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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:33–37.

GYÖRGY LITVÁN

Die Sozialdemokratie in der Ungarischen Revolution von 1956

 

Als Ausgangspunkt habe ich die These des ungarischen Soziologen András Kovács gewählt: die Sozialdemokratie als Partei spielte 1956 nur eine geringe und verspätete Rolle, aber ihre Ideen und Persönlichkeiten haben in dem Revolutionsprozess eine bedeutende Rolle gehabt. Ich möchte ganz kurz über die beiden Seiten etwas sagen.

Die führenden sozialdemokratischen Politiker von allen Schattierungen wurden in den stalinistischen „fünfziger Jahren” eingekerkert, vielleicht auch in größerem Maße als die Repräsentanten anderer nichtkommunistischer Parteien – oder die Kommunisten selbst, die auch ihrem eigenen Regime in großen Zahlen zum Opfer fielen.

Ihre Freilassung wurde, nach Stalins Tod, 1954 angefangen, dauerte aber bis März 1956. Ironischerweise wurde die sogenannte Rechtssozialistin Anna Kéthly, die höchste Autorität der ungarischen Sozialdemokratie, dank der britischen Intervention bei Chruschtschow, als erste freigelassen, während der sogenannte „linke Sozialdemokrat” – besser Kryptokommunist – György Marosán, der Hauptverräter der SDP, bis zum Frühjahr 1956 sitzen musste.

Die freigelassenen Sozialdemokraten fanden nach ihren ungeheuren Erlebnissen dasselbe Regime, aber eine völlig neue Situation vor. Schon 1953, nach einer starken Kritik seitens Stalins Nachfolger an der ungarischen Parteileitung, wurde die Regierung von Imre Nagy übernommen.

Zwei Jahre später wurde er infolge seiner antistalinistischen Reformen als Rechtsopportunist abgestempelt und abgelöst, aber die Rückkehr des Diktators Mátyás Rákosi konnte die alten Verhältnisse nicht wiederherstellen. Imre Nagy blieb weiterhin der Held und die Hoffnung des Volkes, und um seine Person und sein Programm ist eine immer stärkere reformistische Strömung und eine Oppositionsgruppe innerhalb der Partei entstanden. Diese Strömung begab sich allmählich in volle Offensive.

Was für eine Opposition war das, mit den Augen von Anna Kéthly und ihrer Genossen gesehen? Mit dieser Frage kommen wir zum Verhältnis der Sozialdemokraten und der Reformkommunisten der Imre Nagy-Gruppe. Obzwar diese Opposition, diese Gruppe, die später die offizielle Bezeichnung „Revisionisten” verdiente, sich in ideologischer Hinsicht an die Sozialdemokratie näherte, war sie von ihrer kommunistischen Tradition aus eher antisozialdemokratisch eingestellt.

Imre Nagys Anhänger haben zu dieser Zeit das Prinzip des Mehrparteiensystems noch gar nicht angenommen. Sie wollten bis zur Koalitionsperiode der Nachkriegsjahre nicht zurückkehren und, was vielleicht noch schlimmer war, sie hatten persönliche oder politische Kontakte eher mit den sog. linken Sozialisten, wie Zoltán Horváth, Sándor Szalai, Pál Ignotus. Sie waren im Aufschwung, waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, und kümmerten sich wenig um die noch immer gelähmten Opfer des Einparteiensystems.

Oder kümmerten sie sich doch? Es gibt einige Legenden in verschiedenen Memoiren – und auch in den Polizeiaufzeichnungen – über die vorrevolutionären persönlichen Kontakte zwischen Kéthly und Nagy. Wenn wir aber die relativ zuverlässigen Quellen, Erinnerungen, Verhörprotokolle und Anna Kéthlys Korrespondenz benützen, können wir nur ein einziges Treffen zwischen Kéthly und den Mitgliedern der Nagy-Gruppe, und zwar Géza Losonczy und Sándor Haraszti feststellen. Das geschah im Frühherbst 1956 in der Wohnung des Schriftstellers Lajos Hatvany, und hatte kaum ein Ergebnis.

Mit Nagy selbst hatte Kéthly zu dieser Zeit unseres Wissens nach keine persönlichen Kontakte, obzwar sie einander kannten und seit 1945 sogar miteinander sympathisierten. Derzeit wurden aber die beiden überwacht, und, was noch wichtiger ist, sie hatten verschiedene Zielsetzungen.

