einflussnahme des Nationalsozialismus verantwortlich: Durch das Volksgruppenabkommen habe Ungarn sein deutsches Volkstum der nationalsozialistischen Infiltration preisgegeben.30 Von besonderer Bedeutung sei es gewesen, dass das Volksgruppenabkommen der Führung des Volksbundes das Recht gab, darüber zu entscheiden, wer Volksdeutscher war und damit der Volksgruppe angehörte. Die unklare Abgrenzung zwischen Volksbund und Volksgruppe, „ohne dass die „Volksgruppe” etwa jemals den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft nach dem ungarischen Staatsrecht erhalten hat”, bezeichnet die Bonner Dokumentation als verhängnisvoll.31 Der Anschein der Verschmelzung habe sich aus zwei Faktoren ergeben: 1. Die nationalsozialistische Politik habe sich der bereits bestehenden Organisation des Volksbundes bedient haben. 2. Der Volksbund sei im Namen aller Deutschen Ungarns aufgetreten.32
Hierzu ist noch eine kurze Ergänzung angebracht: Die fiktive Verschmelzung, wie auch die Bonner Dokumentation urteilt, muss angesichts ihrer späteren Mittelfunktion in der ungarischen politischen Propaganda als „verhängnisvoll” bezeichnet werden. Das in Rechtsbestimmungen und Pressehetzkampagnen der Nachkriegszeit gegen die Ungarndeutschen angewandte Kollektivschuldprinzip basierte nämlich auf der Gleichsetzung: Ungarndeutsche = Volksbündler = Nationalsozialisten = Landesverräter und Volksfeinde.
Gleichzeitig mit der Unterzeichnung des Volksgruppenabkommens sei jedoch die Tendenz bestehen geblieben, die deutsche Minderheit zu magyarisieren. Fortan hätten also zwei einander entgegengesetzte Kräfte auf das Deutschtum Ungarns gewirkt: 1. der vertraglich festgelegte Einfluss des deutschen Nationalsozialismus und 2. die Forderungen des magyarischen Nationalismus: „Dieser Antagonismus, zwischen dem die natürlichen eigenen Interessen des ungarländischen Deutschtums zerrieben wurden, bestimmte dessen weiteres Schicksal, ohne dass es sich aus eigenen Kräften behaupten konnte.”33 Die Bonner Dokumentation bezeichnet diesen verhängnisvollen Zirkel als das wichtigste Merkmal der politischen Situation der Ungarndeutschen (1940-1945).
Eine kurze Ergänzung zur Bereinigung der Frage, wie sich die Hypostasierung der deutschen Nationalität in ihrer Beziehung zur Staatsnation im Jahre 1940 in der dem Deutschtum zugesprochenen Minderheitenautonomie manifestierte: Horthy-Ungarn erkannte den Anspruch auf die Reziprozität in der Minderheitenpolitik an, weil es momentan den Revisionsbestrebungen dienlich zu sein schien.34 Die Gewährung der Minderheitenautonomie bedeutete zugleich die Missachtung der innenpolitischen Doktrin der einheitlichen politischen magyarischen Nation und stand in Widerspruch zu dem nationalitätenpolitischen Leitsatz der Revisionspolitik (der „dreierlei Minderheiten").35 Der Fortschritt beim Umformen der sekundären zu einer primären ethnischen Minderheit wurde in der politischen Öffentlichkeit einseitig auf die Ausstrahlung des aggressiv expandierenden nationalsozialistischen Deutschlands zurückgeführt und als Dissimilierungserfolg des Pangermanismus und Bedrohung der territorialen Integrität Ungarns, das heißt als schmachvolle Niederlage im „Nullsummenspiel", aufgefasst.
Die Eingriffe der reichsdeutschen nationalsozialistischen Politik haben, laut Bonner Dokumentation, den „magyarischen Nationalstolz” unheilbar verletzt.36 Die wissenschaftliche Kommission schreibt die gefühlsmäßige Kränkung der ungarischen politischen Öffentlichkeit durch die reichsdeutschen nationalsozialistischen Eingriffe ihrem „magyarischen Nationalstolz” zu. Die Konkretisierung einer Metapher der politischen Propaganda liegt auch an dieser Stelle der Rückkoppelung auf den Nationalstolz zugrunde. Leider bleibt die Definition des Schlüsselbegriffs der Übertragung ebenso aus wie bei der Beschwörung der Force majeure der missionszentrischen Mentalität zur Erklärung der Magyarisierung.
Die Politik der Volksbundführung um Franz Basch wird in der Bonner Dokumentation in doppeltem Sinne für das beklagenswerte Schicksal des Ungarndeutschtums verantwortlich gemacht: 1. direkt: für den Zwiespalt innerhalb des Ungarndeutschtums ab 1938 und 2. indirekt: für die Auslieferung der nationalen Minderheit en bloc an das Kollektivschuldprinzip nach dem Zweiten Weltkrieg.37 Mit Nachdruck stellt die Bonner Kommission die Kontinuität der vorbildlichen ungarisch-deutschen zwischenpersönlichen Solidarität dem Zwiespalt der Ungarndeutschen gegenüber.38
Besonders hebt der Bonner Arbeitskreis hervor, dass sich die unmittelbaren Einwirkungen des reichsdeutschen Nationalsozialismus auf die Volksbund- und Volksgruppenpolitik im Einzelnen noch nicht überblicken lassen.39 Zugleich wird davon Abstand genommen, die nationalsozialistische Infiltration der Ungarndeutschen zu bestimmen oder systematisch zu analysieren. Ebenso wird jegliche geschichtswissenschaftliche Stellungnahme zu der Frage des Nationalsozialismus in Ungarn vermieden. Zum Antisemitismus in Ungarn werden lediglich zwei Judengesetze (von 1939 und 1940) in Zusammenhang mit der Angleichung an die Politik des „Dritten Reiches” kursorisch erwähnt.
5. Regionale Differenzen bei der Verschleppung
Die „Krise der Waffenbrüderschaft zwischen Ungarn und Deutschland” wird vor allem anhand der folgenden Ereignisse geschildert: die vier SS-Rekrutierungen (1941, 1942, 1943, 1944) werden besonders hervorgehoben; die Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen (am 19. März 1944), die „Niederlage des Aufstandes ungarischer Truppen gegen die deutsche Besatzungsmacht” (am 15. Oktober 1945)40 und die Bildung der Miklós von Dálnok-Regierung gegen die Schattenregierung des Pfeilkreuzlers Ferenc Szálasi werden hingegen nur kurz erwähnt.41 Zum Einmarsch der Roten Armee in Ungarn betont die Bonner Dokumentation, dass Ungarn zwar von der Sowjetunion als Feindmacht angesehen wurde, aber die Verhetzung der Sowjetsoldaten fehlte. So kam es hier nicht zu systematischer Quälerei und Erniedrigung, denen die Deutschen etwa in der Tschechoslowakei oder in Jugoslawien ausgesetzt waren. Die „Einleitende Darstellung” führt die Leiden der einzelnen Ungarndeutschen im Winter 1944 und Frühjahr 1945 zum einen auf persönliche Racheakte der früheren Opfer des Nazi-Regimes und zum anderen auf die Solidarität unter den Magyaren zurück.42
Die Bonner Kommission hält jegliche wissenschaftliche Stellungnahme zu den Motiven der Verschleppung in die Sowjetunion für verfrüht.43 Die Frage der juristischen Kaschierung der Verschleppung bleibt ungestellt.44 Zu ihrer Charakterisierung geht der Arbeitskreis von einer regionalen Differenzierung aus:
– 1. In Pest und in den Orten östlich davon seien alle Arbeitsfähigen zusammen mit deutschen und magyarischen Kriegsgefangenen der Gefahr der Verschleppung ausgesetzt gewesen. Obgleich hierbei Personen mit deutschen oder deutschklingenden Namen besonders stark gefährdet gewesen seien, so sollen die Deutschen in der großen Zahl der aus dem Pester Raum Verschleppten doch nur einen kleinen Prozentsatz ausgemacht haben.
– 2. Im Süden des Landes (Batschka und die Schwäbische Türkei) seien die Eintreibekommandos in der Mehrzahl von jugoslawischen Partisanen im Zusammenwirken mit ungarischen Kommunisten und fanatischen Nationalisten gestellt worden. In dem von ihnen usurpierten Machtbereich seien vornehmlich Ungarndeutsche von der Verschleppungsaktion erfasst und planmäßig in kleine Lager zusammengetrieben und in Marsch gesetzt worden.45
Insgesamt sind etwa 600.000 Menschen aus Ungarn als Kriegsgefangene oder Zivilarbeiter in die Sowjetunion verschleppt worden, darunter etwa 30.000 bis 35.000 ungarndeutsche Zivilisten und etwa 30.000 ungarndeutsche Kriegsgefangene.46
6. Die legalisierte Willkür in der Nachkriegszeit
Zur unmittelbaren Nachkriegsgeschichte Ungarns (1945-1950) fokussiert die Bonner Dokumentation auf die betont deutschfeindliche Gesetzgebung, also auf die legalisierte Willkür.47 Ihre Hauptthese, dass die Rufe nach „Sanktionen gegen die deutsche Minderheit” und nach einer „Agrarreform” zur Entstehung von Gesetzen und Verordnungen führten, die beide Forderungen in sich vereinigten und voraussichtlich in der Auflösung der deutschen Volksgruppe in Ungarn resultieren, wird durch eine einzigartige rechtsgeschichtliche und –philosophische Analyse der wichtigsten Rechtsbestimmungen belegt.
