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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 16:119–127.

SZILVESZTER E. VIZI

Neue Wege der Medizin

 

In Ungarn hat sich das einst dominierende russische Modell der Versorgung im Gesundheitswesen (zentralisierte Planung/Lenkung/Finanzierung durch den Staat, Dienstleistung durch große Institutskapazitäten und eine „von Spezialisten belastete” ärztliche Versorgung) als ineffektiv, kostspielig und nur wenig krankenorientiert erwiesen.

Die neue Tendenz in der Gesundheitspolitik verschiebt den Schwerpunkt von der kurativen Medizin hin zur Gesundheitsentwicklung und zur Prophylaxe, von der stationären zur ambulanten Betreuung, von der Versorgung durch Fachärzte auf die hausärztliche Versorgung. Das größte Problem der Versorgung im ungarischen Gesundheitswesen ist jedoch noch immer ungelöst: das übergroße Angebot an (Fach-)Ärzten, die zu große Bettenzahl und die mangelhaften Strukturen auf dem Gebiet der Krankenpflege genau so wie das Fehlen des effizienten Strebens nach der Senkung der Kosten im Gesundheitswesen.

Die Tendenzen der vom Staat finanzierten Forschungen auf dem Gebiet der Medizin werden in einem bedeutenden Ausmaß von Gesundheitszustand und von den gesundheitlichen Problemen der Bevölkerung bestimmt. Was sind die wesentlichsten Charakteristika des Gesundheitszustands der ungarischen Bevölkerung?

 

Demographische Krise, Alterung der Bevölkerung

Die Angaben in Bezug auf den Gesundheitszustand und die Mortalität der Bevölkerung weisen eine immer schlechter werdende Tendenz auf. Die ungarischen demographischen Verhältnisse sind innerhalb der zivilisierten Welt in Ungarn die schlechtesten. Im ersten Halbjahr des Jahres 1996 hat in Ungarn die Mortalität die 15 Promille erreicht, während die Geburtenrate unter 12 Promille lag. Im Jahre 1993 lag die Lebenserwartung der Männer zum Zeitpunkt ihrer Geburt bei 64,5 Jahren, diese war genau so groß wie zu Beginn der 1930er Jahre – im Verhältnis zur eigenen Geschichte haben wir einen Schritt zurück um 60 Jahre getan!

Seit 1981 sinkt die Bevölkerungszahl Ungarns. Eine bedeutender Grund bei dem Bevölkerungsrückgang kommt der hohen Sterblichkeit zu. Diese liegt vor allem bei den Männern hoch, davon zeugt die Entwicklung der Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt, die wesentlich unter den in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union berechneten Angaben liegt. Eine alarmierende Erscheinung der 1990er Jahre ist, dass nach den Männern in den 30er und 40er Lebensjahren auch die Lebenserwartung der zu diesen Generationen gehörenden Frauen sinkt.

Der Unterschied zwischen der durchschnittlichen Lebenserwartung der Männer und der Frauen kommt den 10 Jahren näher, während die Sterblichkeitsangaben der Krisenzonen es mit denen der Entwicklungsländer aufnehmen. Diese Angaben verweisen darauf, dass die ungarische Bevölkerung eine demographische Krise erlebt. Die Mortalitätsangaben stimmen mit den Morbiditätsangaben überein, die jedoch Folgen der dramatisch verschlechterten Lebensqualität der Bevölkerung sind.

In den Ländern der entwickelten Welt kann zwischen dem Bruttonationalprodukt und dem besseren Gesundheitszustand eine enge Korrelation nachgewiesen werden. Auch in den reicheren Ländern ist proportionell zur wirtschaftlichen Entwicklung die Lebenserwartung gestiegen und hat die Mortalität abgenommen. Bei uns in Ungarn können gerade entgegengesetzte Tendenzen nachgewiesen werden. In den 1970er Jahren war die Sterblichkeitsrate in Ungarn und in den benachbarten Ländern besser (gegenwärtig stehen nur Russland, die Ukraine und Lettland schlechter da als Ungarn).

Beim Studium der Todesursachen fällt in Ungarn der hohe Anteil der Herz- und Kreislauferkrankungen und der Geschwulstkrankheiten auf. Mehr als die Hälfte der Sterbefälle wird von den Herz- und Kreislauferkrankungen, mehr als 1/5 der Mortalität von den bösartigen Gechwulstkrankheiten verursacht. In Ungarn liegt die Frequenz dieser Todesursachen umgerechnet auf 100 000 Einwohner bei mehr als dem Doppelten als in den Niederlanden.

