1088 Budapest, Rákóczi út 5.; Tel: (36 1) 381 23 47; E-mail: Ez az e-mail-cím a szpemrobotok elleni védelem alatt áll. Megtekintéséhez engedélyeznie kell a JavaScript használatát.
Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 11:29–44.

DOMOKOS KOSÁRY

Wiederaufbau und Verbürgerlichung 1711–1867

Das Modell Europas

 

Bei Europa handelt es sich nicht einfach um einen geographischen Begriff. Dies ist nicht nur der Name jenes Kontinents, auf dem wir – von den launischen Umrissen der Randgebiete ausgehend uns zum Zentrum hin begebend – innerhalb des Bogens der Karpaten auch Ungarn vorfinden. Europa, das bedeutet im weiteren Sinne ebenso eine spezifische historische Kultur, welche sich hier als eine der auf dem Erdball im Laufe der Entwicklung der Menschheit entstandenen Kulturen entfaltete. Die unterschiedlichsten Elemente dieser Kultur sind trotz ihrer Vielseitigkeit und Vielfalt durch die gemeinsame homogene Entwicklung miteinander verknüpft. Und im Laufe der Geschichte hat auch das ungarische Volk, also Ungarn, eines dieser Elemente gebildet, war Bestandteil dieser Kultur und hatte seine Position und Rolle in dieser ausgedehnteren Heimat gefunden. Auch aus diesem Grunde kann man seine Vergangenheit nur in diesem größeren Rahmen und unter Berücksichtigung umfassender Zusammenhänge korrekt demonstrieren und interpretieren.

Wir haben uns also eine solche spezifische Landkarte oder eher ein Modell der Entwicklung vorzustellen, welches die Gestaltung dieser Kultur im Verlaufe der aufeinander folgenden Jahrhunderte veranschaulicht; jenen umfassenden Prozess mit seinen regionalen und lokalen Varianten, der sich aus der gemeinsamen Entwicklung der hier lebenden Völker, Gesellschaften und Nationen sowie den unterschiedlichsten Manifestationen der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Funktionen ergab. Überblicken wir doch all dies zunächst aus der Ferne, um das Ganze mit seinen Hauptzügen in Augenschein nehmen zu können. Dann nähern wir uns in gewissen Punkten an, um auf die uns besonders, speziell interessierenden Details – so die Gestaltung der Situation, der Verhältnisse und Rolle Ungarns – noch besser eingehen zu können.

 

1. Zonen, Wechselwirkungen

Die historische Struktur Europas setzt sich aus einem Ensemble so ungleicher Entwicklungszonen unterschiedlichen Niveaus zusammen, die in einer ständigen Wechselwirkung zueinander stehen, und zwar als Bestandteil ein und desselben kohärenten Großmodelles. Das an der Spitze der Entwicklung stehende Epizentrum, die Zentralzone, die „Hochebene”, war umgeben von Randzonen, Marginalzonen auf verhältnismäßig niedrigem Niveau, in verschiedenen Sektoren und Varianten. Im Verlaufe der Wechselwirkung fanden sich die Randzonen immer wieder neuem derartigen Problemen und Herausforderungen gegenüber gestellt, die sich größtenteils aufgrund der Entwicklung der Zentralzone ergaben. Doch auch auf Letztere, die Hochebene, blieben die Existenz und die Tätigkeit der langsamer vorankommenden Partner nicht ohne Wirkung. Es waren Antworten auf die Herausforderungen zu finden. Und man hatte sich den neuen Bedingungen und Möglichkeiten anzupassen. Der Dialog von Herausforderungen und Reaktionen hat das Modell in Schwung gehalten, und zwar in dem Sinne, dass es stufenweisen Veränderungen unterworfen war. Infolge dessen wurde manchmal der Schwerpunkt des Fortschritts verlegt oder das Epizentrum hat sich verschoben und es haben sich außerdem nicht nur Niveau und Rolle der Randzonen verändert, sondern ebenso Charakter und Auswirkung der Herausforderungen. All das jedoch änderte nichts am Wesen des Wirkungsmechanismus.

In groben Zügen ist dies jenes skizzenhafte Bild, das wir uns vom historischen Modell Europas und dessen Wirken machen können. Ebenso wie auf einer Karte großen Maßstabes sind auch hier nur einige wichtige Charakteristika der Realität aufgeführt, die – wenn wir sie näher betrachten – selbstverständlich wesentlich komplizierter erscheinen, und zwar schon deshalb, weil ein derartiges System der Gruppierung von Zonen unterschiedlichen Niveaus in geringerem Umfange in je einer Gegend, einem Lande oder Landesteil ebenso anzutreffen ist. Die Gemeinschaft von Epizentrum und den umliegenden Randzonen erscheint inmitten Europas miteinander, aufeinander aufbauend auf mehreren Ebenen und in verschiedensten Varianten als die Grundformel dieser Kultur.