Kéthly und ihre Genossen stellten für ihre politische Reaktivierung die klare Bedingung einer wiederhergestellten SDP, innerhalb eines pluralistischen parlamentarischen Systems. Daran scheiterte schon früher ein offizieller Versuch der MDP (d.h. der Kommunistischen Partei und deren Vertreter Károly Kiss) ihr eine Scheinposition und -rolle in der Patriotischen Volksfront anzubieten. Anna Kéthly hat das eindeutig zurückgewiesen. Etwas ähnliches geschah – obzwar in einer freundlicheren Atmosphäre – mit den Freunden und Anhängern von Imre Nagy, und das war im Wesentlichen unvermeidlich, da diese Gruppe natürlich keine revolutionäre Perspektive hatte. Was Anna Kéthly wie auch kein anderer nicht ahnen konnte, war die Fähigkeit von Nagy und seiner Gruppe, ihre Schatten überspringen zu können. Bis 1956 waren sie Reformer, kämpften für die Liberalisierung und Humanisierung des Einparteiensystems. Sie stellten sich eine Nagy-Regierung vor, mit einer beschränkten Einbeziehung einiger Repräsentanten der ehemaligen Koalitionspartner: der Kleinlandwirte, der Populisten, der Sozialdemokraten.

Vor dem 23. Oktober waren also Anna Kéthly und die anderen wahren Sozialdemokraten in das politische Leben nicht einbezogen, während der ehemalige Linkssozialist, der rehabilitierte Zoltán Horváth zum Chefredakteur von Népszava, dem traditionellen Zentralorgan der SDP, ernannt wurde. Die treuen Sozialdemokraten fühlten also, dass es nicht um ihre Sache, ihre Angelegenheit geht, sie müssen die neuen Entwicklungen abwarten. Der 23. Oktober bedeutete eine große Überraschung für sie, sowie für alle anderen im Lande und in der ganzen Welt.

Anna Kéthly und ihre Genossen waren also auf eine aktive politische Rolle in und mit der Partei und der Regierung nicht vorbereitet. Trotzdem schafften sie in einigen Tagen die Reorganisierung der Sozialdemokratischen Partei in ihrem traditionellen Gebäude (Conti Gasse), mit ihrem traditionellen Zentralorgan Népszava. Die alten Partei- und Kerkergenossen sammelten sich begeistert und waren auch darin einig, dass sie mit den Verrätern der Partei nichts zu tun haben (siehe Kéthlys Leitartikel im neugeborenen Népszava, 1. November 1956: Wir sind Sozialdemokraten!).

Bei ihrer Teilnahme in der Regierungstätigkeit stellte sich aber wieder eine Verspätung ein. Während einige Führer der Kleinlandwirtepartei (Zoltán Tildy, Béla Kovács) und der Nationalen Bauernpartei (Ferenc Erdei) schon ab 30. Oktober in der erweiterten Regierung von Imre Nagy einen Platz hatten – und das war auch den Sozialdemokraten vorbehalten – traten Kéthly und die zwei anderen Kandidaten der Partei (Gyula Kelemen und József Fischer) noch nicht ein. Sie warteten erstens auf ein besser begründetes Mehrparteisystem, zweitens auf eine demokratische Entscheidung ihrer Partei, und drittens auf die Bewilligung der Sozialistischen Internationale. Und erst am 3. November, am letzten Tag der Freiheit, wurden die drei Sozialdemokraten als Staatsminister in Imre Nagys Koalitionskabinett integriert. Sie gehörten also, zusammen mit den Kleinlandwirten, zu den vermutlich großen Parteien, während die Bauern (Petőfi Partei) und die Ex-Kommunisten (MSZMP–USAP) nur je zwei Stellen im Kabinett hatten.

Anna Kéthly konnte aber auch in diesen letzten Tagen nicht aktiv am politischen Leben und den Entscheidungen teilnehmen. Diese Tage verbrachte sie in Wien, auf der Sitzung des Büros der Sozialistischen Internationale. Sie wollte das Büro über die ungarischen Ereignisse informieren, und das Interesse war so groß, dass sie die Büro-Mitglieder kaum überzeugen konnte, die Sitzung in Budapest fortzusetzen. Kéthly sah die Lage in Ungarn gar nicht konsolidiert. Einerseits, konnte sie eine neue sowjetische Intervention nicht ausschließen, sah aber gleichzeitig auch die Gefahr einer weißen konterrevolutionären Strömung. Als Mitglied der alten Generation die 1919 den weißen Terror erlebte, war sie jetzt die erste, die ihre Stimme in dieser Sache erhob, in Budapest und auch in Wien.

