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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:141–155.

KÁROLY MANHERZ

Identität und Sprachgebrauch bei den Minderheiten

 

1. Sprache und Identität in Sprachinsel-Situation

Die ungarländischen ethnischen Minderheiten zeigen in ihrer soziologischen Stratifikation und im Verhalten zur Hochsprache und Mundart ein relativ buntes Bild. Der Großteil der Volksgruppen gehörte zum Bauerntum, die Sprache, die als Muttersprache bezeichnet wurde, war meistens ein angestammter Dialekt, der je nach geographischer Lage bzw. Region auch verkehrssprachliche Charakteristika aufweisen konnte. Tägliche Kommunikation, religiöses Leben, Sitte, Brauchtum und z.T. materielle Kultur bediente sich dieser Ortsmundart oder der regionalen Verkehrssprache, oft auch der hochdeutschen Umgangssprache bzw. Literatursprache.

Da die meisten ungarländischen Minderheiten eine Sprachinsel bilden, sollte ihr Sprachgebrauch von der Sprachinsel-Situation her gesehen erklärt werden.

Sprachinsel sollte generell, nicht nur linguistisch verstanden werden, sondern als Sammelbegriff sämtlicher Lebensäußerungen der in eine Sprachinsel zusammengefassten Gemeinschaft. Nach W. Kuhn und C. J. Hutterer sind Sprachinseln „raumlich abgrenzbare und intern strukturierte Siedlungsräume einer sprachlichen Minderheit inmitten einer anderssprachigen Mehrheit. Im Normalfall liegen Sprachinseln im Hoheitsgebiet der anderssprachigen Mehrheit, z. B. deutsche Sprachinseln in Ungarn bzw. ungarische Sprachinseln in Österreich. Seltener kommt es vor, dass infolge der Diskrepanz zwischen ethnischer und politischer Grenzziehung u. ä. innerhalb des eigenen Hoheitsgebietes eigensprachige Sprachinseln entstehen im sonst geschlossenen fremdsprachigen Raum wie etwa im deutsch-polnischen Kontaktgebiet im früheren Deutschen Reich oder ungarische Sprach- (keine Dialekt-)inseln im geschlossenen rumänischen Staatsgebiet, aber im ungarischen Staatsgebiet vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Sprachinsel ist gleichzeitig Enklave (in Bezug auf den Staat bzw. die Nationalsprache[n] des Staates, dem sie räumlich-politisch angehört) und Exklave (in Bezug auf den Staat bzw. die Staaten und dessen/ deren Nationalsprache, dem bzw. denen sie ethnisch, sprachlich und – mindestens zum Teil – auch kulturell in genetischer Hinsicht zuzuordnen ist). Einen Sonderfall bilden die Sprachinseln jener Gruppen, die nur Enklaven sind, da ein politisch etabliertes Hinterland ihnen abgeht, z. B. einige räumlich abgrenzbare Zigeunergruppen in vielen Staaten der Erde.

Laut der Zusammenfassung bei W. Kuhn hat die deutsche Sprachinselforschung als Disziplin die gesamtheitliche Erforschung und Darstellung der deutschen Sprachinseln als geschlossener, wohlabgegrenzter Lebenseinheiten zum Gegenstand. Die linguistische Erforschung der deutschen Sprachinseln bildet zugleich einen Teil der deutschen Dialektologie und – bes. dank den Kontaktforschungen – der allgemeinen Sprachwissenschaft. Die Bezeichnung (wie auch der Begriff) ,Sprachinsel’ gehört heute fest zu der Terminologie der Linguistik in der ganzen Welt, und die in der (deutschen) Volkskunde gelegentlich vertretene Meinung, sie sei politisch diskreditiert, kann linguistischerseits nicht akzeptiert werden.1

Wenn wir davon ausgehen, dass die ungarländischen Minderheiten sprachlich gesehen in einer „Sprachinsel-Situation“ existierten, dann sind auch die für die Sprachinsel charakteristischen Entwicklungstendenzen zu beobachten. Im Prozess der Ansiedlung (Umsiedlung), Mischung und des Ausgleichs haben sich ihre Dialekte entwickelt, wobei die ausschlaggebenden Impulse aus der Sprache der Mehrheit, aus dem Ungarischen kamen, so eine Art Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit fördernd.

Sprachgebrauch und Identität sind bei den ungarländischen Minderheiten grundlegende Fragen. Oft ist man der Meinung, dass bei der Bestimmung einer nationalen Minderheit der aktuelle Sprachgebrauch, der jeweilige Sprachzustand die relevantesten Kennzeichen sind. Da Sprachgebrauch auch für die Tradition der Volkskultur, für mündliche und schriftliche Weitergabe besonders der Folklore bedeutend ist, kann man ohne weiteres behaupten, dass die Untersuchung des Sprachgebrauchs, der Sprachaktivitäten, des Sprachzustandes einer Minderheit auch über die Existenz ihrer Volkskultur aber auch über ihre Identität wichtige Informationen enthalten kann.

Untersucht man die Zusammenhänge zwischen Sprachgebrauch und Identität bei der größten Minderheit in Ungarn, bei den Ungarndeutschen, so kann man erstens über den Sprachgebrauch folgendes feststellen:

Die in Ungarn angesiedelten Deutschen sprachen verschiedene mittel- und süddeutsche Dialekte. Nach der Ansiedlung vereinheitlichten sich diese oft am gleichen Ort unterschiedlichen Dialekte durch komplexe Sprachausgleichprozesse zu Mischmundarten. Diese Ortsdialekte bildeten bei der überwiegenden Mehrheit vieler Generationen der Deutschen in Ungarn bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts das primäre Kommunikationsmittel.