Im 18. Jahrhundert befindet sich das Epizentrum der Entwicklung im Nordwesten Europas. Zu dieser Hochebene gehörte das in der bürgerlichen, kapitalistischen Entwicklung die führende Rolle spielende England (mit Süd-Schottland) sowie Holland. Dazu zählte außerdem das derzeit – bis zur Revolution – noch feudale Frankreich, ja in gewissem Maße sogar das unmittelbare deutsche und norditalienische Grenzgebiet. Die deutschen und italienischen Gebiete nämlich entfielen auf fortschrittlichere und verhältnismäßig zurückgebliebenere Zonen gleichermaßen, denn sie standen teilweise der Hochebene, teilweise den Randzonen nahe. Diese an sich nicht homogene, sondern abwechslungsreiche Hochebene nämlich wurde von umfangreichen Randzonen in einem riesigen Bogen verschiedenster Varianten umschlungen. In der nördlichen Zone treffen wir auf die Länder Skandinaviens, auf Schweden, Dänemark und das derzeit (bis 1814) letzterem zugehörige Norwegen. Im Süden bildeten die Länder der Iberischen Halbinsel, die einst strahlenden Weltmächte Spanien und Portugal sowie der Süden Italiens die mediterrane Randzone. Die östlich gelegenen Gegenden schließlich haben die Habsburgmonarchie, Preußen und das derzeit emporstrebende Russland miteinander geteilt. Dazwischen lag noch für einen gewissen Zeitraum Polen, bis man es dann 1772 teilweise und 1795 schließlich vollkommen aufteilte. Ungarn existierte – als Staat – wie Böhmen im Rahmen der Habsburgmonarchie. Diesen österreichisch-böhmisch-ungarisch-polnischen Streifen, welcher viele gemeinsame regionale Charakteristika aufweist, bezeichnen wir als den Osten Mitteleuropas, d.h. Ost-Mitteleuropa. Östlich davon erstreckte sich die eigentliche riesige östliche Zone.

Darüber hinaus können wir zu jener Zeit sogar – wieder nicht im geographischen sondern kulturellen Sinne – von einer vierten, westlichen Randzone Europas sprechen, denn die Neue Welt, ein Teil des amerikanischen Kontinents nämlich, war derzeit noch eng mit Europa verknüpft. Diese atlantische Randzone setzte sich aus zwei Hauptteilen zusammen: der zurückgebliebeneren südlichen Region – welche in Lateinamerika die Kolonie der Randzone Südeuropas, d.h. Spaniens und Portugals war –, und der ein wenig fortschrittlicheren nördlichen Region, welche wiederum die Kolonie der Länder der europäischen Hochebene war, genauer gesagt Englands und teilweise noch Frankreichs. Teile davon, die Vereinigten Staaten, haben bereits zum Ausgang des Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit erkämpft.

 

2. Die Hebung des Niveaus im 18. Jahrhundert

Dieses Modell Europas im 18. Jahrhundert – mit der Hochebene und den ringsherum absinkenden Randzonen – haben vom vorangehenden Jahrhundert solche Veränderungen differenziert, welche sich aus der praktisch in jeder Hinsicht nachweisbaren allmählichen Hebung des Niveaus, dem Wachstum ergaben. Die verschiedensten wirtschaftlichen oder kulturellen Indexzahlen haben alle diesen Prozess angezeigt, wie sich im Folgenden herausstellt. Im Europa des 18. Jahrhunderts haben auf einem etwas größeren Gebiet bedeutend mehr Menschen gelebt, ein wenig abseits von der Bedrohung des Hungertodes, mit einer Lebenserwartung über dem Durchschnitt, im Besitze einer fortschrittlicheren Wirtschaft, besserer Kommunikationsmittel, neuer Ideen, höher entwickelter kultureller und politischer Institutionen. Dies war die Grundlage für die Weiterentwicklung im 19. Jahrhundert.

Gebietsmäßig wurden die Grenzen der europäischen Kultur gerade in den östlichen Breiten weiter ausgedehnt; in der Donauregion infolge der Rück- eroberung Ungarns zum Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts, womit die Macht der Osmanen aus solchen Gebieten verdrängt wurde, die somit erneut unmittelbar in den Blutkreislauf Europas eingeschaltet werden konnten. Dieser Prozess fand hier viel später damit sein Ende, dass auch die Balkanländer nacheinander von der Türkenherrschaft befreit wurden. Ähnliche Bedingungen der Entwicklung bildeten die Basis für die Ausweitung der Grenzen in der östlichen Zone Russlands in der Region um das Schwarze Meer – ebenfalls in Bezug auf die türkischen Mächte bzw. die der Krimtataren.

Der langsame, allmähliche aber doch spürbare Aufschwung, der Fortschritt im 18. Jahrhundert half den Grundstein dafür zu legen, dass zumindest in den höherentwickelten Zonen Europas erneute Bereiche aus dem feudalen System den Schritt in Richtung bürgerlicher Gesellschaft tun konnten. Im Vergleich zum vorangehenden, über einen langen Zeitraum hinweg niedrigen, kaum ansteigenden und von Rückschlägen belasteten Entwicklungsdiagramm war dieser Fortschritt besonders neuartig und spürbar. Der Fortschrittsgedanke begann auf diese Weise Kredit zu finden. So, als könnte schon jetzt, während dieses irdischen Seins, noch vor dem Jenseits in weiter Ferne von einiger Hoffnung die Rede sein. Beim kontinuierlichen Wandel in eine vorteilhaftere Richtung handelt es sich um eine solche neue Erfahrung, welche das Selbstbewusstsein zu steigern vermag und ausreicht, um eine weitere Hebung des Niveaus als wahrscheinlich oder gar mit Taten als förderlich erscheinen zu lassen. Die Menschen begannen daran zu glauben – wenn auch zunächst in engem Kreise und vielleicht allzu simpel –, dass sie mit ihren als Fatum erachteten Problemen nicht blind auf ihr Glück vertrauen müssen, sondern diese eventuell selbst irgendwie zu lösen vermögen.

Die Hebung des Niveaus hat nicht nur die höherentwickelte Zone sondern das gesamte Modell charakterisiert, d.h. in vielerlei Hinsicht selbst die trägeren Randzonen. Auch jene vermochten sich mehr oder weniger anzuschließen, obwohl die Differenzen zwischen ihnen und Hochebene nicht verschwanden.