Die wissenschaftliche Kommission unterscheidet zwischen drei Verordnungskomplexen:
– 1. Die schon vollgezogene oder noch zu vollziehende Enteignung ungarndeutschen Besitzes wurde mit der Grundverordnung zur Bodenreform vom 15. März 1945 legalisiert.48
– 2. In der Regierungsverordnung 3.820 /1945 MP. zur Überprüfung der nationalen Treue wurden die Ungarndeutschen in Verfehlungsgruppen eingeteilt und es wurde ihnen neben der Enteignung eine besondere Bestrafung je nach der Schwere des „nationalen Verrates” – Internierung, Zwangsarbeit und Umsiedlung innerhalb des Staatsgebietes – zugemessen. Mit dieser Verordnung sollte die deutsche Volksgruppe, wie sie im Wiener Abkommen von 1940 rechtlich verankert war, nicht nur aufgelöst, sondern als eine Art „verbrecherische Organisation” bloßgestellt und unschädlich gemacht werden.49 Diese Kategorisierungsverordnung bildete die Gegenreaktion zu dem Wiener Volksgruppenabkommen vom Jahre 1940.
– 3. Die Ausweisungsverordnung Nr. 12.330/1945 MP., veröffentlicht am 22. Dezember 1945, ordnete die entschädigungslose Enteignung und vollständige Zwangsaussiedlung der Ungarndeutschen an.50
In der rechtsphilosophischen Analyse der legalisierten Willkür werden drei Schemata zur Scheindifferenzierung und zur Simulierung der Rechtsstaatlichkeit aufgezeigt:
– 1. Die Anordnung zur Bodenreform bemühte sich, mit umfassenden Sammelbegriffen (Nationalsozialisten, Faschisten, Pfeilkreuzler, Volksbündler, Vaterlandsverräter, Kriegsverbrecher und Volksfeinde) den Kreis der zu Enteignenden zunächst einmal möglichst weit zu ziehen.
– 2. Die Kategorisierungsverordnung beschäftigte sich mit der systematischen gesetzlichen Begründung und Klassifizierung der Sühnemaßnahmen für „Untreue gegenüber dem ungarischen Staat [richtig: „Untreue gegenüber der ungarischen Nation” Anm. K.K.]”. Dieses Schema zur Erfassung und Bestrafung von Vergehen Einzelner sollte das wahre Ziel der Überprüfung der „nationalen Zuverlässigkeit” verdecken. Tatsächlich ging es durch die formale Aufteilung des gesamten Ungarndeutschtums in einzelne Verfehlgruppen (1. Führer, 2. Mitglied oder 3. Förderer einer hitleristischen Organisation, 4. kein aktiv vaterlandstreuer Vorkämpfer der Demokratie) um eine Verurteilung als Kollektiv. Durch Internierung der politisch interessierten Schicht sollte jede Möglichkeit einer neuen Konstituierung genommen werden; durch Enteignung sollten die Lebensgrundlagen des selbständigen ungarndeutschen Bauern- und Handwerkerstandes zerstört werden; durch Binnenumsiedlung sollte die Minderheit auch in ihrer Siedlergemeinschaft aufgelöst werden.51
– 3. Die „Aussiedlungsverordnung” ging formal noch über die in der Kategorisierungsverordnung aufgestellten Kategorien hinaus und bezog sogar die Personen mit ein, die 1941 Deutsch als Muttersprache angegeben hatten. In der durch die Potsdamer Beschlüsse vom 6. August 194552 gebilligten und angekündigten Zwangsaussiedlung fand Nachkriegsungarn die geeignete Maßnahme für die vollständige Enteignung und Entfernung der deutschen Minderheit.53
Der Bonner Arbeitskreis stellt fest: Die Zusammenlegung von Verfehlgruppen und Sühnemaßnahmen in den drei Verordnungskomplexen diente nicht der Entnazifizierung oder der Erfassung und Bestrafung des individuellen Verschuldens. Man behandelte die Ungarndeutschen in ihrer Gesamtheit nicht mehr als eine rechtlich konstituierte Minderheit. Vielmehr wurde ihnen ihr Minderheitenstatus vom neuen Regime als Staatsverbrechen angerechnet.54 Anhand der drei Verordnungskomplexe zeigen Theodor Schieder und seine Mitarbeiter das Spezifikum des in Ungarn gegen das Deutschtum angewandten Kollektivschuldprinzips auf: Die Ungarndeutschen wurden als solche – wegen ihres Bekenntnisses zum deutschen Volkstum – dem magyarischen Staat [richtig: dem ungarischen Volk Anm. K.K.] gegenüber für schuldig befunden.55 Sie wurden als Feinde des ungarischen Vaterlandes und des ungarischen Volkes gebrandmarkt, die in den Jahren davor Träger einer fremden Idee gewesen waren oder es jeder Zeit hätten werden können und daher für die Zukunft eine latente Gefahr darstellten.56 Zur Erklärung werden lediglich zwei Gründe genannt: 1. Die Enttäuschung über den verlorenen Krieg und die verfehlte Spekulation des Zusammengehens mit dem nationalsozialistischen Deutschland hätten zur Suche nach einem Sündenbock geführt. 2. Die Doktrin der einheitlichen politischen magyarischen Nation sei von der Partei der kleinen Landwirte im Sinne des Kollektivschuldprinzips „weiterentwickelt worden”.57
Zur Berichtigung der obigen Feststellung muss darauf hingewiesen werden, dass die Organisation der Minderheitenpolitik als die eines „Nullsummenspiels” nicht „weiterentwickelt” sondern nachträglich umgedeutet wurde, als ob darin im Jahre 1941 deutsch „bereits” gleichbedeutend mit nationalsozialistisch und magyarisch gleichbedeutend mit demokratisch gewesen wären. Es muss ferner bereinigt werden, warum die juristisch kaschierte Kollektivschuldthese einen Konsens der Parteien der großen Koalition bildete: Die ungarischen Regierungsparteien erblickten nämlich in der mit dem Kollektivschuldprinzip verbundenen Deutschenvertreibung das Allheilmittel, mit dessen Hilfe die brennenden Probleme Nachkriegsungarns zu lösen seien.
Von großer Bedeutung ist die Tatsache, dass die Bonner Dokumentation die Entstehung der Rechtsbestimmungen zur kollektiven Bestrafung der Ungarndeutschen nicht auf eine ungarndeutsche nationalsozialistische Infiltration, sondern auf die außen- und innenpolitischen Bestrebungen Nachkriegsungarns zurückführt.
7. Juristisch kaschierte Vertreibung
Im Kapitel über die „Ausweisung” schildert die Bonner Dokumentation vorerst das Dilemma der vollständigen oder massenhaften Zwangsaussiedlung der Deutschen (1945), dann den Prozess, wie es zur partiellen Durchführung der juristisch verdeckten Totalaussiedlung kam (1946-1948).
Die wissenschaftliche Kommission hält eine Aufklärung der Frage, auf welchem Wege Ungarn in den Vertreibungs-Artikel des Potsdamer Abkommens geraten ist, noch nicht für möglich. Höchstwahrscheinlich sei es die Sowjetunion gewesen, welche die Anregung dazu gegeben habe.58 Somit pflichtet die Bonner Dokumentation in Ermangelung an Quellen (da die zeitgenössische ungarische Presse gänzlich unbeachtet bleibt) „dem Mythos der von den Sowjets erzwungenen Initiative der Béla Miklós von Dálnok-Regierung” bei.59 Hier geht es in der Bonner Dokumentation wieder einmal um eine Kontroverse mit Johann Weidlein. Er war nämlich der festen Überzeugung, dass Ungarn sich selbst, seiner eigenen Initiative, es zu verdanken hatte, dass es in den Vertreibungsartikel des Potsdamer Abkommens geraten konnte. In Rumänien habe es keine Zwangsaussiedlung der Deutschen gegeben, weil es (im Gegensatz zu Ungarn) die Vertreibung seiner Deutschen bei den Alliierten Großmächten nicht initiiert hatte.60
Besonders hebt der Arbeitskreis um Theodor Schieder hervor, dass die massenhafte Zwangsaussiedlung selbst einen Konsens der großen Koalition bildete: Es ging bei der „Diskussion [...] nicht [...] um das Prinzip der Vertreibung als solcher, sondern lediglich um ihr Ausmaß. Um diese Frage ist das ganze Jahr 1945 hindurch im verborgenen, vor allem mit den Sowjets, gerungen worden.”61 Das ist ein wiederholter Hinweis auf den angeblich engen Handlungsspielraum der ungarischen provisorischen Nationalregierung in der Deutschenfrage. Die Bonner Dokumentation akzeptiert zugleich den „Mythos des heroischen Ringens der ungarischen Regierung mit den Sowjets für die Rettung der treuen Deutschen” und spricht von einer halben Million Auszuweisenden im Sinne einer „sowjetischen Forderung”.
Hier muss darauf hingewiesen werden, dass gerade der Handlungsspielraum der ungarischen Regierung, nämlich die Wahlmöglichkeit zwischen der massenhaften und der vollständigen Zwangsaussiedlung, zum Dissens unter den Regierungsparteien führte.
Die Provisorische Nationalregierung verwahrte sich – so schreibt der Bonner Arbeitskreis – formell gegen die Anwendung des Prinzips der kollektiven Verantwortung ganzer Volksgruppen. „Wie wenig sie jedoch selbst von diesem Prinzip abging, ergibt sich aus den Angaben von Stefan Kertész. [...] Er berichtet davon, dass der ungarische Innenminister Franz Erdei im Mai 1945 die Zahl der auszuweisenden Volksbundmitglieder auf etwa 300.000 ansetzte, während die ungarische Regierung in einer offiziellen Note von 200.000 bis 250.000 Deutschen, die als „ergebene Diener des Hitlerismus” aus Ungarn abzuschieben wären, sprach. Die ungarische Regierung bewies damit nur, dass sie selbst an dem Grundsatz der individuellen Schuld nicht festhielt und mit der Ausweisung auch noch andere Ziele verfolgte, als die Bestrafung derjenigen, die nationalsozialistische Politik betrieben hatten.”62 Die Bonner Kommission weist dadurch auf die brisante zeitgenössische Interpretation des Kollektivschuldprinzips hin.63 Dass die Entnazifizierung kein vorrangiges Ziel der Vertreibung gewesen war, wird nicht nur anhand der Rechtsbestimmungen, sondern auch durch das taktische Verhalten der ungarischen Regierungen gegenüber der Alliierten Kontrollkommission im Jahre 1945 aufgezeigt.64 Zugleich belegt die Bonner Dokumentation die These überzeugend, dass es der ungarischen Regierung um die Verschleierung des Kollektivschuldprinzips durch eine Scheindifferenzierung und die Erlangung einer internationalen Aufforderung zur Deutschenvertreibung ging. Klar erkennt die wissenschaftliche Kommission ferner, dass die ungarische Regierung in dem Potsdamer Vertreibungsartikel bzw. in dem Verteilungsplan vom 20. November 1945 einen Befehl sehen wollte.65 Der Arbeitskreis um Theodor Schieder kann es trotzdem nicht entscheiden, ob die Zoltán Tildy-Regierung sich bewusst war, dass die im November 1945 von dem Präsidenten der Alliierten Kontrollkommission vermittelte Zahl von 500.000 Ausgewiesenen die maximale Aufnahmekapazität der US-Zone, nicht jedoch einen Pflichtumfang bedeutete. Die Frage des „Befehls von Woroschilow” bleibt offen und es wird von einer „festgesetzten Zahl” gesprochen. Die wissenschaftliche Kommission lässt sich von der „Legende des Potsdamer Vertreibungsdiktats”66 irreführen.