Die Entwicklung einer über der jeweiligen Mundart stehenden Ausgleichsform, einer Verkehrssprache, oder deren annehmbarer ad-hoc-gebrauch war bei der Lebensweise und der äußerst geringen Mobilität der Deutschen in Ungarn teils nur an bestimmte zeitweilige Anlässe, teils an das Geschlecht gebunden. Gewisse, meistens zeitlich begrenzte Aktivitäten, wie die Militärzeit bei den Burschen, die Dienstzeit der jungen Mädchen in anderen Ortschaften oder auch die Begegnungen auf den Monatsmärkten, boten lediglich begrenzte Möglichkeiten zu einem sprachlichen Ausgleich. Die Kenntnis der Hochsprache, die auf der Kanzel und in der Schule sowohl in gesprochener als auch in geschriebener Form vertreten war, zeigte sich bei der Mehrheit der Deutschen in Ungarn eher auf rezeptiver als auf produktiver Ebene.

Die ungarische Sprache übt seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einen immer stärkeren Einfluss auf die Kommunikation der Deutschen in Ungarn aus. Zu beobachten ist dies einerseits durch die in den hiesigen deutschen Dialekten immer häufiger auftretenden ungarischen Lehnwörter, andererseits an den – insbesondere seit dem zweiten Weltkrieg – immer umfassenderen und stabilen Ungarischkenntnissen bzw. am ungarischen Sprachgebrauch der Deutschen in Ungarn.2

Der Sprachgebrauch des Alltags, sowie die immer stärkere Verbreitung der ungarischen Sprache wird bei den Deutschen in Ungarn seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts weitgehend durch die lokalspezifischen wirtschaftlichen und kulturellen Notwendigkeiten bestimmt, sowie durch die allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozesse jener Zeit, so der Industrialisierung, der Urbanisation, durch den ständig wachsenden Ausbau des Verkehrsnetzes und damit verbunden durch die steigende Mobilität von Bevölkerungsschichten. Der soziale Aufstieg jeglicher Art war schon zu jener Zeit an die Kenntnis der ungarischen Sprache gebunden, wodurch sich auch die Vorherrschaft der ungarischen Sprache abzeichnete.

Wohlgemerkt, der Einfluss der ungarischen Sprache war bis 1945 in großem Maße von bestimmten territorialen, siedlungspolitischen und geographischen Gegebenheiten abhängig: in Streusiedlungen, in der Nähe von Großstädten und Industriezentren, sowie entlang der wichtigsten Verkehrsadern vollzog sich dieser Prozess viel schneller als in den überwiegend von Deutschen bewohnten, territorial zusammenhängenden, kompakten Regionen oder fernabliegenden Siedlungen.

Die Mundarten der Deutschen in Ungarn wurden in unserem Jahrhundert, aber besonders nach der Vertreibung, allmählich zurückgedrängt. Die eingeschränkte Reichweite des Dialekts bedeutete schon immer ein Problem in der Alltagskommunikation. Die bairischen, schwäbischen, fränkischen (rheinfränkischen und ostfränkischen) Dialekte gleichen sich in größeren Regionen aus, doch die Mundartsprecher kannten und gebrauchten die deutsche Hochsprache kaum. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich eine eigen- artige Sprachschichtung abzeichnen: während in den einzelnen Siedlungen der lokale Dialekt gesprochen wird, bildeten sich in den größeren Regionen (Westungarn/Nyugat-Magyarország, Ofner Bergland/Budai-hegyvidék, Plattensee-Oberland/Balaton-felvidék, Tolnau/Tolna, Branau/Baranya) regionale Dialekte heraus, die zahlreiche Elemente der hochdeutschen Verwaltungssprache übernahmen. Die Rolle der Hochsprache konnte von der deutschen Hochsprache – bis auf den Gebrauch in der Kirche – nicht übernommen werden; ähnlich zu anderen Minderheiten in Sprachinseln, wurde diese Rolle von der ungarischen Literatur- und Gemeinsprache übernommen. Das Verhältnis von Dialekt und Hochsprache zeigte also ein eigenartiges Bild bei den Deutschen in Ungarn. Das jahrhundertelange Zusammenleben mit den Ungarn, das nicht ausgebaute deutschsprachige Schulwesen dieser Minderheit, die Abgeschiedenheit von der deutschen Gemeinsprache, beeinflussten die Entstehung dieser eigenartigen Situation weitgehend. Unser Jahrhundert ist für die Dialektsprecher das Jahrhundert des Sprachverlustes. Aus bekannten historischen Ursachen nach 1945 wurde der Dialekt in die kleinsten, privaten Sprachgemeinschaften zurückgedrängt und wurde Teil eines sog. inneren Identitätsbewusstseins. Der Dialekt war ein Kommunikationsmittel, der in Anwesenheit von Fremden äußerst selten oder gar nicht benutzt wurde. Auch der Sprachunterricht konnte diese Situation nicht bewältigen und baute in den 60er Jahren nicht auf evtl. dialektophone Kenntnisse der Schüler.3

Wie wichtig der Sprachgebrauch in der Identitätsprägung ist, wurde bereits im 19. Jahrhundert von bedeutenden Persönlichkeiten betont, bzw. es wurden Maßnahmen unternommen, um die ungarndeutschen Traditionen (mundartliche und hochsprachliche) aufzubewahren bzw. weiterzugeben. Fast unwillkürlich bedeutete dies zugleich die Anfänge der Erforschung der Volkskunde der Ungarndeutschen.

Der aus Pinkafeld (Westungarn) stammende und in Fünfkirchen wirkende Lyzeallehrer M. Haas (1810–1866) verfasste eine Monographie über einen Teil der Schwäbischen Türkei (Baranya ismertetése), und als er 1859 Szathmarer Bischof wird, da regt er die Pfarrer und Lehrer seiner engeren westungarischen Heimat zu volkskundlicher Sammelarbeit an, und lässt diesen auf eigene Kosten Fachzeitschriften volkskundlicher Art zuschicken. In kurzer Zeit hatte er umfangreiches Material von Liedern, Spielen, Sprüchen, Sitten und Bräuchen zusammengebracht. Herausgeben konnte er seine Sammlung wegen seines frühen Todes nicht. Um die Mitte der 60er Jahre gab des Bischofs Landsmann und Zeitgenosse, der Benediktinerpriester R. Sztachovics seine Brautsprüche und Brautlieder auf dem Heideboden in Ungern (Wien 1867) heraus. In seinem Vorwort schreibt er folgendes: „Bald werdet ihr auch Eure alten vollständigen geistlichen Gespiele in den Händen haben, als: das ganze Weihnachtspiel samt allen Euren Weihnachtsliedern, und den Sterngesang, mit Frag’ und Antworten, das letzte Gericht, den reichen Prasser, die vier letzten Dinge und wenn möglich auch das schöne Passionsspiel.“4

 

2. Sprachgebrauch und soziologische Stratifikation

Untersucht man den Sprachgebrauch der verschiedenen sozialen Schichten der Ungarndeutschen, so kann man feststellen, dass das mündliche und schriftliche Tradieren der Volkskultur verschiedenartig erfolgte. Da sind die regionalen Unterschiede auch ausschlaggebend. Wo neben dem Bauerntum eine starke Handwerkerschicht bzw. auch eine deutschsprachige Intelligenz existierte, ist die für die Identität wichtige sprachliche Tradition vielfältiger und bunter.