 

3. Ostmitteleuropa als Randzone

Obiges gilt auch für die ostmitteleuropäische Region und innerhalb jener die Entwicklung Ungarns. Hier wurde der stufenweise Fortschritt u.a. dadurch unterstützt, dass sich in Bezug auf diese Zone der Charakter der Wechselwirkungen geändert hatte, welcher sich aus der Funktion des europäischen Modells ergab. Die Herausforderungen der höherentwickelten Regionen in den vorangehenden Jahrhunderten haben die Gesellschaften Ostmitteleuropas eher gehemmt und in Richtung des späten Feudalismus gedrängt – so als würden die Länder der Hochebene derzeit auf ihren Schultern stehend versuchen, immer höher hinauszugelangen. Jetzt aber, ab Beginn des 18. Jahrhunderts, hat die aus dem Epizentrum stammende Herausforderung sie – ganz im Gegenteil – eher zum Fortschritt, zum Aufholen angeregt. Und das umso mehr, da sich inzwischen die Beziehungen zwischen den verschiedensten Teilen Europas in wirtschaftlicher, politischer oder kultureller Hinsicht gleichermaßen noch enger gestalteten.

Aus all dem kann bereits Folgendes geschlussfolgert werden:

1. In Europa treffen wir auch im 18. Jahrhundert auf das gleichzeitige Auftreten von Asynchronerscheinungen, d.h. die auf einem abweichenden Grad der Entwicklung befindlichen Gesellschaften existieren nebeneinander und wirken aufeinander ein.

2. In den Randzonen treten die den Fortschritt bedeutenden neuen Phänomene einerseits mit gewisser zeitlicher Verschiebung auf, zum anderen werden den lokalen Voraussetzungen entsprechende spezifische Varianten geschaffen. Zunächst müssen nämlich gewisse, dafür erforderliche Bedingungen geschaffen werden, welche wiederum allein auf gegebenen Beispielsfällen und Möglichkeiten aufbauen können.

3. Wenn aber bereits ein Minimum an notwendigsten Bedingungen gegeben ist, vermögen die in Richtung Anschluss weisenden neueren Bestrebungen und vor allem neue Ideen in verhältnismäßig kurzer Zeit zu expandieren. Unterstützt wird der Prozess nämlich dadurch, dass die später Aufschließenden in vielerlei Hinsicht die in den höher entwickelten Zonen bereits gestalteten Muster und daraus gezogene Lehren berücksichtigen können. Und schließlich:

4. Ungarn – sowie die ostmitteleuropäische Zone allgemein – war nicht so sehr durch eine Art Rückständigkeit charakterisiert, als eher durch größere Entfernungen und Spannungen zwischen den hier auftretenden zeitgemäßen und modernen Bestrebungen einerseits sowie massiven, traditionellen Hemmkräften andererseits. Diese gleichzeitige Existenz moderner bzw. veralteter, überholter Symptome, der Kontrast und der Konflikt im Rahmen der eigenen Gesellschaft, verliehen der Entwicklung solcher Länder einen gewissen archaischen Charakter.

Selbstverständlich ist eine solche verallgemeinernde Skizze nur eine grobe, selbst dann, wenn sie auf genaueren und statistisch besseren Datenreihen aufbaut, als das im 18. Jahrhundert möglich war. Die Realität ist nämlich aus der Nähe gesehen immer komplizierter, detaillierter oder auch widersprüchlicher, so, wie es zum Beispiel bei Gebirgszügen und Landschaften der Fall ist, wenn man sie nicht aus der Ferne sondern an Ort und Stelle, unmittelbar in Augenschein nimmt. Am Wesen aber ändert das nichts.

Es ist erforderlich, all dies vorauszuschicken, weil auf diese Weise verständlich wird, welches Bedingungssystem, welcher umfassende Rahmen im Wesentlichen den Aktionsradius für historische Akteure gewährte. Hier geht es um jene Bühne, auf welcher die humanen Gemeinschaften, gesellschaftliche Kräfte und individuelle Talente agieren und ihre eigene Rolle spielen konnten. Einerseits nämlich bewegt sich die auf rein nationale Rahmen beschränkte Geschichte in einem zu engen Bereich – welche höchstens dann mal einen Blick auf weiter entfernt oder nahegelegene andere Länder wirft, wenn von unmittelbaren Beziehungen oder auch Konflikten die Rede ist. Auf diese Weise vermag sie in der Isolation selbst die Parameter in eigener Sache, die der nationalen Entwicklung nicht reell einzuschätzen, welche sich zum Beispiel aus der internationalen Politik oder bedeutenderen wirtschaftlichen Zusammenhängen ergeben. Andererseits wiederum dürfen wir – während wir von Modell, Struktur und Zonen auf verschiedensten Ebenen, über ihre Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen sprechen – auch nicht die Menschen an sich, ihre Taten und Qualitäten, die vielfältigen Schicksale oder die Rolle des Individuums vergessen, welche im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten den Lauf der Dinge auf diese oder jene Weise oftmals erheblich beeinflussen.

 

4. Europa und die weite Welt

Bevor wir jedoch näher auf die Details eingehen, gehen wir für einen Augenblick nochmals einen Schritt zurück, um mit größerem Abstand die Position und die Rolle Europas in der weiten Welt, das Verhältnis zu den sich auf anderen Kontinenten herausbildenden Kulturen – von Amerika bis Afrika und von Indien, Asien bis zum Fernen Osten – in Augenschein zu nehmen.