Sie betonte auch die hervorragende Rolle der Arbeiterräte, und vereinbarte sich mit Oscar Pollack, Herbert Wehner und Bruno Kreisky über die Notwendigkeit, eine dringende Wirtschaftshilfe für Ungarn von den Westmächten zu erzwingen. Kreisky, als Staatssekretär im Österreichischen Außenministerium, erklärte schon früher den Wiener Botschaftern der Großmächte die Gefahr, die daraus stammt, dass die Führung in Ungarn in die Hände erfahrungsloser junger Leute übergeht.

Anna Kéthly konnte nie mehr in ihre Heimat zurückkehren. Sie versuchte es mit der Hilfe und der persönlichen Begleitung des österreichischen Innenministers Helmer. Sie mussten aber kurz nach dem Grenzübertritt wegen der massiven sowjetischen Truppenbewegungen zurückkehren. Sie wurde Emigrant, und zwar die leitende Persönlichkeit der ungarischen 56-er Emigration, Vorsitzende des ungarischen Revolutionsrates in Brüssel. So hat Anna Kéthly die Kontinuität und die Tradition der ungarischen Revolution mit der Kontinuität und Tradition der wieder erdrückten ungarischen Sozialdemokratie zusammengeknüpft.

Die beiden Traditionen waren in der Tat nicht weit voneinander entfernt. Wie schon erwähnt, hatte die Sozialdemokratie als Gedankengut und Richtung der Gesellschaftsorganisation, eine bedeutende oder sogar dominierende Rolle in der ungarischen Revolution. Diese Volksbewegung war natürlich einerseits vielfarbig, andererseits unbeendet, man kann also über ihren Charakter kaum etwas Eindeutiges und Endgültiges feststellen. Jedoch die meisten und sogar die wichtigsten gesellschaftlichen Forderungen, Zielsetzungen und Losungen kann man ruhig von sozialdemokratischer Prägung halten, wenn auch diese Quelle den Studenten oder sogar den jungen Arbeitern nicht bewusst war.

Dies galt für die Selbstbestimmung, die soziale Gerechtigkeit, die führende Rolle der Arbeiterräte, die Beibehaltung der Verstaatlichung der Großindustrie, und den demokratischen Sozialismus.

Selbst nach der sowjetischen Invasion am 4. November versuchte die SDP weiter zu wirken und zu einer Lösung der Lage für einen gegenseitigen Kompromiss einzutreten. Deshalb trat sie der Fortsetzung des allgemeinen Streiks entgegen. Alle die bedeutenden Führer der Partei – mit der Ausnahme von Anna Kéthly, blieben im Lande, so die Kabinettminister Kelemen und Fischer, und der stellvertretende Generalsekretär András Révész. Sie suchten und fanden einige Kontakte mit anderen demokratischen Politikern, z.B. István Bibó, mit anderen früheren Genossen, zogen sich aber allmählich von der politischen Aktivität zurück.

Es ist zu bemerken dass in ihrer Richtung die Vergeltung relativ mild war. János Kádár brauchte die Unterstützung der Gewerkschaften und aller Art von Sozialdemokraten die dazu bereit und willig waren. Einige ehemalige Sozialdemokraten (Marosán, Rónai, Szurdi) wurden in die oberste Parteileitung, (das Zentralkomitee, den Ministerrat) aufgenommen, andere, wie Vas-Witteg oder Kisházi, in den Gewerkschaften eingesetzt.

Dementsprechend wurden verhältnismäßig wenige Sozialdemokraten nach 1956 verhaftet und verurteilt. Selbst diesen Intellektuellen, die an der Revolution oder an den Nachhutkämpfen teilnahmen, wie Sándor Szalai oder Pál Justus, und einigen Führern der Arbeiterräte wurde erspart, für ihre Tätigkeit zahlen zu müssen. Die kleineren, im Westen unbekannten Sünder aus der Provinz aber mussten zahlen.

Zusammenfassend können wir behaupten, dass 1956 eine kurze, aber schöne und ehrwürdige Auferstehung der ungarischen Sozialdemokratie brachte. Bis zum 4. November war es zu erwarten, dass die SDP als eine der größten und einflussreichsten Parteien und als eine Stütze der Imre Nagy-Regierung eine bedeutende Rolle haben sollte.

Die nächste Gelegenheit kam 32 Jahre später. 1988–89 hat der Drang zum Mehrparteiensystem mit dem Erwecken der Sozialdemokratie begonnen, und von allen Seiten wurde eine neue Auferstehung erwartet. Was aber folgte, war eher ein Trauerspiel und die SDP – weit entfernt davon, eine der bedeutenden Parteien der Wende zu sein – konnte nicht einmal ins Parlament gewählt werden. Zwar haben mehrere Parteien Anspruch auf ihr Erbe angemeldet, doch hat sie bis heute keinen Nachfolger.