Die sprachlichen Erhebungen in den 60er/70er Jahren in Westungarn zeigten, dass diese Region, durch die Nähe des zusammenhängenden deutschen Sprachgebietes, durch die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen bis in die 20er Jahre dieses Jahrhunderts eine Tradition pflegte und aufbewahrte, die zur Bewahrung der Identität der einzelnen Schichten bedeutend beigetragen hatte. Sehen wir uns den Sprachzustand von Westungarn näher an: auf Grund des Dialektgebrauchs bzw. der Verwendung von Dialekt/Verkehrssprache/ Hochsprache wurden schichtenspezifische Kennzeichen (Entwicklungstendenzen) festgestellt, die auch in der Weiterführung der Tradition eine wichtige Funktion hatten: Die Bauernmundarten wurden unter der bäuerlichen Landbevölkerung im Verkehr untereinander gesprochen und zeigten eine weitere Stufung in Abhängigkeit davon, wie weit der Übergang zum Ungarischen in den einzelnen Ortschaften gekommen ist. Die primären Merkmale der deutschen Mundarten in Westungarn wurden in diesen Mundarten beibehalten. Dieser reinen Dorfmundart bediente sich die ältere Generation. Die mittlere Generation passte sich mehr der Stadtmundart an (zu dieser Schicht gehörten jene, die die bäuerliche Arbeit nur als Nebenbeschäftigung betrieben und meistens in den naheliegenden Städten als Industriearbeiter tätig waren). Es geht hier eigentlich um die Frage des sprachlichen Mehrwerts, der Gemeinschaftsnorm. Hier wirkten zwei Komponenten: Für den ganzen Sprachraum war die Wiener (ostdonaubairische) Verkehrssprache entscheidend, aber im unmittelbaren Strahlungsgürtel der westungarischen Städte deren Mundart.

Die Fach- und Berufssprachen waren nie bestrebt, sich aus den Banden der jeweiligen Ortsmundart in ihrer grammatischen Struktur zu entfernen. Die Sprache der Fischer, Kerzengießer, Lebzelter und Schlosser bzw. Sattler unterschied sich hauptsächlich in ihrem spezifischen Wortschatz und spielte in der allgemeinen Sprachentwicklung eine Rolle, insofern ihre Träger Lautstruktur und Grammatik ihrer angestammten Mundart in entfernte Gegenden mitnahmen und in dieser Weise den Ausgleich zwischen den einzelnen Gruppen förderten. In Westungarn war für diese Schicht auf dem Lande charakteristisch, dass die Handwerker als gebürtige Dorfeinwohner kürzere oder längere Zeit – um das Handwerk zu erlernen – in den kleinen Städten verbrachten, dann aber – um ihre Kenntnisse zu erweitern – ins Ausland, besonders nach Österreich, nach Wien zogen und später in ihren Heimatort zurückkamen, sich dort niederließen. Ihre Sprache erhielt also ihr Gepräge von einer Stadtmundart – meistens von der Ungarisch-Altenburger/Magyaróvár, Wieselburger/Moson, Ödenburger/Sopron bzw. Günser/Kőszeg Stadtmundart – und übernahm die Vermittlerrolle zwischen der Ortsmundart und der Wiener Verkehrssprache. Elemente der Ortsmundart tauchten in diesen Gruppensprachen ständig auf. Es waren meistens sprachliche Formen, die zum Grundwortschatz der Ortsgemeinschaft gehörten und von dem Sprecher unbewusst gebraucht wurden.

Die Sprache der Städte in Westungarn musste gesondert behandelt werden. Ursprünglich wurden hier drei Schichten auseinandergehalten: die Bauern, die Handwerker und die Intelligenz. Eine Umgruppierung zeigte sich in den 60er Jahren: Durch die Industrialisierung und die Herausbildung der großen Staatsgüter nahm die Zahl der Handwerker und Bauern bedeutend ab, und es bildete sich eine neue Schicht, die der damaligen Genossenschaftsbauern und Industriearbeiter, die aber noch Reste der bäuerlichen Lebensform bewahrt haben. Ihre Sprache bewahrte zum Teil die Kennzeichen der Ortsmundarten, primäre Merkmale dieser Ortsdialekte wurden generationsbedingt gebraucht. Sie sagten für Mutter ‘muata’, aber für zwei ‘zwaa’ und nicht wie in den Ortsdialekten zwoa. (Die Verbreitung der a-Formen zeigt den großen Einfluss der ostdonaubairischen Verkehrssprache. Eigentlich bestimmte die Sprache der Handwerker den Charakter der Stadtmundart, denn diese Schicht bildete noch vor 60–80 Jahren die Hauptmasse der Einwohner.)

Die Sprache der Intelligenz (sowohl auf dem Lande als auch in den Städten) nahm auch eine spezifische sprachliche Situation ein. Sie charakterisierte eine vollständige Auslese echter Mundart und Aneignung der Wiener Verkehrssprache. Diese wurde von ihr als Norm angestrebt. Durch dieses Eindringen der ostdonaubairischen Verkehrssprache wurde die mundartliche Fläche „reihenschrittlich“ aufgelöst, was die allgemeine Tendenz der Sprachentwicklung in diesem Raum kennzeichnete. Es handelte sich dort um einen sprachlichen Vorgang, demzufolge die Mundarten die primären Merkmale aufgaben und einen Ausgleich anstrebten.