In den Dokumenten kommen zwei Irrtümer wiederholt vor: 1. Die Zwangsaussiedlung habe aufgrund des Potsdamer Beschlusses erfolgen müssen.67 2. Die Grundaussiedlungsverordnung hätte die Ausweisung der Volksbundmitglieder angeordnet.68 Hier muss auf die Wirksamkeit der nationalistischen politischen Propaganda hingewiesen werden, die diese zwei Irrtümer in der ungarischen öffentlichen Meinung bis zum heutigen Tag vorherrschend macht.69
Nach den Ausführungen der Bonner Dokumentation habe sich eine Kontroverse innerhalb der Tildy-Regierung um die Anwendung des Kollektivschuldprinzips (verstanden als unverhohlen vollständige Deutschenvertreibung) entwickelt: Außenminister János Gyöngyösi hätte die Totalvertreibung abgelehnt, Innenminister Imre Nagy hingegen vorbereitet. Das Dilemma der massenhaften oder vollständigen Deutschenvertreibung wurde schließlich in der Ministerratssitzung vom 22. Dezember 1945 gegen den milderen Vorschlag des Außenministers entschieden.70 Die Zwangsaussiedlungsverordnung bedeutete die radikale Lösung der Deutschenfrage, weil in ihr das Bekenntnis zur deutschen Nationalität oder zur deutschen Muttersprache bei der letzten Volkszählung (1941) an erster Stelle als Kriterium herangezogen wurde. Sie stand unter dem Prinzip der Nationalität und sollte unter gesetzwidriger Verwendung von statistischen Angaben durchgeführt werden.71 Die ungarische Regierung nahm also den Beschluss des Alliierten Kontrollrates vom 20. November 1945 als Aufforderung, die Ungarndeutschen restlos auszuweisen und berief sich in der Präambel der Grundverordnung ausdrücklich auf ihn. Dieser Versuch, die Verantwortung für die vollständige Zwangsaussiedlung dem für Deutschland zuständigen Alliierten Kontrollrat zuzuschieben, stieß auf den Widerspruch nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern auch der Sowjetunion.72
Die Bonner Dokumentation pflichtet dem Mythos der „Abwicklung auf samtenen Wege”73 nicht bei, vielmehr geht sie von unterschiedlichen Durchführungsphasen aus:
– 1. Die Versorgung der ersten Züge (im Januar 1946) habe keineswegs den Grundsätzen einer humanen Abwicklung entsprochen.
– 2. Die Zustände hätten sich allerdings dann erheblich gebessert und sollen zwei Monate später als geregelt bezeichnet werden können.74
– 3. Ab August 1946 könne man jedoch nicht mehr über die Planmäßigkeit der regionalen Durchführung sprechen.
– 4. Für die im August 1947 wieder anlaufende Aussiedlung sei in Zusammenhang mit der Verstärkung der Kommunisten die zunehmende Willkür der Aktion bezeichnend.75
Zudem hätten die Aussiedlungsverordnungen immer mehr den Charakter eines Rechtsmittels zur Definierung und Bestrafung sog. „vaterlandsfeindlicher Bestrebungen” verloren und mehr und mehr unverschleiert zur Sanktionierung des Vorgehens gegen besitzende und einflussreiche, nichtkommunistische Deutsche gedient.76 Somit stellt der Arbeitskreis von Theodor Schieder die These auf, dass der wachsende Einfluss der Kommunistischen Partei in doppeltem Sinne zur Steigerung der Willkür der Vertreibung führte: 1. wegen der chaotischen Abwicklung, 2. wegen der noch geringeren Rücksichtnahme auf die juristische Kaschierung.
Der Zusammenhang zwischen der erzwungenen Nachkriegsmobilität der Tschangos, Szekler, Slowakeiungarn und der Zwangsaussiedlung der Ungarndeutschen wird nicht bestimmt. Die für die unmittelbare Nachkriegszeit charakteristischen Binnenumsiedlungen und „Auflockerungsaktionen” in Ungarn werden nicht geschildert.77
Die partielle Durchführung der angeordneten Totalvertreibung erfolgte in zwei Phasen (1946-1947: rund 150.000 Ungarndeutsche in die US-Zone; 1947-1948: rund 50.000 Ungarndeutsche in die SU-Zone).78 Da die Gesamtzahl der aus Ungarn vertriebenen und im Kriege und in der Nachkriegszeit umgekommenen Deutschen auf 250.000 beziffert werden kann, geht der Bonner Dokumentband davon aus, dass 1956 noch mindestens 240.000 Deutsche in Ungarn lebten.79 Abschließend und als Bilanz stellt der Arbeitskreis um Theodor Schieder fest, dass das Deutschtum in Ungarn als selbständige Volksgruppe und geschlossener Bestandteil der ungarischen Bevölkerung in seiner sozialen und nationalen Existenz aufs Allerschwerste getroffen sei.80
8. Die mythische ungarisch-deutsche Solidargemeinschaft
Die historische Resignation des ausgewiesenen ungarndeutschen Bauern- und Handwerkervolkes und die unablässige Solidarität der einfachen Menschen ungarischer und deutscher Herkunft stehen im Zentrum der Schilderung der Vertreibungsgeschehnisse.
Zur Darstellung der historischen Resignation des Ungarndeutschtums zieht die Dokumentation v. a. die Tagebuchnotizen einer Bauersfrau aus Budaörs (Wudersch) heran: „[1946. Anm. K.K.] Január 22. Der Zug stand übernacht, sie sind noch da! Warmen Kaffe trugen wir ihnen wieder Hinaus. Vor den Wagonen hat mann Lagerfeuer gemacht, um die eisigkalte nacht etwas erträglicher zu machen. In den einen Wagen ist mann fertig, der andere wird gepackt. Dort schiebt mann noch handkarren mit habseligkeiten herbei. Dort zerteilen Verwandte warmes Essen, daß sie für die Abreisenden brachten. Die Wachtstehenden Policisten frieren, sie schleichen sich auch näher zum Lager feuer. Es geht ja niemand weg, mann hat sich mit dem Schicksaal abgefunden. Die Lokomotive wurde angekurbelt. Ein Lied erschallt von den Lippen, als der Zug sich in bewegung setzt. Das lied der ungarischen Himne: „Isten áldd meg a magyart”, „Gott segne dich, Ungár”, singt das von seiner ungárischen Heimat vertriebene Volk. Meine lieben, lieben Kinder, das Schicksal reißt unz wieder auseinander, die trähnenumflorten Augen sehen nur noch weiß flatternde Taschentücher.”81
Der Abschied der Ausgewiesenen von den magyarischen Dorfbewohnern sei meistens freundlich wenn nicht herzlich gewesen.82 Das folgende Bild der unerschütterlichen deutsch-ungarischen zwischenmenschlichen Solidarität entspricht meines Erachtens uneingeschränkt der Auffassung des Arbeitskreises um Theodor Schieder: „Während der ganzen Fahrt [...] sind wir nirgends vom ungarischen Volke verpöbelt, verschrieen oder irgendwie schikaniert worden. Nicht das ungarische Volk hat uns ausgewiesen, sondern die damaligen Machthaber im Auftrage Moskaus, mit Berufung auf den Potsdamer Vertrag. Die Verantwortung für diese unmenschliche, ungerechte Tat an so viel tausend Unschuldigen liegt [...] nicht bei dem ungarischen Volke. Wir haben uns mit den umliegenden Magyaren und Rumänen ganz gut verstanden. Bei unserer Ausweisung sind wir vom ungarischen Volk keineswegs mit Steinen beworfen worden, im Gegenteil, ich selber war verschiedentlich Augenzeuge, dass Menschen, die unseren Transport gesehen haben, sich die Tränen aus den Augen gewischt haben.”83 Das allgemein freundschaftliche Verhältnis des einzelnen deutschen Bauern zu seinen magyarischen Nachbarn sei für die Vorkriegszeit genauso charakteristisch gewesen wie zwischen 1941 und 1945 und nach dem Zweiten Weltkrieg: „Vorherrschend war die Eintracht und selbstverständliche Hilfsbereitschaft, mit der der Magyare den Volksdeutschen vor der SS-Rekrutierungskommission versteckte, ihn vor der Verschleppung schützte, ihm bei der Flucht Nahrung reichte, für eine Nacht auf dem Heuboden unterbrachte oder für ihn bei Ausweisung die Möbel bis zur erhofften baldigen Rückkehr in Verwahrung nahm. Dieses betonte Gemeinschaftsgefühl, das in Jahrhunderten gemeinsamen Schicksals gewachsen war, nahm den Ereignissen viel von der Schärfe und Erbarmungslosigkeit; es stellte das Bleibende dar, das die Zeit des übersteigerten deutschen wie die Zeit des vernichtenden magyarischen Nationalismus überdauerte.”84 Einer der Grundthesen der Dokumentation ist die aus der historischen Schicksalsgemeinschaft entstandene, unerschütterliche, zeitlose, ja „mythische” Solidarität zwischen den einfachen Menschen deutscher und ungarischer Abstammung.85 Die Typenvermischung, das heißt die Nichtbeachtung des grundlegenden logischen Unterschieds zwischen Element (Person) und Klasse (Volk) liegt der paradoxen Folgerung zugrunde, dass das Ungarntum seine Solidarität mit den Deutschen zum Ausdruck gebracht hätte.86
9. Zusammenfassung
Die Bonner Dokumentation untersucht die Geschichte des Ungarndeutschtums zwischen 1918 und 1950 unter drei auseinandergehaltenen Aspekten:
1. Ungarn und sein Ungarndeutschtum (Minderheitenpolitik),
2. Ungarn und die Großmächte (Außenpolitik),
3. der Magyare und der Ungarndeutsche (Alltagsgeschichte),
um die innen- und außenpolitischen Motive der juristisch verdeckten Vertreibung zu bestimmen. Zur Charakterisierung der Zwangsaussiedlung der Ungarndeutschen (1946-1948) stellt die wissenschaftliche Kommission fest:
– 1. Der Mindestumfang der juristisch kaschierten Deutschenvertreibung bildete 1945 den innenpolitischen Konsens der ungarischen Regierungsparteien.