Das Problem der Überalterung wird im Jahre 2020 wahrscheinlich auch in Ungarn auftreten: die Zahl der Unterhaltenen wird rapide zunehmen, was durch die außerordentlich niedrige Lebenserwartung noch mehr verschlimmert wird. Während im Jahre 1960 8,9 % der ungarischen Bevölkerung über 65 Jahre alt waren, wird ihr Anteil bis 2020 auf 18,5 % steigen. Zugleich wird der Anteil der unter Neunzehnjährigen von 27,9 % (im Jahre 1980) im Jahre 2020 auf 19,2 % sinken. Die Fälle der unterschiedlichen Demenzen (arteriosklerotisch, vaskulär, von alkoholischem Ursprung) wird zunehmen, diese werden diagnostische, therapeutische und Pflegeprobleme bedeuten, ihre effiziente Heilung ist noch jahrzehntelang nicht zu erwarten.

Auch mit einem häufigeren Auftreten der Veränderungen des Nervensystems (Neurosen, Psychosen usw.) muss gerechnet werden, was mit der Beschleunigung des Lebens (dem Stress) und der Urbanisierung zusammenhängt. Die kardio- und zerebrovaskulären Krankheitsverläufe stellen die häufigsten Todesursachen dar, letztere verursachen in den häufigsten Fällen die Invalidität.

 

Gesundheitsversorgung

Das System des ungarischen Gesundheitswesens funktioniert nicht zufriedenstellend und ist auf grundlegende Reformen angewiesen. Ungarn gibt im Jahr und pro Einwohner für das Gesundheitswesen rund 300 – 400 US$ aus (diese Summe liegt in Deutschland bei ca. 2700, in den USA bei ungefähr 3600 US$). Diese Summe ist unter Berücksichtigung des Gesundheitszustands der ungarischen Bevölkerung unglaublich niedrig. Sie macht ca. 7 % des Nationaleinkommens aus. Das bedeutet, dass das ungarische Gesundheitswesen mit Mangel an Ressourcen zu kämpfen hat. Doch können die außerordentlich schlechten Charakteristika des Gesundheitswesens nicht nur hierauf zurückgeführt werden.

Die Entwicklung der medizinischen und der Lebenswissenschaften, die außerordentliche Effizienz der Gesundheitswirtschaft, der sich entfaltende globale Wettbewerb zwischen den immer multinationaler werdenden pharmazeutischen Fabriken und den Ausrüstungen, Instrumente und Anlagen für das Gesundheitswesen produzierenden und vertreibenden Unternehmen, unter dem Einfluss der Anwendung der genetischen und anderer medizinischer Entdeckungen, und der außerordentlich effizienten, doch häufig ungehemmten Marketing- und Reklameaktivitäten melden sich riesige gesellschaftliche Bedürfnisse. Neue, immer teurere Pharmazeutika gelangen auf den Markt, immer kostspieligere diagnostische Verfahren werden eingeführt (Ultraschall-Diagnostik, Scanner, MRI, genetische Reihenuntersuchungen), gentherapeutische Methoden werden ausgearbeitet oder es entstehen Möglichkeiten für den Ersatz von Organen.

 

Forschungsvorhaben der medizinischen Wissenschaften

Aus Vorstehendem geht hervor, dass es jene Forschungen zu entwickeln gilt, die sich mit der Diagnostik, der Therapie und der Rehabilitation der vorstehend erwähnten Volkskrankheiten beschäftigen.

Vor allem sind zuverlässige, auf die Population bezügliche (nicht nur in Krankenhäusern durchgeführte) epidemiologische Untersuchungen durchzuführen im Zusammenhang mit der genauen Häufigkeit und mit den zu erwartenden Tendenzen der vorstehend erwähnten Krankheiten.

 

Gesellschaftswissenschaftliche Forschungsvorhaben

Das Gesundheitswesen, die Medizin sind nicht allein verantwortlich für den Gesundheitszustand und für die Lebensqualität der Menschen und der Nation. Die geerbten Gegebenheiten, der Zustand der Umwelt, die Lebensumstände, die Lebensweise des Individuums und viele andere Faktoren spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Die Ergebnisse der medizinischen Wissenschaften, die wissenschaftlich fundierte Betrachtungsweise der Gesundheit (gesunde Ernährung, Lebensweise) müssen jedoch auf dem Gebiet der Politik und der Wirtschaft, doch vor allem des Unterrichts und der Bildung auftreten. In der Prophylaxe muss zusammengearbeitet werden mit den Fachleuten (u. a. den Soziologen, den Pädagogen) und mit breiten Kreisen der Bevölkerung, und die auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften gesammelten Erfahrungen sind auch anzuwenden.