Die unterschiedlichsten Kulturen der Welt haben über lange Zeit hinweg voneinander getrennt oder nur mit den unmittelbaren Nachbarn in Verbindung tretend ihr eigenes Leben gefristet. Die Existenz anderer, abweichender Kulturen nahm Europa zum Teil aufgrund der – von Osten – kommenden traditionellen Beziehungen, hauptsächlich aber mittels der Kontakte durch eigene Expansion und „Streifzüge” sowie der damit einhergehenden Kolonisation in der anderen Richtung zur Kenntnis. So wurde man des Vorhandenseins anderer bewusst. Der Begriff „Entdeckung” selbst spiegelt ebenfalls die charakteristisch europazentrische Anschauungsweise wider, denn die betreffenden Völker haben auch zuvor schon ihr eigenes Leben gelebt, bevor die europäische Expansion sie erreichte und sie die Folgen jener zu spüren bekamen. Jene Expansion, die das historische Verhältnis Europas zur Welt und den weit entfernt existierenden Völkern determinierte und nun schon mehr als zwei Jahrhunderte anhielt sowie auch weiterhin andauerte. Die Folgen waren selbst dann noch zu spüren, wenn die von ihnen geschaffenen Kolonien sich nach einer gewissen Zeit – zum Teil aufgrund der internen internationalen Krisen Europas – selbständig machen konnten.

Selbstverständlich war die Expansion in irgendeiner Form – durch wirtschaftliche, konfessionelle oder politische, militärische Motive angeregt – ebenso für zahlreiche anderweitige Kulturen charakteristisch. Es genügt, an dieser Stelle auf den Islam, arabische Händler oder gar Eroberungsmächte asiatischer Nomaden zu verweisen. Der Fall Europa war also nicht wegen des Faktes der Expansion an sich, aufgrund dieser oder jener Beweggründe ein anderer als jener, sondern in erster Linie deshalb, weil es hier um eine weitreichendere, weitverzweigtere, hartnäckigere und stabilere als dort ging, und zwar dermaßen, dass der ursprüngliche Kontinent mit seiner verhältnismäßig geringen Größe dazu in keinem Verhältnis stand. Die Beziehungen zwischen anderen Kulturen kamen ebenfalls größtenteils durch europäische Vermittlung zustande. Dies hatte u.a. solche „neutrale” Nebenwirkungen, dass man nicht nur Mais, Tabak oder Kartoffeln aus der Neuen Welt mit sich brachte, sondern selbst – von anderswo – Wolle, Zuckerrohr und Reis dorthin einführte. Doch gab es außerdem so brutale, unmenschliche Aspekte wie die unbarmherzige Tätigkeit der Sklavenhändler, die Arbeitskräfte aus Afrika auf die Plantagen der Neuen Welt lieferten.

In Bezug auf Expansion und Streifzüge standen – verständlicherweise – die Länder Europas an der Atlantikküste an der Spitze. Die allerersten Eroberer, Spanien und Portugal nämlich – welche sich noch regelmäßig darauf beriefen, dass sie zur Verbreitung des katholischen Glaubens berufen seien, obwohl von Beginn an tatsächlich die Begierde nach dem Erlangen von Schätzen und Edelmetallen hinter diesem Slogan zu spüren war – stagnierten derzeit bereits. Ihre Vorherrschaft in Lateinamerika jedoch blieb bestehen, d.h. im mittleren und südlichen Teil der neuen Welt. Hier wurde nach der Zerstörung der mittelamerikanischen indianischen Zivilisation die Verdrängung und Unterwerfung der auf niedrigerem Niveau befindlichen Indianerstämme fortgesetzt und es kamen mehrere Varianten der Kolonialherrschaft zustande. Für einen gewissen Zeitraum blieben nämlich u.a. noch separate, konfessionell – von Jesuiten – geleitete politische Einheiten erhalten, in denen es auch einige ungarische Jesuiten gab.

Das bei der Kolonisation bereits offen Zielsetzungen des Handels befolgende Holland hatte ebenfalls den Höhepunkt überschritten. Da man der Engländer wegen noch im vorangehenden Jahrhundert aus Nordamerika verdrängt wurde, hat man nun im fernen Osten die Position seiner Siedlungen gewahrt und gefestigt.

Unter den Atlantikländern Europas standen im 18. Jahrhundert vor allem England und Frankreich im gegenseitigen Wettbewerb um den Besitz der Kolonien. Sie standen außerdem hinsichtlich Neuentdeckungen an der Spitze, welche die Kenntnisse Europas bezüglich ferner Kontinente und der Inselwelt Ozeaniens um weitere Details bereicherten. Der Engländer James Cook hat während seiner bedeutenden drei Seefahrten zwischen 1768 und 1779 die Inseln des Atlantischen, des Stillen und Indischen Ozeans erforscht, der Franzose La Pérouse hingegen von 1786 bis 1788 vor allem die Küsten Chinas und Japans.