– 2. Die innen- und außenpolitische Situation Nachkriegsungarns erklärt die gegen das Ungarndeutschtum angewandte Kollektivschuldthese. Ihre Motive sind die verfehlte Spekulation des Zusammengehens mit Hitler-Deutschland, der verlorene Krieg, der Nationalismus der Partei der Kleinen Landwirte und die nötige Agrarreform.
– 3. Die Anordnung der unverhohlen vollständigen Zwangsaussiedlung im Dezember 1945 bedeutete einen radikalen Kurswechsel in der Deutschenfrage, dessen Gründe noch unklar sind. Die ungarische Regierung wollte in dem Potsdamer Vertreibungsartikel bzw. in dem Verteilungsplan vom 20. November 1945 einen Befehl sehen. Ob die Zoltán Tildy-Regierung sich bewusst war, dass die vom Präsidenten der Alliierten Kontrollkommission vermittelte Zahl von 500.000 Ausgewiesenen die maximale Aufnahmekapazität der US-Zone, nicht jedoch einen Pflichtumfang bedeutete, kann noch nicht geklärt werden.
– 4. Die Existenzgrundlagen des Ungarndeutschtums als geschlossenen Bestandteil der ungarischen Bevölkerung wurden durch die partielle Durchführung der „legalisierten” Totalvertreibung erschüttert. Die juristisch verdeckte Zwangsaussiedlung wird voraussichtlich zur Auflösung der eigenständigen ungarländischen Volksgruppe führen.
Die Dokumentation begründet die Hinausschiebung der Entscheidung im Dilemma der vollständigen oder massenhaften Vertreibung bis Ende Dezember 1945 mit der eingeschränkten Souveränität und dem engen politischen Handlungsspielraum des besiegten und zur Zuständigkeit der sowjetisch geleiteten Alliierten Kontrollkommission gehörenden Ungarns. Sie akzeptiert den Mythos des ungarischen Widerstands gegen die sowjetische Forderung, 500.000 Deutsche auszuweisen. Die unverhohlen totale Deutschenvertreibung wird als sowjetische Forderung hingestellt. Dabei übersieht der Bonner Arbeitskreis seine eigenen Forschungsergebnisse 1. zum Verhältnis der Sowjets zu der deutschen Bevölkerung Ungarns während der Verschleppung und 2. zum kontinuierlichen taktischen Verhalten der ungarischen Nachkriegsregierungen, welches die juristische Kaschierung der Kollektivschuldthese und die Erlangung einer internationalen Aufforderung zur Zwangsaussiedlung anstrebte.
Die wissenschaftliche Kommission kann in Ermangelung an authentischer zeitgenössischer Quellen die komplexen Wechselwirkungen zwischen dem minderheitenpolitischen Leitsatz der „dreierlei Minderheiten”, der innenpolitischen Doktrin der einheitlichen politischen magyarischen Nation und den Revisionsbestrebungen, kurz die Organisation der Minderheitenpolitik Ungarns nach 1932 als die eines „Nullsummenspiels”, nicht bestimmen. Stattdessen werden Wert- und Sendungsbewusstsein, Nationalstolz und Mitleid als ausschlaggebende Motive der Nationalitätenpolitik in den Vordergrund des Ungarnporträts gestellt. Die Pionierleistung der Bonner Dokumentation für die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland besteht darin, dass die Konsequenzen der Hypostasierung der deutschen Minderheit in ihrer Beziehung zur Staatsnation angesprochen werden. Durch die einzigartige rechtsgeschichtliche und –philosophische Erfassung der für Ungarn spezifischen Manifestationen der minderheitenpolitischen legalisierten Willkür zeichnet sich der Dokumentband besonders aus. Wenngleich die in der historischen Schicksalsgemeinschaft wurzelnde und unerschütterliche Solidarität zwischen den einfachen Menschen ungarischer und deutscher Herkunft ein „Mythos” ist, an den der Arbeitskreis um Theodor Schieder glauben will.
Anmerkungen
1
Für stilistische Hinweise danke ich Frau Elfrun Rebstock (Tübingen).
2
Schieder, Theodor (Bearbeiter u. a.): Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Band II. Das Schicksal der Deutschen in Ungarn. Düsseldorf 1956. 313 S.
3
S. II [„Vorbemerkung zu Band II”, S. 2].
4
Annabring, Matthias: Volksgeschichte der Deutschen in Ungarn. Stuttgart 1954.
5
Beyer, Hans-Joachim (unter dem Pseudonym Joachim Kühl): Das ungarländische Deutschtum zwischen Horthy und Hitler. In: Südostdeutsche Heimatblätter 4 (1955).
6
Kertész, Stefan: Die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn. Eine Studie zur Nachkriegsdiplomatie. In: Südost-Stimmen III. (Sonderheft), Stuttgart 1953. Stefan Kertész war 1945-1946 der Leiter der Abteilung für Friedensvorbereitung im ungarischen Außenministerium und Generalsekretär der ungarischen Friedensdelegation. Er war bestrebt, die von der ungarischen Emigration (z. B. dem ehemaligen Präsidenten der ungarischen Nationalversammlung Béla Varga und dem Ministerpräsidenten a. D. Ferenc Nagy) vertretene „Legende des Potsdamer Vertreibungsdiktats” (Béla Bellér, 1987) in seiner Studie zur Nachkriegsdiplomatie historisch zu belegen. Die „Legende” besteht aus den folgenden „mythischen Kapiteln”: die initiierte Initiative, das heroische Ringen gegen die Sowjets für die Rettung der Treuen, der Befehl von Woroschilow, die Zwangsaussiedlung auf samtenen Wege sowie die gegen die Deutschenvertreibung Stellung nehmende ungarische Öffentlichkeit. Nach ihr ist die Zwangsaussiedlung der Ungarndeutschen primär auf das Machtwort der Sowjetunion zurückzuführen. Vgl. Béla Varga im Stuttgarter Rundfunk im Jahre 1951 über die Deutschenvertreibung. Veröffentlicht in: Unsere Post vom 22. Juli 1951 und in: Weidlein, Johann: Geschichte der Ungarndeutschen in Dokumenten 1930-1950. Schorndorf 1958, S. 375. Vgl. Nagy, Ferenc: Küzdelem a vasfüggöny mögött. Budapest 1990, S. 173. Vgl. ferner: Bellér, Béla: Egy gyönge vétó. In: Élet és Irodalom vom 16. Oktober 1987.
7
Aus den Erinnerungen Johann Weidleins wird zitiert: Dokument Nr. 7, S. 14-16.
8
Johann Weidlein erwidert seine Entwertung seitens der Bonner in der „Geschichte der Ungarndeutschen in Dokumenten 1930-1950” mit der Verwerfung der Dokumentation. Weidlein, Johann (Hg.): Geschichte der Ungarndeutschen in Dokumenten 1930-1950. Schorndorf 1958, S. 6-8. Seine Gegendarstellung beinhaltet eine Fülle an zeitgenössischen Zeitungsartikeln und insgesamt 379 Fußnoten, jedoch keine systematische wissenschaftliche Stellungnahme zum Ungarnbild der Bonner Dokumentation. Weder die Bearbeiter der Bonner Dokumentation noch der Herausgeber der Schorndorfer Ungarndeutschen Geschichte streben es an, miteinander in der Frage der Vertreibung in einen konstruktiven wissenschaftlichen Dialog zu treten.
9
15-16E [„Einleitende Darstellung”, S. 15-16].
10
19E Die Bonner Dokumentation benutzt den Begriff „passive Resistenz” nicht im richtigen Kontext. In der Horthy-Ära (1919-1944) war öfters von Widerstand im Sinne von Sabotage die Rede. Die Vertreter der deutschen Minderheit beklagten sich darüber, dass die untergeordneten Verwaltungsorgane der Regierung die Durchführung bestimmter Rechtsbestimmungen „eigenmächtig” boykottierten. Siehe die Rede von Gustav Gratz vor der IX. Generalversammlung des Ungarndeutschen Volksbildungsvereins (1932). Veröffentlicht in: Weidlein, Johann (Hg.): Geschichte (wie Anm. 8), S. 41. Siehe ferner den Neujahrsartikel von Johann Huber im Neuen Sonntagsblatt (1937). Veröffentlicht in: Ebenda, S. 154-155. Um den Wechsel der Sprache oder des Familiennamens zu erzwingen, mussten die örtlichen Verwaltungsorgane offensiv vorgehen.
11
15-16E.