Elemente der Dorfmundart gehörten jedoch zum passiven Wortgut der Intelligenz, deren sie sich aber nur als Stilmittel bediente, wenn sie jemanden von der Bauernschicht charakterisieren wollte. Sie sagte also ‘Bedienerin (Dienstmädchen)’ für mundartliche Tian ‘Dirne (Dienstmädchen)’, ahmte aber die Sprechweise der Bauern nach, indem sie Koas ‘Geiß (Ziege)’ oder tuif ‘tief’ sagte. Bei dieser Schicht hatten die primären Merkmale der Mundart einen pejorativen Sinn erhalten. (In einigen Dorfmundarten galten die alten Formen auch unter den Bauern als pejorative Stilmittel. Wollte man etwa einen dummen Bauern charakterisieren, betonte man besonders die primären Merkmale. Es wurde damit das Tölpelhafte, Bäuerliche, das Derbe hervorgehoben. In Ragendorf/ Rajka wurde eine Ortsgeschichte über die Statue des heiligen Sebastian – erzählt. Die Grundform der Geschichte war in Westungarn weit verbreitet: es handelte sich um das Ersetzen der gestohlenen Sebastian-Statue durch eine lebendige Person. Die Geschichte wurde nicht in der typischen ostdonaubairischen ui-Mundart erzählt, sondern in der westungarischen deutschen Verkehrssprache. Aber die Dialoge oder der pejorative Teil der Geschichte [z.B. wie die lebendige Person – statt der Statue – darauf reagierte, dass gläubige Frauen zwischen ihre Zehen brennende Kerzen stellten, und die dann abgebrannt Schmerzen auslösten] wurden in der Ortsmundart zitiert.) Man unterscheidet im Erzählen zwischen Pui/Pua ,Bube’, fügt aber hinzu, dass Pua eine „bessere Form“ sei: „Wir bleiben bei pui, das ist unsere Muttersprache“. Hier bezeichnet der Gebrauch der primären Merkmale die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Im Gespräch eines Bauern mit einem Stadtbewohner geht es wieder um die ua-Form. Die Tendenz der inneren Sprachentwicklung wird hier durch die äußeren Triebkräfte vorangetrieben.

Es sei noch eine, aus sprachsoziologischer Sicht wichtige Erscheinung erwähnt. Im engeren Kreis der Dorfintelligenz ließ sich auch unter den die Bauernmundart Sprechenden eine Tendenz „besser zu sprechen“ beobachten, d. h. gemäß der lokalen Norm, in diesem Fall gemäß der Sprache der Intelligenz. (Als Beispiel könnte die im Ort geborene Frau eines Schulmeisters in Kaltenstein/Levél erwähnt werden. Als sie eine bäuerliche Arbeit erklärte, sprach sie eine Bauernmundart, sobald es sich um allgemeine Themen handelte, richtete sie sich nach der Sprache ihres Mannes, sowohl im Lautstand als auch im Wortschatz. Es entstand in ihrem Sprachgebrauch eine Symbiose verschiedener sprachlicher Elemente, die den Ausgleich zugunsten der ostdonaubairischen Verkehrssprache als Folge hatten.)5

 

3. Sprachgebrauch und schriftliche Überlieferung

Das reiche volkskundliche Material aus Westungarn zeigt die schichtenspezifische Aufbewahrung der folkloristischen bzw. schriftlichen Tradition. Wenn man den Sankt Johanner Kodex sprachlich untersucht, da kann man feststellen, dass es sich zwar um eine Abschrift handelt, aber durch das öftere Abschreiben änderten sich die Vorlagen und auch orts- bzw. verkehrssprachliche Traditionen auch erschienen.

Die Verse 10–12 berichten über die Erbsünde. Vers 11 enthält eine für die ostdonaubairischen Mundarten charakteristische Wendung für „schnell, hastig“ in Hui, was den Sprachgebrauch des Abschreibers widerspiegelt.

 

10. Ein Paradies erschuf Gott schen,

der Baum des Lebens in Mitten stehn,

Adam aß seine verbotene Frucht,

drum war er und wir all’ verflucht;

11. Ein einig’ Sünd’ hat Adam getan

in Hui der Tod kam über ihn,

du sündigst stets-begehrst darneben,

viel’ Jahre hie und dort ewig leben;

 

12. Eine Taube ließ Noah fliegen hin,

Wie ‘s Wasser viel zu werden schien,

am Abend spät sie wieder kam,

in ihrem Schnabel ein’ Ölzweig hat;

 

Der St. Johanner Kodex ist ein Sprachdenkmal des Deutschen in Ungarn. Für das Verstehen des Tradierens dieser Art ist es wichtig, die kurze Geschichte des Kodex zu umreißen: In Westungarn, zwischen der Donau und dem Neusiedlersee, auf dem sog. Heideboden/Mosoni síkság, war eine deutsche Minderheit zu Hause, die sich durch ihre Frömmigkeit, durch das Festhalten an dem Glauben besonders hervorgetan hatte. Es handelte sich um katholische und evangelische Deutsche, die zahlreiche geistliche Spiele bewahrt haben, und bei denen auch die Heilige Schrift in großer Ehre gehalten wurde. In 5-6 Dörfern dieser nordwestungarischen Ecke hat sich eine reiche, in Ungarn fast alleinstehende, Bauernkodex-Literatur entwickelt, mit der sich die Forschung in der Vergangenheit nur sporadisch befasst hatte. Im 19. Jahrhundert sammelte der Benediktiner Remigius Sztachovics in diesem Landstreifen viele handschriftliche Bücher, Hefte, die er dann in der Bibliothek seines berühmten ungarischen Benediktinerordens in Martinsberg/Pannonhalma aufbewahrt hatte. Eine erste Beschreibung der Bücher – nur inventarmäßig – verdanken wir ebenfalls einem Benediktiner, Severin Kögl, der 1941 Inhalt und äußere Form der Handschriften den Forschern zugänglich machte.