Die englisch-französische Rivalität im 18. Jahrhundert betraf hauptsächlich den Besitz in Nordamerika, sie spitzte sich ständig zu und hielt bis zum Ausbruch der französischen Revolution an. Infolge dieser Rivalität haben sich die europäischen Konflikte praktisch weltweit ausgebreitet sowie weitgehend auch auf das Schicksal der neuen Welt ausgewirkt. An der Ostküste Nordamerikas hat die Bevölkerung der 13 englischen Kolonien zwischen Meer und Appalachen-Gebirge bereits mehr als eineinhalb Millionen Menschen ausgemacht. Die Bewohner der nördlichen Kolonien – vor der Glaubensverfolgung fliehende englische Puritaner, dann holländische, schwedische und später die Nachfahren deutscher Einwanderer – haben sich vor allem der Farmerwirtschaft sowie dem freien Handel gewidmet, ebenso erfuhr jedoch die Manufakturindustrie einen Aufschwung – in erster Linie betreffs Schiffsbau, doch teilweise auch schon auf den Gebieten der Textil- und Eisenfabrikation. Die englischen Kolonien im Süden (Virginia, Carolina, Georgia) vertraten einen davon etwas abweichenden Typ: hier vermochten sich die Sklavenarbeit verrichten lassenden Besitzer großer Plantagen schnell zu bereichern. Fakt ist auf alle Fälle, dass sich die Franzosen der Expansion erstarkter englischer Kolonien gen Westen in den Weg stellten. Zunächst gründeten sie hoch oben in Kanada ihre eigenen Siedlungen und danach strebten sie vom Süden, von der Mündung des Mississippi, entlang des Flusses in Richtung Norden. So gelangte man in einem riesigen Bogen in den Rücken der englischen Kolonien und schuf praktisch eine geschlossene Grenzlinie zum Inneren des Kontinents. Die Franzosen nannten riesige Gebiete ihr Eigen, waren aber verhältnismäßig wenige – etwa Einhunderttausend. Sie erhielten jedoch größere Unterstützung vom Mutterland, welches sich mehr um ihre Sicherheit kümmerte. Auf diese Weise vermochten sie sich besser organisiert und mit Unterstützung der regulären französischen Truppen den steinzeitlich ausgerüsteten Kriegern der Indianerstämme und der englischen Miliz entgegenzustellen. Die beiden Kolonialmächte führten einen permanenten Krieg gegeneinander, verwickelt mit den einmal von dieser, einmal von jener Seite gewonnenen Kämpfen der Indianerstämme, welche sich schließlich – und letztendlich hoffnungslos – gegen beide Eroberer richteten. Im Verlaufe der Konflikte gelangte England in eine immer bessere Position, in erster Linie im Ergebnis des Siebenjährigen Krieges (1756–1763), als es gelang, den Franzosen Kanada zu entreißen. Auch der Verlust der nordamerikanischen Kolonien, das Erlangen deren Unabhängigkeit (1783) hat die Ausweitung des englischen Kolonialreiches nur zeitweise beeinflusst. Noch markanter aber gestaltete sich damit die Differenz des Entwicklungsgrades zwischen den beiden Teilen der neuen Welt, zwischen dem Norden bzw. Süden, d.h. Lateinamerika.

Die großen Schriftsteller und Denker der europäischen Aufklärung wandten sich im Verlaufe des 18. Jahrhunderts nicht nur offener und mit mehr Empathie den Völkern ferner Länder zu, sondern sie nutzten die Lehren aus ihren Erfahrungen auch für die Kritik an den eigenen heimischen Gesellschaften. Einerseits, indem man aufgrund der eintreffenden Nachrichten über auf fernen Kontinenten in niedrigerem Entwicklungsstadium befindliche Völker das Bild des „nüchternen Wilden” schuf, der mit unverdorbenem Geist und Instinkt gut das Wesen der Probleme der heimischen Gesellschaften und politischen Systeme erfasst. Andererseits, indem man – wie Raynal und Diderot – eine solche scharfe Kritik an den außerhalb Europas um die Unterwerfung und Ausbeutung der Welt konkurrierenden Mächten ausübte, welche über die unmittelbaren humanitären Zielsetzungen hinaus auch die heimischen Machenschaften dieser Kräfte in Frage stellten. Es gab u.a. derartige Mahnungen, dass Eroberungen in fernen Ländern auf das eigene Staatssystem Europas gefährliche Auswirkungen haben würden. All das hat selbstverständlich die an einer Expansion interessierten Kräfte nicht daran gehindert, ihre Aktionen fortzusetzen.

Diese europäischen Mächte haben auch auf die Feudalreiche Asiens einen ständig stärkeren Druck ausgeübt, nachdem sie jene praktisch vom Meer und vom Festland her gleichermaßen eingekreist hatten. Auf dem Festland hat das nach Osten und Südosten expandierende Russland seine asiatischen Nachbarn und primitive, fischende, jagende Völker unterworfen. Der Russe Bering und seine Gefährten haben als Entdecker bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die später nach ihm benannte Meerenge zwischen Asien und Amerika erkundet. Im Süden hingegen hat der russische Vormarsch die Grenzen der mohammedanischen Nachfolgestaaten des einstigen arabischen Reiches sowie des Machteinflusses Chinas erreicht. Die Entwicklung dieser Reiche übrigens hatte sich zuvor schon verlangsamt bzw. sie stagnierte, da jene nämlich nicht in der Lage waren, der traditionellen Struktur zu entsagen, zu deren Hauptcharakterzügen bäuerliche Armut und Kleinwirtschaften als Selbstversorger, weiterhin herrschaftlicher Pomp sowie ein stagnierender kleiner interner Markt zählten. Dazu gesellte sich oftmals der ständig neue Angriff von Nomaden der Steppengebiete bzw. der Vorstoß der Europäer in Handel und Wirtschaft. Das Osmanische Reich, welches unmittelbar die Grenzen Südosteuropas erreicht hatte und sogar im Donauraum als Eroberungsmacht auftrat, wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts bereits zurückgedrängt – und wenn es auch für die unmittelbaren Nachbarn eine Bedrohung darstellte, war jene doch nicht mit der vorangehenden zu vergleichen. Man verwaltete aber auch derzeit noch riesige Gebiete: neben dem Balkan und Kleinasien den Nahen Osten, Ägypten, Palästina, Syrien, den Irak bzw. in gelockertem Abhängigkeitsverhältnis die westlichen Küstenstreifen Arabiens und die nördlichen Afrikas. Das Organ aber wies bereits offensichtliche Anzeichen der Schwäche auf und beschränkte sich immer öfter auf die Verteidigung nach allen Seiten. Für einen gewissen Zeitraum hat der Iran unter der Safi-Dynastie die Anzeichen eines bestimmten Aufschwungs aufgewiesen – einerseits u.a. deshalb, weil wegen des von den Portugiesen vom Meer auf die Karawanenstraßen des Festlandes verdrängten arabischen Handels ein Teil der chinesischen und indischen Waren über den Iran in den Mittelmeerraum gelangte; zumindest vorübergehend, da die einen Aufschwung erlebende holländische, englische und französische Handelsschifffahrt für diese Verbindung schon bald eine zu große Konkurrenz darstellte. Übrigens haben 1722 die afghanischen Eroberer den Iran unterworfen, wenn auch nur für kurze Zeit, weil sie von den Turknomaden im Norden unter der Führung des späteren Schahs Nadir Khan bereits 1736 aus dem Lande vertrieben wurden. Ja sie hatten sogar Afghanistan in ihr sich bis zum Indus erstreckendes Reich einverleibt, welches wiederum bald schon zerfiel. Der Iran versank in eine feudale Anarchie, verarmte weiter und war später immer mehr Leidtragender der englisch-russischen Konkurrenz.