12
15E. Der Schlüsselbegriff der Ausführungen, das „Wert- und Sendungsbewusstsein des Magyarentums”, wird nicht erklärt. Die „magyarische Mission” gehörte in der Horthy-Ära zum Jargon der Propagandakampagnen der neuen innenpolitischen Doktrin. Die Magyarisierungsaktionen nach Trianon (1920) dienten dem „Prinzip der einheitlichen politischen magyarischen Nation”, welches mehr und mehr zum primären innenpolitischen taktischen Mittel der Wiedererrichtung des ungarischen Großreiches der Stephanskrone wurde. In diesem Prinzip wurde die deutsche nationale Minderheit in ihrer Beziehung zur Staatsnation hypostasiert: Die deutsche Nationalität war also ein Partner, dem die Staatsnation sich selbst angenommen oder verworfen, gefördert oder betrogen fühlte. Und in ganz ähnlicher Weise wie bei einem menschlichen Partner bot die Staatsnation diesem existenziellen Partner ihre Selbstdefinition, hier die magyarische Mission, zur Ratifizierung an und fand sie dann bestätigt oder entwertet; und von diesem Partner versuchte die Staatsnation immer wieder, Hinweise auf die Natur der Beziehung zu ihr, hier „spontane Magyarisierung”, zu erhalten. Zu der Hypostasierung vgl.: Watzlawick, Paul / Beavin, Janet H. / Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern; Göttingen; Toronto; Seattle 1996, S. 241-242.
13
15E. Gerhard Seewann fokussiert in seinen mentalitätsgeschichtlichen Ausführungen auf die politischen Manifestationen des historischen Unrechtsbewusstseins der Ungarn. Seewann, Gerhard: Ungarische und deutsche Minderheiten im Donau-Karpatenbecken 1918-1980. In: Seewann, Gerhard: Ungarndeutsche und Ethnopolitik. A magyarországi németek és az etnopolitika. Ausgewählte Aufsätze. Válogatott tanulmányok. o. O. 2000, S. 142-143. Die Furcht vor dem Wahrwerden der sogenannten „Herderschen Prophezeiung”, das heißt davor, dass das zahlenmäßig schwache Ungarntum im Meer der slawischen und germanischen Völker untergehen wird, ist seit der Aufklärungszeit ebenso charakteristisch für die ungarische Geschichtsbetrachtung. Vgl. z. B. den Artikel von Koloman Pongácz in Magyarság vom 14. April 1935. Veröffentlicht in: Weidlein, Johann (Hg.): Geschichte (wie Anm. 8), S. 145-146. Das historische Unrechtsbewusstsein der Ungarn in Verbindung mit ihrer traditionellen Angst vor der Bewahrheitung der „Herderschen Prophezeiung” prägen die von der Bonner Dokumentation ausführlich zitierten Erinnerungen des Emigranten Stefan Kertész. Während ein historisches Unrechtsbewusstsein in Verbindung mit der Furcht, dass das zahlenmäßig schwache Ungarndeutschtum im Meer der Ungarn untergehen wird, den heimatvertriebenen Johann Weidlein nach 1944/1945 motiviert, in seinem Oeuvre das Monument des „heroischen ungarndeutschen Ringens gegen die Jahrhunderte überdauernde ungarische Volksvernichtungsstrategie” zu errichten. Es wird bei seinen geistigen Erben gar von „Ungarns Entvolklichungspolitik” und vom „Genozid am Ungarndeutschtum” gesprochen. Vgl. Wesner, Franz: Stellungnahme an den Ungarndeutschen Freundeskreis über das Werk von Stefan Kertész vom Juli 1992. Nicht veröffentlicht. Ausdruck im Besitz der Verfasserin.
14
18E.
15
14E.
16
15E.
17
Zur Struktur der „Sei spontan!”-Paradoxie siehe: Watzlawick, Paul / Weakland, John H. / Fisch, Richard: Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern; Göttingen; Toronto 1992, S. 84-96.
18
Das ist nicht ohne Brisanz, weil der überzeugte Katholik Jakob Bleyer gegen die ausschließlich magyarische Einstellung der katholischen Kirche Ungarns in der Zwischenkriegszeit wiederholt und mit Nachdruck protestierte. Siehe z. B.: Jakob Bleyers Lagebericht von 1930. Veröffentlicht in: Weidlein, Johann (Hg.): Geschichte (wie Anm. 8), S. 12. Siehe ferner Jakob Bleyers letzte Parlamentsrede (vom 9. Mai 1933). Ebenda, S. 76. Zur aktiven Rolle der Katholischen Kirche in der Magyarisierung siehe: Dokument Nr. 23. Befragungsbericht nach Aussagen der A. H. aus Bikal vom 4. Juni 1953, S. 60.
19
21E. Zu der Revisionspolitik der Horthy-Ära siehe: Pritz, Pál: Revíziós törekvések a magyar külpolitikában (1920-1935). In: Pritz, Pál: Magyar diplomácia a két világháború között. Tanulmányok. Budapest 1995, S. 234-240 und Kovács-Bertrand, Anikó: Der ungarische Revisionismus nach dem Ersten Weltkrieg. Der publizistische Kampf gegen den Friedensvertrag von Trianon (1918-1931). München 1997, S. 88-95 und 291-293.
20
21E. Angesichts der sich verfestigenden Doktrin der einheitlichen politischen magyarischen Nation erhofften Jakob Bleyer und Gustav Gratz die konkreten Fortschritte 1932 nur noch von außerhalb Ungarns. Gustav Gratz appellierte damals an das Deutschtum der Welt im Sinne der Außerstaatlichkeit, als ob die Minderheitenfrage eine Religionsfrage darstellte. Jakob Bleyer erhoffte die Lösung von der Überstaatlichkeit, von der deutschen Volksgemeinschaft. Die Rettung des Ungarndeutschtums hätten Deutschland (durch Verhandlungen zwischen Budapest und Berlin) und die Deutschen der Welt vollbringen sollen. Jakob Bleyers Brief an Gustav Gratz vom 6. August 1932. Veröffentlicht in: Weidlein, Johann (Hg.): Geschichte (wie Anm. 8), S. 55-56.
21
Siehe Jakob Bleyers „Rahels Klagelied” vom 20. November 1932. Veröffentlicht in: Weidlein, Johann (Hg.): Geschichte (wie Anm. 8), S. 43-46. Siehe ferner Jakob Bleyers letzte Parlamentsrede (vom 9. Mai 1933). Ebenda, S. 72-80.
22
In der mehrheitlich von Deutschen bewohnten Gemeinde Hidas (Hidasch) hat sich die calvinistische (magyarisch reformierte) Kirchengemeinde 1934 aufgelöst. Hochschüler montierten die Glocke von Hidas ab und stellten sie in Budapest am Kálvin-Platz auf. Die „vestummte Glocke von Hidas” sollte Sturm läuten gegen das Aussterben des Magyarentums und gegen das Vordringen des Deutschtums in Transdanubien. Johann Weidlein nahm sich vor, die Angst vor der schwäbischen Expansion durch eine wissenschaftliche Antwort zu zerstreuen. Unter dem Pseudonym Johann Lenz veröffentlichte er einen Artikel im Sonntagsblatt vom 10. Juni 1934, indem die Ansiedlungsgeschichte des Dorfes anhand von Flurnamen rekonstruiert wurde. Dadurch bewies er die historische Kontinuität des schwäbischen Bodenbesitzes in Hidas. Zudem widerlegte Weidlein die These überzeugend, dass die Schwaben im 18. Jahrhundert die Ungarn aus dem Dorf verdrängt hätten. Seine Ausführungen liefen allerdings auf die Feststellung der „historischen Rechtsgrundlagen” des schwäbischen Bodenbesitzes in Hidas hinaus, welche die Furcht der politischen Öffentlichkeit vor der inneren deutschen Gefahr in Transdanubien nur noch erhöhte. (Nach seiner Ungarndeutschen Geschichte aus dem Jahre 1958 habe Johann Weidlein in diesem Artikel beweisen wollen, „dass es vor Ansiedlung der Deutschen [vor 1730 Anm. K.K.] ein kleineres Magyarisch-Hidas und ein größeres Ratzisch-Hidas gegeben hatte, wie ja das ganze Gebiet von Raitzen (Südslawen) überschwemmt war. Nur der Ankunft der Deutschen war es zu danken, dass die magyarischen Inseln im slawischen Meer nicht untergingen.” Weidlein, Johann (Hg.): Geschichte (wie Anm. 8), S. 131. Anm. 29. Somit hätte er aber mit der geglückten präventiven Deutschenansiedlung im 18. Jahrhundert argumentiert, welche im Jahre 1934 keineswegs zur wissenschaftlichen Klärung der Nationalitätenverhältnisse der Gemeinde Hidas oder zur Mäßigung des magyarischen Nationalismus hätte beitragen können. Vielmehr hätte sie durch den angeblich traditionellen Lebensraumkampf der drei Völker auf regionaler Ebene die Herdersche Prophezeiung bestätigt.) In der Folgezeit fragte man sich nämlich immer häufiger, ob das bloße Vorhandensein des ungarländischen Deutschtums zu einem Rechtstitel für die Besitznahme Transdanubiens durch das „Dritte Reich” werden könnte. Die Befürchtung, dass das Ungarndeutschtum unter dem Einfluss der reichsdeutschen Propaganda zum Vorposten der großdeutschen Idee werden könnte, wurde ebenso zu einer der aktuellen Manifestationen der traditionellen Angst vor dem Eintreten der Herderschen Prophezeiung. In der ungarischen Presse wurde behauptet, Transdanubien sei von innen durch die schwäbische Expansion und von außen durch die reichsdeutsche Eroberung bedroht. Vgl. Bellér, Béla: Vom Volksbildungsverein zum Volksbund. Geschichte der Deutschen in Ungarn (1933-1938). Speyer 2000, S. 27-32 und S. 96.
23
Es ist symptomatisch für die politischen Konsequenzen der Hypostasierung der ungarndeutschen nationalen Minderheit, dass Franz Basch eine Gefängnisstrafe von fünf Monaten erhielt, nachdem er sich gegen die gewaltsame Namensmagyarisierung gewandt hatte. Weidlein, Johann (Hg.): Geschichte (wie Anm. 8), S. 118-120. Vgl. Bellér, Béla: Vom Volksbildungsverein zum Volksbund. Geschichte der Deutschen in Ungarn (1933-1938). Speyer 2000, S. 38, 57-58, 88.