Wir können einen engen Zusammenhang zwischen der Entstehung und Aufbewahrung der Bücher, sowie der Wirtschaftsstruktur des Gebietes entdecken. Die Türkenherrschaft hat dieses Gebiet wegen der glücklichen geographischen Lage des ehemaligen Komitats Wieselburg/Moson nicht entvölkert, wodurch keine planmäßige Kolonisation notwendig wurde. In den 50er Jahren konnte man noch bei den zurückgebliebenen Deutschen Bauernhöfen mit sehr alter Tradition vorfinden. Auch die Verteilung des Bodens im Komitat war günstig für die Bauern. 65 % der Äcker und Wiesen waren im Besitz der Urbarialbevölkerung. Dies ist für Transdanubien eine eigenartige Erscheinung. Hinzu kommt noch die gute wirtschaftliche Verbindung nach Wien, die Belieferung des Wiener Marktes. Alles Zeichen eines verhältnismäßig konsolidierten, wohlhabenden Bauerntums.

Fast in jeder Bauernfamilie war ein handschriftliches Buch vorhanden, oft Abschriften eines Originals, versehen mit persönlichen Anmerkungen, ergänzt mit Liedern, Sprüchen, Rezepten etc. Auch Abschreiber und Verfasser der Bücher wurden angegeben, nicht selten gaben die Schreiber auch ihren Beruf an. Die Bauernbücher dienten vor allem der Unterhaltung und seelischen Erbauung der Familien, weniger kirchlichen Zwecken. Im 19. Jahrhundert war es auf dem Heideboden überall verbreitet, dass das Familienoberhaupt am Sonntagnachmittag das mit der Hausmarke versehene Buch hervornahm und daraus mit seiner Familie die alten Lieder sang, oder aus den Spielen Teile vorlas. Es gehörte zur guten Tradition einer Bauernfamilie, diese Bücher aufzubewahren und weiterzuführen. Zur Zeit der Geländearbeit in den Jahren 1968–70 fand man noch auf den Dachböden einige handschriftliche Bücher, in die sogar in den 50er Jahren noch etwas hineingeschrieben wurde. Aber die in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts noch im Familienbesitz vorgefundenen Bücher waren nicht mehr reichlich illustriert, sondern einfache Abschriften der schön gestalteten Handschriften. Wie sehr der Inhalt dieser Bücher lebendig war, beweist auch die Tatsache, dass 1970 ältere Frauen die Lieder (deren Noten nicht aufgezeichnet waren) aus den handschriftlichen Büchern auf Tonband singen konnten. Eigentlich sind die Texte der handschriftlichen Bücher von deutschen Originaltexten kopiert und mit Ergänzungen versehen.

Zwei grundlegende Werke wurden abgeschrieben, bzw. während des Abschreibens auch gewissermaßen neu gestaltet: Das eine Buch war 1560 in Wittenberg erschienen: Nikolaus Hermann „Evangelia auf alle Sonn- und Fest-Tag in gantzen Jar...”, das andere stammt von Jakob Bohr „Geistlicher Glückshafen”. Hermann war Protestant, Bohr Katholik. Eigenartig ist, dass diese katholisch-protestantischen Schriften sowohl in den katholischen Gemeinden (St. Peter, St. Johann – heute ung. Jánossomorja –, Zanegg/Mosonszolnok) als auch in den protestantischen Dörfern (Kaltenstein/Levél, Straßsommerein/ Hegyeshalom, Ragendorf/Rajka) bekannt und gelesen wurden. Die protestantischen Vorlagen sind sicher während der Glaubensverfolgung, durch schwäbische Exulanten in diese Dörfer gelangt. Es ist ja bekannt, dass oft Gruppen mit ihren Lehrern und Priestern die Flucht ergriffen, und sicher auch ihre religiösen Bücher mitgenommen haben. Außer den oben erwähnten Werken kommt noch die Nürnberger Bibel als Vorlage hinzu.

Alle Forscher, die dieses westungarische Gebiet gut kennen, stellen die berechtigte Frage, wie kam es dazu, dass in einem Landstreifen, durch den die wichtigsten Verkehrswege führten, in dem reger wirtschaftlicher Verkehr und Handel herrschte, eine Gemeinschaft lebte, die eine Handschriften-Tradition des 16–17. Jahrhunderts bis ins 19–20. Jahrhundert hinein aufbewahrt und sogar pflegend aufbewahrt hatte. Die Aufzeichnungen über das Wirtschaftsleben beweisen eine äußerste Beweglichkeit der Heidebauern. („...mache ihnen zu wiessen, wie viel for früheren Jahren nach Steiermark gefahren sind...”) Trotz dieser Beweglichkeit ist der Heideboden ethnographisch gesehen ein relativ geschlossenes, einheitliches Gebiet, er bildet eine kulturelle, wirtschaftliche Einheit. Besonders was die geistige Kultur der hiesigen Deutschen betrifft, kann eine Absonderung vom Westen beobachtet werden. Durch diese Abgeschlossenheit der geistigen Kultur lässt sich erklären, dass Sagen, Lieder, Spiele hier viel länger erhalten blieben als im Westen oder im Osten vom Heideboden. Es lässt sich eine Art Konservativismus bei der Bevölkerung beobachten (auch z. B. in der Volksnahrung). Sie bereisten zwar viele Länder, brachten aber selten etwas Neues mit. S. Kögl schreibt : „Seit Jahrzehnten pilgern sie nach Mariazell, es kam aber noch nie vor, dass sie ein neues Lied mit sich gebracht hätten.”

Von den mehreren handschriftlichen Büchern ist der sog. Sankt Johanner Kodex aus 1808, geschrieben von Johann Anton Lang, bedeutend.