Das praktisch eine Welt für sich bildende Indien, welches von den Großmogulen – den Nachfahren der einstigen Erobererdynastien mohammedanischer Turkvölker – aus Delhi regiert wurde, hat den holländischen, englischen und französischen Händlern bereits im 17. Jahrhundert die Genehmigung der Gründung von Siedlungen an der Küste erteilt. Nachdem 1739 der zuvor schon erwähnte Schah Nadir vom Iran her Hindustan und Delhi überfiel bzw. beraubte, brach ein Aufstand gegen den in seiner Macht erschütterten Großmogul aus. Es gelang nur mit Hilfe der Afghanen, jenen niederzuschlagen, welche sich wiederum von diesem Zeitpunkt an als Schützer der indischen Mohammedaner betrachteten. Im Jahre 1761 vernichteten sie den sich gegen die Mohammedaner wendenden indischen Staat Maratha, welcher im Angesicht der schwindenden Macht der Großmoguln das neue politische Zentrum zu sein schien. Die eintretende feudale Anarchie hat den englischen und französischen Kolonialherren den Weg frei gemacht, für deren Rivalität sich gerade Indien zum zweitwichtigsten Schauplatz entwickelte. Mitte des 18. Jahrhunderts begann die französische Indische Gesellschaft unter Ausnutzung interner Fehden der lokalen indischen Herrscher ein wahres Kolonialreich auszubauen. Da das Mutterland – Paris – aber dies missbilligte, war damit der Weg frei für die Ost-Indische Gesellschaft Englands, deren Streitkräfte mit Robert Clive an der Spitze in Ausnutzung der Erschütterung der Macht der Großmoguln 1757 den Nabob, den Regenten der Provinz Bengalen besiegten. Darüber hinaus hat man vom Großmogul gegen eine Jahresrente die reiche Provinz Bihar erworben. Die Gesellschaft hat anschließend mit Steuern und anderen zwingenden Mitteln, mit einer wahren Raubwirtschaft, dieses Gebiet praktisch ausgeplündert, und zwar dermaßen, dass 1770 in Bengalen eine schwere Hungersnot ausbrach. Aufgrund der schwierigen Lage und der jene begleitenden finanziellen Hinterziehungen hat es die englische Regierung als besser erachtet, 1784 schließlich die Führung von Verwaltung und Militär in den indischen Kolonien auf den staatlichen Generalgouverneur zu übertragen, obwohl das Handelsmonopol der Gesellschaft noch bis 1813 bestehen blieb.

Das auf eine alte Zivilisation zurückblickende China, diese andere bedeutende spezifische Welt, hat auch eine gewisse Stabilität seiner Staatsorgane besser vor Eroberungen geschützt. Auch hier waren die mandschurischen Kaiser Nachfahren der nomadischen Eroberer, hatten sich aber bereits den lokalen Gesellschaften angepasst. Charakterisiert war das Reich durch eine ausgedehnte und umständliche Bürokratie, die von den Ideen des Konfuzius zum dogmatischen System erstarrte Ideologie, eine traditionell und umständlich funktionierende Wirtschaftsstruktur sowie den immer gravierenderen technischen Rückstand. Die sich über Jahrhunderte hinweg ansammelnden materiellen und geistigen Güter sowie sich herausbildenden Gepflogenheiten jedoch haben ebenfalls dazu beigetragen, dass die Macht Chinas auf bedeutenden Territorien garantiert erhalten blieb und man dem europäischen Vorstoß für lange Zeit Einhalt gebieten konnte.

Dasselbe galt für die isolierte Inselwelt Japans, wo neben dem Mikado in seiner schon zum Symbol gewordenen Rolle des einst herrschenden Würdenträgers die tatsächliche Macht von den Inhabern des bereits vererbbaren Postens eines Shogun ausgeübt wurde. Unter den asiatischen feudalen Staatsorganen war Japan das entwicklungsfähigste, denn hier gelang es am ehesten, mit der feudalen Anarchie fertig zu werden, weil sogar ein den Feudalherren gegenüber ein gewisses Gegengewicht darstellendes urbanes Bürgertum existierte. Aus eigener Kraft allein aber konnte sich der Kapitalismus auch hier nicht entfalten. Die Feudalstaaten Asiens kamen mit dem Kapitalismus zuerst über die fremden, europäischen Eroberungsmächte als einem Bestandteil jener in Kontakt.