24
Zum Begriff „Hypostasierung“ siehe Watzlawick, Paul: Vom Schlechten des Guten oder Hekates Lösungen. München; Zürich 1986, S. 51-68.
25
30E.
26
Wie es auch Béla Bellér betont: „Die Regierungspolitik erwies sich als unfähig, Unabhängigkeit und Fortschritt miteinander zu verknüpfen; sie sah sich sogar außerstande, selbst die gemäßigte Richtung [der deutschen Bewegung Anm. K.K.] durch Lösung der Schulfrage und Gewährung von Organisationsfreiheit für den Volksbildungsverein wirksam zu unterstützen. Damit förderte sie das, was sie verhindern wollte: den Masseneinfluss der volksdeutschen Richtung und dass diese - in Gestalt des Volksbundes - zum selbständigen Verein wird.” Bellér, Béla: Vom Volksbildungsverein zum Volksbund. Geschichte der Deutschen in Ungarn (1933-1938). Speyer 2000, S. 4.
27
21E.
28
Béla Bellér schreibt, dass die ungarische Regierung das „minderheitenpolitische Vakuum” der Jahre 1933/1934 nicht ausfüllte, das heißt sie ergriff die Chance der von fremdem Einfluss freien Lösung der deutschen Frage nicht. Bellér, Béla: Vom Volksbildungsverein zum Volksbund (wie Anm. 26), S. 43. Vgl. Pritz, Pál: Nemzetiségek és külpolitika Magyarországon a harmincas években. In: Pritz, Pál: Magyar diplomácia (wie Anm. 19), S. 279-287.
29
22E.
30
24E.
31
25E. Zu dem Minderheitenautonomiekonzept der Volksbundführung siehe: Seewann, Gerhard: Das Ungarndeutschtum 1918-1988. In: Seewann, Gerhard: Ethnopolitik (wie Anm. 13), S. 114-116. Zu den Verhandlungen der Volksbundführung mit der Imrédy- bzw. der Teleki-Regierung zur Erlangung der Volksgruppenautonomie siehe: Bellér, Béla: Vom Volksbildungsverein zum Volksbund (wie Anm. 26), S. 172-176 und Pritz, Pál: Nemzetiségek és külpolitika Magyarországon a harmincas években. In: Pritz, Pál: Magyar diplomácia (wie Anm. 19), S. 288-289.
32
30E, Anm. 1.
33
24E. Vgl. Seewann, Gerhard: Das Ungarndeutschtum. In: Seewann, Gerhard: Ethnopolitik (wie Anm. 13), S. 116.
34
Béla Bellér ist der Meinung, dass „der Volksbund seine Existenz in erster Linie den minderheitenpolitischen Erfordernissen der auf Gebietsrückgewinnung fixierten ungarischen revisionistischen Außenpolitik zu verdanken hatte, und dass der Druck des Reiches sowie der energische Auftritt der VK [Volksdeutschen Kameradschaft Anm. K.K.] eine nur zweitrangige [...] Rolle bei seinem Zustandekommen gespielt haben.” Bellér, Béla: Vom Volksbildungsverein zum Volksbund (wie Anm. 26), S. 176. Vgl. Pritz, Pál: Nemzetiségek és külpolitika Magyarországon a harmincas években. In: Pritz, Pál: Magyar diplomácia (wie Anm. 19), S. 276.
35
Ungarn hielt die Lage seiner Nationalitäten für eine strikte innenpolitische Angelegenheit, während es für die Auslandsungarn im Rahmen der Revisionspolitik stets intervenierte. Für den Fall der Revision stellte Ungarn den in den Nachbarländern lebenden Minderheiten (z. B. den Slowaken in der Tschechoslowakei) weitgehende Nationalitätenrechte in Aussicht. Es war jedoch nicht bereit, sie den in Trianon-Ungarn sesshaften Minderheiten zu gewähren. Zur rhetorischen Begründung der minderheitenpolitischen Widersprüchlichkeiten erarbeitete Pál Teleki eine Typologie der im Karpatenbecken lebenden Nationalitäten. Die zum nationalitätenpolitischen Leitsatz der Zwischenkriegszeit erhobene Typologie beschreibt „dreierlei Minderheiten”: 1. die traditionellen, 2. die freiwilligen und 3. die Zwangsminderheiten. Aus historischen Gründen sollen die „Zwangsminderheiten” im Karpatenbecken Autonomierechte und einen internationalen Rechtsschutz beanspruchen können. Innerhalb von Trianon-Ungarn gäbe es jedoch nur „freiwillige” oder aber „traditionelle Minderheiten”, denen nur sehr beengte Nationalitätenrechte zustünden. Bleyer, Jakob: Eine lehrreiche Minderheitendebatte. In: Sonntagsblatt vom 1. März 1931 und Ders.: Minderheitenkategorien und Minderheitenschutz. In: Ebenda vom 12. April 1931. Hinweis nach: Weidlein, Johann (Hg.): Geschichte (wie Anm. 8), S. 27, Anm. 6. Um zum einen den ungarndeutschen politischen Emanzipierungsprozess und zum anderen seine Unterstützung durch das „Mutterland”, das „Dritte Reich”, historisch zu ratifizieren, veröffentlichte Johann Weidlein 1937 seine Antithese. Polemisierend stellte er fest, dass die Ungarndeutschen eine Zwangsminderheit bildeten, denn sie seien im 18. Jahrhundert nicht in das nationalistische Trianon-Ungarn, sondern in das Erbland ihres Kaisers (sic!) eingewandert. Weidlein, Johann (Hg.): Geschichte (wie Anm. 8), S. 227 Anm. 120. Die Kontroverse trug keineswegs dazu bei, die ungarische Minderheitenpolitik zum konstruktiven Kompromiss zu bewegen. Vielmehr konnte der Hinweis auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (wo im Gegensatz zum Königreich Ungarn ein Kaiser regiert hatte) als Provokation ausgelegt werden und die Befürchtungen bestätigen, dass die heimischen Deutschen für eine pangermanische Agitation sensibilisiert wurden und ihre politische Elite separatistische Bestrebungen hegte.
36
30E.
37
Beispiele zur Zwietracht innerhalb des Ungarndeutschtums: Dokument Nr. 1, S. 3; Nr. 3, S. 7; Nr. 4, S. 8; Nr. 6, S. 12; Nr. 10, S. 24; Nr. 29, S. 85 und S. 86; Nr. 51, S. 148, S 163 und S. 168. Die Volksbundführung erkannte die Zugehörigkeit der Nicht-Volksbündler zum Deutschtum nicht an, während die magyarischen Nationalisten den Volksbündlern ihre Zugehörigkeit zum Ungarntum abstritten. Die Ungarndeutschen wurden so oder so als Abtrünnige gebrandmarkt: Die eine Gruppe galt ja als Volkstums-, die andere als Vaterlandsverräter.
38
30-31E.
39
24E. Die wissenschaftliche Beachtung der Weidleinschen Partei erschien der Bonner Kommission unter diesen Umständen untragbar.
40
Diese Schilderung der Ereignisse am Tag der Horthy-Proklamation entspricht der Darstellung der ungarischen Emigration, die bestrebt war, Ungarns Schicksalsgemeinschaft mit den Siegermächten zu betonen.
41
32E-45E. Die Miklós von Dálnok-Regierung wurde am 21. Dezember 1944 gegründet.
42
41E.
43
42E. Ein Bericht deutet darauf hin, dass die Verschleppung nach dem Nationalitätenprinzip erfolgte, wenn die örtliche ungarische Administration mit der Zusammenstellung von Listen beauftragt war. Siehe: Dokument Nr. 23. Befragungsbericht nach Aussagen der A. H. aus Bikal vom 4. Juni 1953, S. 60.
44
Franz Wesner, der zur Schule von Johann Weidlein gehört, vermutet, dass der sowjetische Militärbefehl Nr. 0060 vom 22. Dezember 1944 als der Verhandlungserfolg der ungarischen Politiker in Debrecen (Debrezin) ausgelegt werden sollte: Im Winter 1944 fanden in Debrecen Verhandlungen mit der sowjetischen Militärkommandantur statt, wo ein Gesuch der Ungarn an das sowjetische Hauptquartier weitergeleitet worden sei. In diesem Gesuch habe Ferenc Erdei Stalin gebeten, die Verschleppung nach Nationalitätengesichtspunkten durchzuführen. Wesners Vermutung wurde 1995 indirekt durch die Stellungnahme Rumäniens bestätigt, denn Staatspräsident Iliescu bat in Brassov (Kronstadt) die Rumäniendeutschen um Verzeihung dafür, dass die Nachkriegsregierung Rumäniens die Sowjets überzeugt hatte, nur Deutsche zur Zwangsarbeit zu verschleppen. Vgl. Wesner, Franz: Hozzászólás Zielbauer György A hazai németséget humánusan kell kitelepíteni címû cikkéhez. Leserbrief an die Redaktion der Magyar Nemzet vom 22. Januar 1996. Nicht veröffentlicht. Ausdruck im Besitz der Verfasserin. Ferner differenziert Wesner überzeugend aufgrund der juristischen Kaschierung zwischen der wilden und legalen Verschleppung: Wild (das heißt wahllos) von der Straße seien auch Nichtdeutsche weggebracht worden, doch „legal”, das heißt aufgrund von Listen, die von ungarischen Zivilbehörden erstellt wurden, seien nur Schwaben verschleppt worden. Mit dem bestimmenden Einfluss der örtlichen Selbstverwaltung erklärt er das Phänomen, dass in der Karpatoukraine auch die Ungarn verschleppt wurden. Dort hätten die Ruthenen entschieden. Im Sathmar hingegen funktionierte die ungarische Verwaltung unter der sowjetischen Besetzung weiter, deswegen seien hier die Schwaben verschleppt worden. Vgl. Wesner, Franz: Zum 45. Jahrestag unserer Verschleppung aus Hőgyész. Stellungnahme an den Ungarndeutschen Freundeskreis vom 1. Januar 1990 und Ders.: Zum Schlusswort von Loránt Tilkovszky auf der internationalen Historikerkonferenz 1990 in Budapest. Stellungnahme an den Ungarndeutschen Freundeskreis vom 27. November 1991 sowie Franz Wesners Antwort an Georg Zielbauer. Leserbrief an den Deutschen Boten vom 23. April 1993. Nicht veröffentlicht. Ausdrucke im Besitz der Verfasserin. Vgl. ferner: Wesner, Franz: Buchbesprechung: Füzes, Miklós: Die Verschleppung ungarländischer Deutscher 1944/45. Erste Station der kollektiven Bestrafung. In: Der Donauschwabe vom 24. Februar 1991.