Den ersten bedeutenden Fortschritt auf dem Gebiet der soziologischen Forschungen bedeutete der Band „Magyarország az ezredfordulón. Stratégiai kutatások a Magyar Tudományos Akadémián [Ungarn um die Jahrtausendwende. Strategische Forschungen an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften], in deren Rahmen schon ausgezeichnete Studien erschienen sind (u. a. von Ágnes Losonczi: Utak és korlátok az egészségügyben [Wege und Schranken im Gesundheitswesen], 1998).

Nach Kopp und Mitarbeitern (1998) wirkt beim schlechten Gesundheitszustand der Bevölkerung auch der Mangel an sozialer Kohäsion, am Erlebnis der Zusammengehörigkeit mit. Die sehr umfangreichen Untersuchungen des Depressionsseelenzustandes haben bewiesen, dass dieser eine unmittelbare Rolle bei der Entstehung und bei dem wiederholten Auftreten des Herzinfarkts spielt. Die Hoffnungslosigkeit, die Ziellosigkeit, der die Werte verlorene, leere Seelenzustand bildet also ein Kettenglied zwischen der Schwächung der sozialen Kohäsion, dem soziologischen Zustand der Gesellschaft und der Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Individuums.

Als anderes Problem könnte die hohe Zahl der Schwangerschaftsabbrüche erwähnt werden. Dennoch gibt es kaum gesellschaftswissenschaftliche Forschungen, die sich mit dem gesellschaftlichen, sozialen Hintergrund des Gesundheitszustandes des ungarischen Staatsbürgers beschäftigen würden.

Die Urbanisierung, die in einem hohen Grade für die Erkrankungen des Nervensystems (Neurosen, usw.) verantwortlich ist, setzt sich fort. Im Jahre 1955 lebten noch 68 % der Bevölkerung der Erde auf dem Land, im Jahre 2025 werden es nur mehr 41 % sein, während 59 % der Bevölkerung der Erde in Städten wohnen werden. Auch in Ungarn ist eine ähnliche Mobilisierung zu beobachten. Die Urbanisierung der nicht an die städtische Lebensform gewohnten Bevölkerung wird zur weiteren Verschlechterung ihres psychischen Zustandes führen. Eine herausragend gefährdete Stadt ist Budapest und die Agglomeration. Die Häufigkeit einzelner Krankheiten ist hier höher als unter den auf dem Land Lebenden, höher ist die Zahl der Krankheiten der Atemwege, der Lungengeschwülste. Unter den Ursachen kommen die vom Verkehr verursachten Luftverunreinigungen (Kohlendioxid, Stickstoff-Oxide, leichtflüchtige organische Verbindungen, Metalle usw.) vor, doch kann vor allem der gesteigerte Stresszustand dafür verantwortlich gemacht werden.

 

Forschungen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Politikwissenschaften

Die Institutionen der öffentlichen Gewalt, die Parlamente und die Regierungen können heute nicht mehr ausweichen, den mit der Entwicklung der Lebenswissenschaften auftretenden Herausforderungen ins Auge zu blicken. Welches sind diese Herausforderungen?

Vor allem die wissenschaftliche Herausforderung. Jenes Land, das sich entwickeln will, den Schritt halten will mit den anderen Ländern, kann nicht aus den internationalen wissenschaftlichen Wettbewerben herausbleiben. Auch der Wettbewerb zwischen den Mächten wirkt auf die Betreiber der Lebenswissenschaften ein. Bei der Gewährung bzw. bei der Verschaffung der wissenschaftlichen Fördermittel spielt die Abwägung der politischen Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle. Es hängt von der Größe und dem Entwicklungsstand des konkreten Landes ab, doch gilt dies auch für jene Länder, die sich in die engere Zusammenarbeit der entwickelten Länder oder einer ihrer Gruppen einschalten wollen. So muss man sich dieser Frage auch im Zusammenhang mit der europäischen Integration stellen.

Als zweite ist die wirtschaftliche Herausforderung zu erwähnen. Wie bereits darauf hingewiesen wurde, ist die wirtschaftliche Bedeutung der Entwicklung der Lebenswissenschaften, der sich auf dem Gebiet der „Gesundheitswirtschaft” entfaltende globale Wettbewerb immer größer. Immer determinierender ist die Wirkung der genetischen und anderen medizinischen Entdeckungen, der Biotechnologie und deren gesellschaftliche Wirkung und Erwartung, die von der Entwicklung auf diesem Gebiet ausgelöst wird (mit genetischer Manipulation erzeugte Medikamente, genetische Diagnostik, genetische Therapie).