Vom Feudalismus kann nämlich auch im Falle anderer Länder außerhalb Europas gesprochen werden, genauer gesagt von solchen, auf Privilegien basierenden gesellschaftlich-politischen Systemen, die mehr oder weniger dem Begriff Feudalismus zugeordnet werden können. Der Kapitalismus jedoch, d.h. das bürgerliche wirtschaftliche und gesellschaftliche System – so scheint es – war auf spontane Art und Weise aufgrund interner Voraussetzungen nur in Europa, und zwar in seinem Epizentrum, in der am weitesten entwickelten Region geboren, anderswo dann infolge des Druckes und der Herausforderung dieser bereits entfalteten Initiativen, also als Folge jener überall in der Welt. Theoretisch können wir selbstverständlich annehmen, dass die Transformation der Gesellschaft und damit verbundene Folgen eventuell nach einiger Zeit auch anderswo aufgetreten wären, wo die Chancen einer späteren spontanen Änderung gegeben waren. Diese Annahme jedoch kann nicht bestätigt werden bzw. würde auch nichts an historischen Erfahrungen und Tatsachen ändern.

Europa versah die weite Welt mit dem, was eben zur Verfügung stand. Mit einer höher entwickelten Kampftechnik hat man die lokalen Zivilisationen Lateinamerikas besiegt, später wurden andere Orte der Welt mittels wirtschaftlichen Vordringens, mit dem Handel und kapitalistischen Methoden unter Kontrolle gebracht. War Gewalt vonnöten, gesellten sich zu diesen Methoden natürlich Unterdrückung und Waffengebrauch, mit anderen Worten: nicht selten eine ganze Reihe schwerer Konflikte. Letztendlich aber erfolgte nach gewisser Zeit die Verbreitung der den Feudalismus überwindenden neuen Gesellschaftsordnung mit ihren politischen Ideen, Institutionen und technischen Errungenschaften. Dies wiederum trug unter anderem dazu bei, dass verschiedene andere Kulturen, die jener Aufgabe gewachsen waren, sich aus eigener Kraft, das Vordringen Europas abwehrend, weiterentwickelt haben. Europa hat also mittels seiner Expansion – wenn auch mit schwerwiegenden Eingriffen und zu einem hohen Preis – die verschiedensten Kulturen der ganzen Welt dabei unterstützt, sich mit ähnlichen Mitteln und Methoden der Zivilisation auszustatten. Nicht zu vergessen sind dabei jene Staaten in Nordamerika oder später zum Beispiel Australien, bei denen es sich ursprünglich eigentlich um die Übertragung von Anteilen und Niederlassungen der europäischen Kultur handelte.

 

5. Das europäische Staatssystem

Europa selbst war in politischer Hinsicht traditionell und auch spektakulär geteilt. Die Rivalität der unterschiedlichsten Mächte, die Kollision verschiedenster Interessen und nicht selten bewaffnete Konflikte in abwechslungsreichen Verbundsystemen charakterisierten den Kontinent, wobei lokale Fehden oftmals in größere Kriege mündeten. Trotzdem bildete sich ein solches zusammenhängendes europäisches Staatensystem – zumindest bereits ab dem 16. Jahrhundert –, innerhalb dessen derzeit bereits theoretisch Methoden und Mechanismen des Zusammenlebens der Mächte formuliert wurden. Die internationale juristische und politische Literatur hat immer entschiedener betont, dass die einander gegenüberstehenden Mächte Europas trotz aller Reibereien und Kollisionen Bestandteile ein und desselben größeren Ganzen waren. Dementsprechend formulierte Emmerich de Vattel in seiner Arbeit über des Völkerrecht (Le droit des Gens, 1758), dass das moderne Europa in Abweichung vom alten ein politisches System bilde, bei welchem es sich schon nicht mehr um die verwirrende Anhäufung isolierter Teile’ wie einst handele, sondern um einen solchen Mechanismus, der nach dem Gleichgewichtsprinzip der Macht in Gang gehalten wird. Andere wiederum – vom Anglo-Amerikaner William Penn Ende des 17. Jahrhunderts bis zum deutschen Philosophen Kant Ende des 18. Jahrhunderts – begannen schon nach Möglichkeiten und Voraussetzungen eines allgemein friedlichen Miteinanders ohne bewaffnete Konflikte zu forschen, vorläufig jedoch mittels utopischer Formulierung.

Bedeutende Stationen des bei weitem nicht reibungslos funktionierenden europäischen Staatssystems waren jene Friedensverträge, mit denen man im Anschluss an die von Zeit zu Zeit auflodernden ernsthafteren Kriegskonflikte versuchte, in Europa eine neue internationale Ordnung zu gestalten. Bei diesen Neuformierungen war man selbstverständlich nach Möglichkeit darum bemüht, das Gleichgewicht derart herzustellen, dass es den Interessen der derzeit als Sieger hervorgehenden Seite entsprach. So geschah es früher, im Jahre 1648 nach dem Dreißigjährigen Krieg, dann nach dem den Spanischen Erbfolgekrieg beendenden Utrechter (1713) bzw. Rastatter (1714) Frieden, im Anschluss an den österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1748) und den Siebenjährigen Krieg (1756– 1763), zuletzt dann im Jahre 1815.