Die Sankt Johanner Handschrift ist ein in Leder und Holztäfelchen gebundenes Buch mit Querformat, es umfasst 569 Seiten, 51 hochrangige Illustrationen, viele schöne Initialen und die Kapitel abschließende Schlussbilder. Ursprünglich war es mit zwei Kupferschlüsseln versehen, wovon leider nur der eine übrigblieb. Der Verfasser verewigte sich sowohl auf der Titelseite als auch in jeder Illustration mit seinem Namen. Auf den Seiten 220 und 292 steht folgendes: „Geschrieben Andony Johannes Lang in Zanegg in der Kayserlich, König Alten Salliterey No. 1. Anno 1808.” Salliterey bezieht sich auf den Salpeterabbau, der im 19. Jahrhundert fast in jedem Dorf des Heidebodens betrieben wurde. Der Staat ließ durch ausgebildete Arbeiter Salpeter für die Schießpulverindustrie abbauen. Man begegnet oft der Eintragung „Salither Meister”. Heute weisen noch alte Ortsnamen auf die einstige Tätigkeit hin. Der Sankt Johanner Kodex enthält folgende Texte:

 

1. „Der Geistliche Glückshafen” von Bohr, ergänzt mit anderen Liedern.

2. „Ein Anders Lieth.” Singen will ich aus Hertzens Grund.

3. „Ein schene Comedia, von Adam und Eva.”

4. Zwei Lieder von der Hl. Barbara und Katharina, Fragmente aus den Legenden über die Hl. Katharina.

5. „Nützliche Büblische sprich, da ein Jeter Christ, So offt die Uhr schlegt, Etwas Merk würtiges daraus Vernehmen kann.”

6. „Zwey Gultene Kalber”

7. „Das Christi-Geburtspiel”

8. „Das Kribel gespiel”

9. „Das Schuster und Schneider gespiell”

10. „Das Stern Gesang”

11. 16 Lieder (biblische Erzählungen)

12. Rezepten gegen Tierkrankheiten

13. 14 religiöse Lieder6

 

Diese Handschrift wurde und wird auch heute von den Ungarndeutschen dieser Region als Bestandteil der sprachlichen und materiellen Kultur der Bauern- und Handwerkehrschicht betrachtet, und trug bis zur Jahrhundertwende bedeutend zur Identitätsstärkung bei.

 

4. Sprachgebrauch, Sprachpflege und Volkskultur

Verkehrssprache/Dialekt spielten auch beim Tradieren der Volkslieder eine wichtige Rolle. Das Dorfleben in den ungarndeutschen Gemeinden war durch die Einheit von Arbeit, Kirche und Freizeit geprägt, deren Rahmen die Dorfmundart sowie die gemeinsame Kultur (Wirtschaft, Religion, Brauchtum, Familienleben, Unterhaltung) bildeten. Das Singen, Musizieren und Tanzen waren bei allen sozialen Schichten organische Bestandteile des Alltags. Die im Kalenderjahr mit festen Bräuchen verbundenen Feiertage (Weihnachten, Heilige Drei Könige, Erntedankfest usw.) wären ohne Sprüche, Lieder, instrumentale Musikbegleitung unvorstellbar gewesen. Bei Familienereignissen (Hochzeit, Beerdigung), gemeinsam verrichteten Arbeiten (Maisausschälen, Schweineschlachten, „Federschleißen”), kirchlichen Anlässen (Fronleichnam, Kirchweih, Ostern, Pfingsten, König-Stephans-Tag) bzw. Unterhaltungen (Fasching, Bälle) wurde die entsprechende Atmosphäre, der erwünschte Seelenzustand, die allgemeine Stimmung der Anwesenden durch Lieder, Musik eventuell durch Tanz geschaffen.

Von den Ungarndeutschen wird spaßhaft behauptet, dass sie schon singend, tanzend, musizierend zur Welt kommen. Es ist eindeutig festzustellen, dass die ehemaligen Kolonisten eine entwickelte Musiktradition mit sich gebracht haben. Im Ungarn des 18. Jahrhunderts gab es auf dem Lande kaum musikalische Ereignisse. In den Städten existierten Schulkapellen, bei festlichen Anlässen gab es vereinzelt Turmmusik. Erst in den 80er Jahren fingen die Großgrundbesitzer an, Zigeunerkapellen zu engagieren, während jede deutsche Gemeinschaft bereits eine kleine „Vorkapelle” oder ein „Vororchester” hatte. Blasmusik war in Deutschland, Österreich, Böhmen und Mähren schon damals verbreitet. In Ungarn haben erst die Kolonisten diese Art von Musizieren eingeführt. (Östlich von Ungarn sind dörfliche Blaskapellen ebenfalls unbekannt.)

Bei den deutschen Bauern war es Tradition, die Texte (und eventuell die Melodie) der Lieder in sog. Liederhandschriften in der Familie von einer Generation an die andere weiterzugeben. In den Liedertafeln sang man regelmäßig gemeinsam und zweistimmig. Auch die Kirchenlieder wurden oft mehrstimmig vorgetragen.

Die Zunftvereine in den größeren Ortschaften (z.B. Ödenburg/Sopron) hatten alle ihre eigenen Zunftliedersammlungen, während auf ungarischsprachigen Gebieten kaum Berufslieder zu finden sind.

Die Entfaltung der musikalischen Bildung war bei den Ungarndeutschen traditionsmäßig gesichert. Die Kinder und Jugendlichen konnten sich diese Kultur in allen Lebensbereichen aneignen. In der Familie wuchsen sie mit Wiegenliedern, Reimen, Kinderliedern, Volksliedern, Erzählliedern auf. Auch in der Schule wurde bis 1900 deutsch gesungen. In der Kirche, bei Prozessionen, bei Beerdigungen sang und musizierte man ebenfalls. Burschen und Mädchen zogen sonntags singend durch die Straßen.

Ob Hochzeiten oder Bälle – überall lernten sie neue Lieder, neue Melodien kennen. In den Gesangvereinen beschäftigten sich die Lehrer, die Kapläne, manchmal sogar die Ärzte oder Tierärzte mit der musikalischen Erziehung der Heranwachsenden.