45
42-43E.
46
44E.
47
47-52E.
48
Insgesamt verfügte das Ungarndeutschtum noch im Jahre 1941 über 638.337 Katastraljoch Boden (das heißt über etwa 5,5 % des Gesamtbodenbesitztums von Ungarn). Die Größenordnung des aufgrund der Verordnung Nr. 600 / 1945 MP. von ihnen beschlagnahmten Bodens kann nach der Berechnung von István Fehér insgesamt auf etwa 4 % (204.114 Katastraljoch) der Gesamtmenge (5.599.645 Katastraljoch) beziffert werden. Die Berechnungen stammen von Fehér, István: A magyarországi németek kitelepítése 1945-1950. Budapest 1988, S. 21. Anm. 30. aufgrund der Statistiken von Orbán, Sándor: Két agrárforradalom Magyarországon. Budapest 1972, S. 39.
49
51E. Vgl. Das Protokoll der interfraktionellen Sitzung im ungarischen Ministerpräsidium am 14. Mai 1945. Veröffentlicht und von dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt von Franz Wesner. In: Das Donautal-Magazin Nr. 92 vom 1. Juli 1997.
50
50E.
51
52E.
52
52 Siehe: Schieder, Theodor (Bearbeiter): Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Band IV/1. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei. o. O. 1957, S. 115.
53
57-58E.
54
46E. Zur Entnazifizierung in Ungarn siehe: Szöllösi-Janze, Margit: „Pfeilkreuzler, Landesverräter und andere Volksfeinde”. Generalabrechnung in Ungarn. In: Henke, Klaus-Dietmar; Woller, Hans (Hg.): Politische Säuberungen in Europa. Das Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg. München 1991, S. 311-357.
55
47E.
56
46E.
57
46E.
58
59E.
59
60E. Demnach soll Marschall Woroschilow als Präsident der Alliierten Kontrollkommission für Ungarn im Frühjahr 1945 die Initiative zur Lösung der Deutschenfrage von der ungarischen Provisorischen Nationalregierung verlangt haben. Diese Behauptung (der „Mythos der initiierten Initiative”) kann mit Quellen nicht belegt werden. Üblicherweise basiert sie auf der eingeschränkten Souveränität des besiegten und zur Zuständigkeit des sowjetisch geleiteten Alliierten Kontrollkommission gehörenden Ungarns bzw. auf dem engen Handlungsspielraum der ungarischen Provisorischen Nationalregierung. Siehe: Kertész, Stefan: Vertreibung (wie Anm. 6), S. 8-9.
60
Franz Wesner schreibt, dass die Nichtvertreibung der Rumäniendeutschen der neuralgische Punkt der magyarischen Vernebelungstaktik sei. Wesner, Franz: Stellungnahme an den Ungarischen Freundeskreis über das Werk von Stefan Kertész vom Juli 1992. Nicht veröffentlicht. Ausdruck im Besitz der Verfasserin.
61
60E.
62
61E. In der Schilderung von Gerhard Seewann erscheint das Schwanken der Zahl der für Ausbürgerung, Enteignung und Ausweisung vorgesehenen Personen als symptomatisch für die verfehlte Taktik der ungarischen Innen- und Außenpolitik: „Einerseits ist das [Schwanken Anm. K.K.] wohl auf den darauf bezogenen innenpolitischen Dissens unter den Parteien zurückzuführen, der die ungarische Regierung so lange zum Taktieren nötigte, bis sich die Hardliner in ihr unter Berufung auf angebliche Befehle der Sowjetunion durchsetzten konnten. Andererseits ist dieses Schwanken eine Reaktion auf die parallel dazu verlaufenden ungarisch-tschechoslowakischen Verhandlungen um das Los der magyarischen Bevölkerung in der Slowakei, in der [...] ebenfalls völlig unterschiedliche Zahlenspiele auftauchten.” Seewann, Gerhard: Britische Quellen zum Vertreibungsprozess vor und nach Potsdam. In: Seewann, Gerhard: Ethnopolitik (wie Anm. 13), S. 191.
63
Vgl. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat der Ungarischen Provisorischen Nationalregierung am 12. Juni 1945 ein Memorandum über ihre Ansichten in der „Umsiedlungsfrage” zukommen lassen. Fehér, István: A magyarországi németek kitelepítése 1945-1950. Budapest 1988, S. 44. Bezeichnend für diese Stellungnahme der USA war einerseits die Akzeptanz des Kollektivschuldprinzips, indem zur Durchführung von massenhaften Zwangsumsiedlungen theoretisch zugestimmt wurde. Im zweiten Prinzip der Denkschrift wurde jedoch der vorherige Abschluss von internationalen Abkommen als Voraussetzung der Zwangsmaßnahmen verlangt. Letztlich distanzierte sich die Regierung der USA von einer vollständigen Vertreibung, die allein auf die Volkszugehörigkeit abstellte, und die gesamte Minderheit damit als Staatsfeinde abstempelte.
64
Ungarn konnte die ethnische Vertreibung aus Rücksicht auf die ungarischen nationalen Minderheiten außerhalb des Landes nicht forcieren. Der Mindestumfang der organisierten Vertreibung, die massenhafte Zwangsaussiedlung, bildete lediglich den vorläufigen Konsens der Regierungsparteien. Die ungarische provisorische Nationalregierung verhielt sich taktisch abwartend, um sich beide Optionen offen zu halten. Das Dilemma der massenhaften oder vollständigen Deutschenvertreibung konnte aufgrund des Potsdamer Beschlusses vom August 1945 nicht entschieden werden. Die Ersetzung der Kategorie „Förderer von hitleristischen Organisationen” (Verordnung Nr. 3.820 / 1945 MP.) mit der Umschreibung „er hat den Hitlerismus entweder mit Worten oder mit Taten unterstützt” nach der Regierungssitzung vom 3. November 1945 legte den Grund zur Verurteilung jener Personen, die sich 1941 zu ihrer deutschen Nationalität bekannt hatten genauso, wie zur Ausbürgerung, Enteignung und Ausweisung derjenigen, die in der letzten Volkszählung Deutsch als Muttersprache angegeben hatten. Ursprünglich strebte auch die Tildy-Regierung eine Regelung an, die nur scheinbar differenziert hätte. Tatsächlich wären die zu Vertreibenden willkürlich bestimmt gewesen. Das Scheitern der Verhandlungen mit der Tschechoslowakei (3.-6. Dezember 1945) trug am maßgeblichsten zum Konzeptwechsel bei: Ende Dezember 1945 wurde die restlose und vollständige Zwangsaussiedlung angeordnet.
65
61E.
66
„Das Schicksal des ungarländischen Deutschtums war” - so schrieb Béla Bellér im Jahre 1987 in der Élet és Irodalom - „schon sieben Monate vor der Potsdamer Konferenz entschieden. Entschieden haben es aber nicht die alliierten Großmächte, sondern die ungarische Regierung. [...] Die Zeugen der damaligen Ereignisse, die Zeitgenossen, haben die Zwangsaussiedlung noch in ihren wahren Zusammenhängen gesehen. Später haben die Legende von Potsdam und der Talmiglanz des Intervenierens vom Dezember 1945 [eine Verbalnote vom 1. Dezember 1945 an die britische, amerikanische und sowjetische Missionen und eine Verbalnote vom 15. Dezember 1945 an die Westalliierten Anm. K.K.] die offenkundigen Fakten vernebelt und so den Schein des Freispruchs von der historischen Verantwortung entstehen lassen. Ein im Neuen Ungarischen Zentralarchiv vorliegendes Archivmaterial aus dem Jahre 1946 widerlegt diese Auslegung und spricht die geschichtliche Wahrheit aus. [...] Die Zwangsaussiedlung der Schwaben sei schon bei der Ankunft der provisorischen Regierung in Budapest (am 12. April 1945 Anm. Béla Bellér) in einer seitens des Innenministeriums veröffentlichten Erklärung thematisiert worden. Die Potsdamer Beschlüsse hätten sie nur ermöglicht, wofür den Alliierten zu danken sei. [...] Die ungarische Regierung hat übrigens bei den Verhandlungen mit den Amerikanern am 22. August 1946 selber zugegeben, dass das Potsdamer Abkommen die Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung Ungarns nur ermöglicht hatte und dass es an der ungarischen Regierung lag, davon Gebrauch zu machen oder nicht (MTI vom 2. September 1946; Szabad Szó vom 30. August 1946).” Bellér, Béla: Egy gyönge vétó. In: Élet és Irodalom vom 16. Oktober 1987. Die deutsche Übersetzung dieses Artikelausschnitts wurde von Franz Wesner unter dem Titel „Die ethnische Säuberung in Ungarn” in der Zeitschrift Der Donauschwabe, Jg. 46 / Nr. 32-33 (vom 11-18. August 1996) veröffentlicht.
67
Dokument Nr. 29, S. 87; Nr. 34, S. 100; Nr. 40, S. 118 und S. 120.
68
Dokument Nr. 46, S. 127; Nr. 48, S. 131.