Die soziale Herausforderung. In die gesundheitliche Versorgung werden immer kostspieligere diagnostische Methoden eingeführt (Echographie, informatisierte radiologische Diagnostik, Reihenuntersuchungen), immer neuere, immer teurere Medikamente erscheinen, neue Methoden der Gentherapie oder Möglichkeiten des Organersatzes schaffen schwer zu befriedigende, doch fachlich erforderliche neue Anforderungen. Sofort wird die Frage der gleichen Zugänglichkeit aufgeworfen, zugleich ihre Ungelöstheit. Dies wirft das Grundproblem der Funktion des Gesundheitssystems auf. Die Frage ist ewig, ob die von den Ärzten und dem Gesundheitswesen fachlich für erforderlich gehaltenen neuen Präparate und Heilverfahren vom sozialen System getragen werden.

Dieser dreifachen Herausforderung–Forschung, Gesundheitswirtschaft, Gesundheit und deren Preis – d. h. dem immer mehr zunehmenden Mangel an Ressourcen muss die gesamte Gesellschaft, müssen die Leiter und die Geleiteten ins Auge blicken.

 

Ethische Probleme

Auf der ungarischen Ärztegesellschaftet lastet ein sehr schwieriges ethisches Problem: der Arzt muss sozusagen am Krankenbett, Tag für Tag über die Quantität und die Qualität der Behandlung entscheiden (wird eine Operation durchgeführt, unterbleibt sie, wird ein billiges oder teureres Medikament, eine billige oder teurere Diagnostik eingesetzt usw.), doch so, dass die zur Verfügung stehenden finanziellen Möglichkeiten berücksichtigt werden müssen. D. h., dass er eine fachlich notwendige, wirtschaftlich mögliche und ethisch noch akzeptierbare ärztliche Praxis durchführen müsste.

Der schwerwiegende Fehler der ungarischen gesundheitlichen Versorgung ist, dass den Ärzten und den Krankenhäusern nicht fachliche Schranken (also was für eine Behandlung und in welchem Maße der Arzt zu Lasten der aufgrund der solidarischen Sozialversicherung anordnen kann), sondern dass ihnen finanzielle Schranken vorgeschrieben sind. Die Verteilung der zur Verfügung stehenden Ressourcen wird also von den in der gesundheitlichen Versorgung tätigen Ärzten und vom Pflegepersonal entschieden. Dies wirft Tag für Tag schwerwiegende ethische Probleme auf, indem die Entscheidungen der im Gesundheitswesen Tätigen moralisch untergraben werden.

Das Natürliche wäre, dass die Gesellschaft entscheiden soll, welche Mittel und Leistungen sie finanziert und welche nicht. Der Fakt, wann und unter welchen Umständen der Arzt die von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Mittel und Leistungen im Einzelfall anwendet, muss eine fachliche und ärztlich-ethische Entscheidung bleiben. Die Beziehung zwischen Arzt und Kranken (und zwischen Pfleger und Kranken) muss von den wirtschaftlichen Überlegungen frei gehalten werden.

Die aus dem Beitritt zur EU resultierenden Forschungsaufgaben

Unser Beitritt zur Europäischen Union stellt zahlreiche gesundheitspolitische und zugleich Forschungsaufgaben.

Das Arbeitsmaterial der Europa-Kommission unter dem Titel „Über die Gesundheitspolitik und die Osterweiterung” wirft im Zusammenhang mit den Beitrittskandidaten folgende Probleme auf:

– Mangel an modernen gesundheitspolitischen Strategien;

– Zunahme der Zahl der Infektionskrankheiten;

– schlechte Erste-Hilfe-Institutionen;

– der niedrige gesellschaftliche und wirtschaftliche Status der Berufe des Gesundheitswesens (Migrationsdruck auf die EU);

– Fehlen der Teilnahme der bürgerlichen Gesellschaft an den Fragen des Gesundheitswesens;

– negative Auswirkungen der schlechten Umweltbedingungen auf die Gesundheit.

Von der Kommission werden die gesundheitspolitischen Forschungen vom Gesichtspunkt der Versorgung aus als produktive Faktoren erwähnt, sie dringt auf die Teilnahme der Forschungen des Gesundheitswesens der konkreten Länder an den Forschungsprogrammen der EU.