Im 19. Jahrhundert entstanden in Ungarn sog. „deutsche Handwerker” (Maurer, Steinmetze, Dachdecker, Glasbläser, Metallgießer, Erzgießer, Dreher, Klempner u.a.). Die ungarndeutschen Handwerkergesellen gingen in der Monarchie und in Deutschland auf die Walz. Durch die deutsche Sprache lernten sie dort eine hohe technische Kultur kennen und wandten diese ebenso wie die handwerklichen Kenntnisse in Ungarn an. Sie brachten aber auch neue Lieder mit sich, die sie der Dorfjugend weitergaben. Aus den kinderreichen Familien verpflichteten sich viele Mädchen in die Städte als Dienstmädchen. Auch sie erweiterten den Liederschatz der Dorfgemeinschaft mit vielen dort erlernten Liedern.

Instrumentale Musik wurde durch unmittelbare Überlieferung von Generation zu Generation weiter gegeben und gepflegt.

Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die meisten deutschen Ortschaften mehrere größere oder kleinere Blaskapellen, die bei den kirchlichen festlichen Ereignissen, bei Beerdigungen oder bei Bällen musizierten. Zu den Hochzeiten wurden oft kleine Musikkapellen, die eine sog. Schrammelmusik spielten, von den Nachbargemeinden geholt.

Jede soziale Schicht, jede Gasse im Dorf hatte ihre eigenen Wirtshäuser, in denen sich die Gleichgesinnten unterhielten. Das Gemeindewirtshaus, mit dem größten Tanzsaal der Ortschaft konnte für 2–3 Jahre gepachtet werden. In diesem Saal wurde seit Anfang dieses Jahrhunderts das Lesefest nach ungarischem Muster in madjarisierender Tracht mit Zigeunermusikbegleitung veranstaltet.

In den Wirtshäusern, die von den Handwerkern besucht wurden, spielte oft schon eine Zigeunerkapelle und hier wurden auch ungarische Lieder (nóta) gesungen.

Da auch der Schulunterricht für die Kinder nach 1900 ausschließlich in ungarischer Sprache ablief (die Ungarndeutschen durften ihre Muttersprache in bloß wöchentlich 2 Stunden erlernen), lernten die Schulkinder dort ungarische Lieder. Im ersten Weltkrieg waren die Soldaten gezwungen, die Lieder des anderen zu erlernen. Kamen Deutsche in ungarische Divisionen, mussten sie ungarische, gerieten Ungarn in deutsche Divisionen, mussten sie deutsche Soldatenlieder mitsingen. Später bei den Übungen der paramilitärischen Organisation „Levente” durfte auch nur ungarisch gesprochen und gesungen werden.

Wie auch schon Béla Bartók und später Ingeborg Weber-Kellermann darauf hingewiesen haben, übernahmen die Volksgruppen vieles voneinander bzw. beeinflussten einander auch unbewusst. Gezielte diesbezügliche Untersuchungen wurden zwar nicht durchgeführt, aber im Repertoire der meisten Gewährspersonen, die oft 30–40–60 deutsche Lieder auf Tonband singen konnten, hätte man sicher eine Menge ungarische Lieder finden können. Oft kam es vor, dass das gleiche Lied sowohl mit einem deutschen als auch mit einem ungarischen Text gesungen wurde. („Einst ging ich vors Fensterlein” = „Jártam ablakid alatt egy holdvilágos éjjelen”, oder „Still ruht der See...” = „Csendes a tó...”).

Es gab auch Beispiele dafür, dass in den beiden Sprachen dieselbe Melodie mit einem Text völlig anderen Inhalts gesungen wurde.

In der Vorkriegszeit gehörte Pflege des ungarndeutschen Liedes zum Gemeinschafts- und Privatleben der Volksgruppe. Die Nachkriegszeit brachte bedeutende Verluste in diesem Prozess mit sich. Die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn, die Auflösung der Dorfgemeinschaften, die Umsiedlungen und nicht zuletzt die Zugehörigkeit zur zurückgebliebenen deutschen Minderheit, die Angst hatte, ihre angestammte Sprache zu sprechen, veränderten das Schicksal des deutschen Liedes. Im familiären Bereich oder in den ganz wenigen Gemeinschaften, in denen Ungarndeutsche in relativ großer Zahl lebten, wurde das ungarndeutsche Lied zu einem Identitätsmerkmal der Nationalität. Man konnte die Jahresbräuche nicht immer vor der Öffentlichkeit als Teil des Gemeindelebens ausführen. Vieles pflegte man im engeren Kreis, nur für sich, für die Familie, für die engere Umgebung gedacht. Dies führte auch dazu, dass trotz bedeutender Bevölkerungsverluste bei den Zurückgebliebenen Pflegen und Tradieren der Muttersprache, der deutschen Volkskultur eine erstrangige Aufgabe wurde. Bis Ende der 50er Jahre können wir über keine organisierte, bewusste Pflege der Folklore sprechen. Erst nach 1958–59 änderte sich die Situation. In dem damaligen sozialistischen System erkannte die Staatsmacht, dass auch für die in Ungarn lebenden Minderheiten eine Art – von oben gelenkte – Interessenvertretung notwendig ist. Es entstand ein Verband der Ungarndeutschen, der seine Aufgabe vor allem darin sah, die noch vorhandene deutsche Volkskultur, vor allem das Lied, den Volkstanz, die Volkstracht durch eine organisierte Verbandsarbeit im ganzen Land wieder lebendig zu machen. Volkstanzgruppen und Chöre etablierten sich, Rundreisen in ungarndeutsche Regionen wurden organisiert, Sammelaktionen wurden staatlich unterstützt. Sogar die damalige DDR dachte in ihrer Kulturpolitik an die Ungarndeutschen. Ethnographen, Volksliedforscher arbeiteten in Ungarn, unterstützt durch bilaterale Kulturabkommen, um an der Rettung ungarndeutschen Kulturgutes teilzunehmen. Es entstand unter der Litung von Kurt Petermann die größte Filmarchivierung ungarndeutscher Tänze und Festbräuche (dokumentiert im Musik- wissenschaftlichen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften), Axel Hesse führte seine großangelegte Volksliedsammlung unter dem Motto „Auf den Spuren von Herder... ” durch. In den 60er Jahren kannte man das Ungarndeutschtum vor allem als tanzende und singende Minderheit. Schwabenbälle in der Ballsaison in Budapest und auf dem Lande, Kulturrundreisen, Wettbewerbe „Reicht brüderlich die Hand” in Komitaten und auf Landesebene dienten der Pflege und Aufbewahrung der Folklore.