69
Im Jahre 1987 würdigte Ambrus Bor, einer der geistigen Erben Dezső Szabós, die Verbalnote vom 1. Dezember 1945 vor dem Hintergrund der eingeschränkten Souveränität Nachkriegsungarns und des beengten politischen Spielraums der Tildy-Regierung. Der Publizist bezeichnete sie als ein zwangsläufig bescheiden formuliertes politisches Veto gegen die Deutschenvertreibung und ein tapferes Engagement zum Schutze der heimischen Schwaben. Bor, Ambrus: Egy halk vetó. In: Élet és Irodalom vom 7. August 1987 und Bor, Ambrus: Még egy halk vétó. In: Élet és Irodalom vom 28. August 1987. Béla Bellér veröffentlichte seine Antwort in der Form einer ausführlichen wissenschaftlichen Stellungnahme zu der „Legende von Potsdam” am 16. Oktober 1987 ebenfalls in der Élet és Irodalom. In seinem Artikel „Egy gyönge vétó” stellte er fest, dass die Verbalnote vom 1. Dezember 1945 kaum durch die Sorge um das Schicksal der heimischen Deutschen bestimmt gewesen sein dürfte. Vielmehr habe das Regierungsengagement dem Schutze der Ungarn in der Tschechoslowakei gegolten. Aber selbst wenn die Tildy-Regierung es beabsichtigt hätte, einen Teil der Schwaben tatsächlich im Lande zu behalten, hätte sie dieses Vorhaben unmöglich realisieren können, weil sie von der damaligen ungarischen politischen Öffentlichkeit keine Unterstützung dazu bekommen hätte. Anstatt sich über diese Ausführungen auseinanderzusetzen, teilte Ambrus Bor daraufhin der Presseöffentlichkeit mit, dass er zur Fortsetzung der Diskussion mit Bellér nicht bereit sei: Er sähe „keine Chance für einen nützlichen staatsbürgerlichen Dialog” mit ihm. Bellérs wissenschaftlich fundiertes und methodisch einwandfreies Aufräumen mit der „Legende von Potsdam” wurde in der politischen Öffentlichkeit als impertinente Unterstellung verworfen. Zudem blieb sie in der ungarischen Geschichtsschreibung weitgehend unbeachtet. Die Bereinigung der Frage der politischen Verantwortung bildete 1996 das Hauptanliegen der in dem Verein Suevia Pannonica (Heidelberg) tätigen ungarndeutschen Akademiker, als sie Johann Weidleins „Geschichte der Ungarndeutschen in Dokumenten 1930-1950” in ungarischer Sprache herausgaben. Das Original wurde unter der Leitung von Johann Till aktualisiert und unter anderem mit einem Anhang erweitert. Dabei handelte es sich um einen Briefwechsel zwischen dem Bischof von Székesfehérvár (Stuhlweißenburg), Lajos Svoy, und dem US-amerikanischen Vertreter der für Ungarn zuständigen Alliierten Kontrollkommission, General Key. Der Bischof erhob in einem Brief vom 8. Januar 1946 seine Stimme gegen die angeordnete Totalvertreibung der ungarländischen Deutschen. General Key wies in seiner Antwort vom 24. Januar 1946 jede Verantwortung für das angewandte Kollektivschuldprinzip von sich und machte den Bischof auf den großen Handlungsspielraum der ungarischen Regierung aufmerksam: Die Deutschenvertreibung habe ja das ungarische Außenministerium in einer Note vom 5. Juni 1945 beantragt. Die Potsdamer Konferenz habe diesem Antrag der ungarischen Regierung zugestimmt. Dieses Programm sei also von der ungarischen Regierung initiiert worden. Die Personen, die zwangsausgesiedelt werden sollten, würden von der ungarischen Regierung bestimmt; die Alliierten hätten nur die Zwangsaussiedlung zu überwachen und die humane Durchführung, die Vorbereitung und den Transport sicherzustellen. Suevia Pannonica (Hg.): Weidlein, Johann: A magyarországi németség küzdelme fennmaradásáért. Dokumentáció. 1930-1950. o. O. [Pécs] 1996, S. 383-387.
70
60-61E.
71
Auch die Tagebuchnotizen einer Budaörser Bauersfrau erkennen diesen doppelten Gesetzesbruch klar: „Da brachte das Amtsblatt von 1946 Január 22 die neueste Regierungsverordnung: alle, die sich bei der in 1941 gehaltene Volkszählung für deutsche nationalität oder deutsche Muttersprache erklärten, werden für Deutsche erklärrt und so nach Deutschland ausgewiesen. Damals bei der Volkszählung war das eine tatsache und sogár eine Verordnung, dass man Statistische aufnahme für nichts weiter gebrauchen darf, es bleibt nur Statistick. Und jetzt macht mann von der Statistick - Politick.” Dokument Nr. 52. Erlebnisbericht einer Bauersfrau aus Budaörs. Original, S. 181.
72
61E.
73
Vgl. Kertész, Stefan: Vertreibung (wie Anm. 6), S. 27.
74
Der Bericht des Landrats a. D. Peter Paul Nahm widerlegt die These der schnellen Konsolidierung. Dokument Nr. 49. Original, vom 22. März 1956, S. 132-133.
75
63E-65E.
76
65E.
77
Zu diesen Zusammenhängen siehe: Tóth, Ágnes: Telepítések Magyarországon 1945-1948 között. A németek kitelepítése, a belső népmozgások és a szlovák-magyar lakosságcsere összefüggései. Kecskemét 1993.
78
Die Zahl der aus Ungarn durch die Zwangsaussiedlung zwischen 1946 und 1948 vertriebenen Deutschen betrug nach den Angaben des Amtes für Volksbetreuung insgesamt etwa 185.000, wovon rund 135.000 Personen in den Jahren 1946/1947 in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands aufgenommen wurden. Die Anzahl der 1947/1948 nach Ausbürgerung und völliger Enteignung in die sowjetische Zone Deutschlands transportierten Ungarndeutschen wird auf circa 50.000 beziffert. Balogh, Sándor: Magyarország külpolitikája 1945-1950. Budapest 1988, S. 101-102. Durch diese Art der Vertreibung ging insgesamt 248.600 Katastraljoch Boden in den Besitz des ungarischen Staates über. Die Ungarndeutschen besaßen im Jahre 1941 etwa 60.400 Häuser. Davon wurden zwischen 1945 und 1948 rund 44.750 Immobilien (das heißt 74,1%) staatlich beschlagnahmt. Diese Angaben stammen von Tóth, Ágnes: Telepítések (wie Anm. 77), S. 191-192.
79
72E.
80
71-72E.
81
Dokument Nr. 52. Erlebnisbericht einer Bauersfrau aus Budaörs. Original, S. 184. Siehe ferner: Ebenda, S. 174, S. 182, S. 183.
82
63E.
83
Dokument Nr. 40. Erlebnisbericht des Pfarrers Georg Ruck aus Elek. Original, ohne Datum, S. 120.
84
30-31E. Vgl. auch 40E. Vgl. ferner Dokument Nr. 8, S. 17; Nr. 27, S. 78; Nr. 28, S. 83; Nr. 30, S. 90; Nr. 31, S. 91; Nr. 45, S. 126; Nr. 48, S. 132.
85
Stefan Kertész versucht, die These der gegenüber den Schwaben freundlich gesinnten, gegen die Vertreibung Stellung nehmenden ungarischen politischen Öffentlichkeit zu untermauern. Kertész, Stefan: Die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn. In: Südost-Stimmen. III. (Sonderheft), Stuttgart 1953, S. 30. Laut Matthias Annabring wurden die von den Regierungen gegen das heimische Deutschtum ergriffenen Maßnahmen von einem Teil des ungarischen Volkes missbilligt. Siehe z. B.: Annabring, Matthias: Das ungarländische Deutschtum. Leidensweg einer südostdeutschen Volksgruppe. Südost-Stimmen März 1952, S. 63. Béla Bellér reißt quellenmäßig fundiert und methodisch einwandfrei dieses Thema an und kommt zu einem gravierend anderen Ergebnis als Kertész, Annabring und die Bonner Kommission: Laut einer 1945 durchgeführten Meinungsumfrage seien 80% der Befragten der Meinung gewesen, die Ungarndeutschen hätten ihr Schicksal verdient. „Wer die Massenmedien der damaligen Zeit [...] aufmerksam verfolgt, wer von der antischwäbischen Demonstration der Neusiedler am 3. Dezember 1945 und der parallel dazu veranstalteten Parlamentsdebatte über die Deutschenfrage weiß, in welcher die Ungarndeutschen keinen einzigen Verteidiger, nicht einmal seitens der Sozialdemokraten und der Kirchen, fanden, und wer in irgendeiner Form etwas über die Demütigung, des ständigen Schreckens dieser zur freien Beute gewordenen Menschen mitbekommen hat, wird erkennen, dass es sich hierbei nicht einfach um Gleichgültigkeit, sondern um einen bewusst organisierten und geschnürten Nationalitätenhass handelt.” Es sei symptomatisch für die Hasspolitik gewesen, dass die in der Magyar Nemzet vom 18. Januar 1946 veröffentlichte einmalige Protesterklärung von 26 ungarischen Künstlern und Politikern (Imre Bálint, Lipót Baranyai, Kálmán Csathó, Imre Csécsy, Gyula Dessewffy, László Faragó, Miksa Fenyő, József Fischer, József Fodor, Milán Füst, Oszkár Gellért, Jenő Heltai, Zoltán Horváth, György Jendrassik, Lajos Kassák, Anna Kéthly, Lajos Nagy, György Parragi, Pál Pátzay, József Radnóti, Sándor Sík, Géza Supka, István Szőnyi, Aurél Varannai, Miklós Wesselényi und Béla Zsolt) von Regierung (z. B. Innenminister Imre Nagy) und Presse (z. B. Szabad Nép vom 24. Januar 1946 und Szabadság vom 22. Januar 1946) wegen der „Untergrabung der heimischen und internationalen Demokratie” hart angegriffen wurde. Bellér, Béla: Gyönge vétó (wie Anm. 66). Der Artikel Bellérs wurde von Franz Wesner übersetzt und in Suevia Pannonica. Archiv der Deutschen aus Ungarn Jahrgang 6 (16) 1988 veröffentlicht.
86
Zum logischen Problem der Typenvermischung siehe: Watzlawick, Paul / Weakland, John H. / Fisch, Richard: Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern; Göttingen; Toronto 1992, S. 24-25.
Die Autorin war Stipendiatin des Europa Institutes Budapest Januar bis Mai 2003.