Die ehemalige Intention von Remigius Sztachovics und dem Bischof Michael Haas, die deutschsprachige Folklore-Tradition bewusst zu machen, hatte in dieser Zeit Priorität. Es entstanden die ersten Liedersammlungen der Nachkriegszeit: Karl Vargha leitete die Sammlung und Bearbeitung von Fünfkirchen/Pécs aus. Unter dem Titel „Schönster Schatz” (Julius Gottfried Schweighofer) wurden die ersten ungarndeutschen Liedsammlungen veröffentlicht. Texte von Kinderliedern, Reimen und Sprüchen sollten im Deutschunterricht für Nationalitaten verwendet werden. An den Universitäten wurden immer öfters volkskundliche Themen als Diplomarbeit- oder Dissertationsthema vergeben. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf das Liedgut der ungarndeutschen Handwerker gelenkt. Bergmannslieder wurden gesammelt und bearbeitet. Ortsmonographien, Heimatbücher entstanden, und enthalten reichlich Liedmaterial im Dienste der Identitätsstärkung. Paradoxerweise scheint in diesen Jahren der Gebrauch der Muttersprache, d.h. des Dialektes in der Kommunikation zurück zu gehen, aber deutsch wird gesungen, „erzählt“ und „getanzt“.7

 

5. Sprachverlust und Identität

Die schriftlich und mündlich überlieferte Tradition spielte eine wichtige Rolle in der Identitätsprägung der Ungarndeutschen. Natürlich sind bei der Ausbildung der Identität außer Gebrauch der Sprache auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe/ Gemeinschaft und die kognitive Organisation der Umgebung ausschlaggebend. Man kann seine Identität nur auf Merkmale stützen, die als Identifikation von der Umgebung und von den anderen anerkannt werden. Daher ist die Bewahrung der Identität für eine inmitten der fremdsprachigen Umgebung lebende Minderheit, die sich in dieser fremdsprachigen Umgebung ständig behaupten muss, eine komplizierte, schwierige Aufgabe.

Unser Ziel war die Zusammenhänge des Sprachgebrauchs und der Volkskultur aufzuzeigen, und nicht zu verschweigen, dass die Ungarndeutschen sich heute im Stadium des Sprachwechsels, des Sprachverlustes, oder wie C. J. Hutterer es treffend formulierte in der Entdeutschungsphase befinden. Der Dialekt wird zum großen Teil aufgegeben, ist nur mehr alterssprachlich oder erinnerungssprachlich vorhanden, die deutsche Standardsprache wird erlernt, das Ungarische hat bereits früh die Rolle der „Hochsprache“ übernommen.

Durch die bekannten historischen Prozesse8 ist es zu erklären, dass sich der Deutsche in Ungarn als Mitglied der ungarischen Gesellschaft, aber auch zugleich als Zugehöriger seiner deutschen Minderheit fühlte. Dadurch entstand die charakteristische Doppelidentität der Ungarndeutschen. Ähnliches lässt sich auch unter den anderen historischen Minderheiten in Ungarn beobachten. Die Bewahrung dieser Doppelidentität der ungarländischen Minderheiten kann sowohl für Ungarn als auch für Europa ein echter Gewinn werden.

Was für eine Rolle in diesem Prozess den sprachlich noch vorhandenen Traditionen zukommt, werden in den nächsten Jahren die sprachpolitischen Ambitionen der Minderheit aufzeigen. Die Dialektologie und Volkskundeforschung hat weiterhin die Aufgabe, das sprachlich Tradierte zu untersuchen, zu beschreiben und der jeweiligen Minderheit (Gemeinschaft) zur Stärkung ihrer Identität zur Verfügung zu stellen.

 

Anmerkungen

1

Vgl. Hutterer, C. J.: Sprachinselforschung als Prüfstand für dialektologische Arbeitsprinzipien. S. 100ff. In: Hutterer, C. J.: Aufsätze zur deutschen Dialektologie. Tankönyvkiadó, Budapest S. 100ff. — Kuhn, W.: Deutsche Sprachinselforschung. Geschichte, Aufgaben, Verfahren. Plauen 1934. S. 13.

2

Vgl. Erb, M.: Ungarische Lehnwörter in den neueren deutschen Sprachinseln Ungarns bis 1945. Hs. Dissertation. ELTE Germanisztikai Intézet/Germanistisches Institut, Budapest 1997.

3

Vgl. Manherz, K.: Die Ungarndeutschen. Útmutató Verlag. Budapest 1999, S. 65.

4

Vgl. Manherz, K.: a.a.O., S. 65.

5

Vgl. Manherz, K.: Sprachgeographie und Sprachsoziologie der deutschen Mundarten in Westungarn. Akadémiai Kiadó. Budapest 1977.

6

Vgl. Manherz, K.–Boross, M.: Der Sankt Johanner Kodex. Pytheas Verlag, Budapest 1989.

7

Vgl. Manherz, K.: Das ungarndeutsche Lied in Tradition und Pflege. In: Festschrift für Vilmos Voigt. Budapest 2000.

8

Vgl. Mirk, M.: Sprachgebrauch in Pilisszentiván/Sanktiwan bei Ofen. In: Ungarndeutsches Archiv 1. S. 99ff. Budapest 1997. — Sewann, G., Ungarndeutsche und Ethnopolitik. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von der Landesselbstverwaltung der Ungarn-deutschen. S. 129ff. Osiris/MTA Kisebbségkutató Mûhely/LdU Budapest 2000.

  

Károly Manherz ist einer der Gründungsprofessoren des Wissenschaftlichen Beirates und des Stiftungsrates des Europa Institutes. Die Präsentation seines Buches „Volkstrachten der Ungarndeutschen” veranstaltete das Europa Institut in der Ungarischen Akademie der Wissenschaften am 8. Juni 2000. Vorliegender Wortlaut ist literarischer Ausdruck der während der Präsentation geäußerten Gedanken.