Innerhalb des europäischen Staatssystems haben die Großmächte der höher entwickelten, nordwestlichen Region in der internationalen Politik die Hauptrolle gespielt. Die Rivalität jener aber hat sich auch auf die Randzonen ausgewirkt, die sich auf eigene Art und Weise in das Staatssystem Europas einpassten und eingliederten. Außer den Großmächten – die sich nacheinander in der Spitzenposition abwechselten – gibt es ebenso die europäischen Kleinstaaten. Deren Weiterbestehen oder aber Zustandekommen war vor allem jenem Umstand zu verdanken, dass die Großmächte im Verlaufe der Neuordnung Europas die Existenz gewisser kleiner Staaten für nötig erachteten. Einesteils deshalb, weil man sie zwischen einige größere Länder als Pufferstaat vorsah und hauptsächlich deshalb, weil dem eben unterlegenen Gegner auch auf diese Weise ein Hindernis für eventuell neuerwachende Expansionsambitionen in den Weg gestellt werden sollte. Auf diese Weise wurden solche Kleinstaaten zu bescheideneren, ergänzenden Elementen des europäischen Staatssystems. Den schweizerischen Kantonen und den Niederlanden zum Beispiel – die 1648 von der besiegten Habsburgmacht anerkannt werden mussten – kam jetzt, 1715, eine ähnliche Rolle in Bezug auf Frankreich zu. Diese Fälle galten in erster Linie für die unmittelbare Nachbarschaft führender und rivalisierender Großmächte, also die höher entwickelte Zone. Großmachtinteressen haben darüber hinaus das System der Kleinstaaten über einen langen Zeitraum hinweg in Italien und Deutschland aufrechterhalten. Der Westfälische Frieden hat 1648 die Zerstückelung des ohnmächtigen Deutsch-Römischen Reiches dermaßen gesteigert, dass den deutschen Kleinstaaten das Recht zustand, ohne die Zustimmung des Kaisers auch mit externen Mächten ein Bündnis zu schließen. Dies hat im Vergleich zum Habsburghaus den Interessen Frankreichs gedient. Den sich auf diese Weise auf die deutschen Staaten des Rheinlandes ausdehnenden Einfluss aber hat man bereits 1715 liquidiert. Die italienische und mitteleuropäische deutsche Aufsplitterung bestand so lange, bis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Großmächte zum Ausgleich ihres gegenseitigen Einflusses es dann erleichterten, dass die Integrationskräfte des italienischen und deutschen Nationalismus zur Geltung kommen konnten. Als noch dauerhafter erwies sich dann jener Prozess, im Verlaufe dessen die einstigen mittelalterlichen Staaten Ostmitteleuropas – darunter auch Ungarn – nacheinander in den Rahmen größerer Reiche gelangten und aus jenem nur später ausbrechen konnten.

Unter den vier stärksten Rivalen setzte sich im 18. Jahrhundert England an die Spitze, in erster Linie als bedeutendste See- und Kolonialmacht. Auf dem Kontinent hingegen vermochte England seine Bedeutung nicht in dem Maße geltend zu machen, wie zuvor das sich auf umfangreiche Landstreitkräfte stützende Frankreich. Die Politik Englands war um die Geltendmachung des Prinzips des Gleichgewichtes der Macht bemüht. Mit anderen Worten: man versuchte immer den stärksten Staat, den möglichen Rivalen mit Hilfe anderer daran zu hindern, in Europa an Übergewicht zu gewinnen und eine vorherrschende Rolle zu spielen. Da die Macht Spaniens stark schwand und Holland seit Wilhelm III. von Oranien (1689–1702) sich anpassender Verbündeter Englands war, stellte praktisch Frankreich den Erzrivalen dar. Die französische Hegemonie in der internationalen Politik fand ein Ende, als man nach dem Spanischen Erbfolgekrieg fast zusammenbrach und mit dem Tode Ludwig XIV. (1715) endgültig die einst strahlende Epoche des Sonnenkönigs zum Abschluss kam. Geblieben ist hingegen noch für lange Zeit das kulturelle und sprachliche Prestige. Der Führer der Whig-Partei, der Herzog von Marlborough hat die Nachkommin Wilhelms, Königin Anna (1702–1714) dazu bewogen, sich im Bündnis mit Österreich am Spanischen Erbfolgekrieg zu beteiligen, und obwohl die Torys 1710 die Regierung stürzten, hat England den Krieg mit einem erfolgreichen Kompromiss beendet. Im Weiteren hat man das Augenmerk hauptsächlich auf den Seehandel und die Kolonien gelenkt. Unter der Herrschaft von George I. (1714–1727) bzw. George II. (1727–1760) bzw. während der langen Ministerpräsidentschaft von Robert Walpole (1721–1742) hat sich jenes neue politische System der konstitutionellen Monarchie herausgebildet, deren theoretische Grundlagen zuvor von John Locke formuliert wurden und die eine Basis im Bund von Großgrundbesitz und Kapitalbürgertum gefunden hatten. Das Recht der Gesetzgebung stand somit dem Parlament zu. Die Gesetze haben die Macht des Königs eingeschränkt, der seine Exekutivmacht über seine Minister ausübte, welche wiederum dem Parlament gegenüber Rechenschaft schuldig waren. Hieraus entwickelte sich jenes Grundmuster, welches später die zur bürgerlichen Struktur übergehenden Länder nacheinander nachzuahmen versuchten. Zu den Spezifika der englischen Entwicklung gehörte – im Wesentlichen der Diskrepanz von Eigentums- und Handelskapital entsprechend – die Wechselwirtschaft der Torys (Konservative) und der Whigs (Liberale). Vorläufig aber war diese bürgerliche Verfassungsmäßigkeit mit einem außerordentlich dürftigen Wahlsystem gepaart: von 7 Millionen Einwohnern verfügten nur 150.000 über das Wahlrecht.

In Frankreich blieb das alte System des Absolutismus bestehen, jedoch ohne die alte Autorität und mit ständig spürbareren finanziellen, moralischen sowie politischen Krisen. Dem Sonnenkönig folgte auf dem Thron sein Urenkel, Ludwig XV. (1715–1774), anstelle dessen während seiner Minderjährigkeit zunächst als Regent Herzog Philipp von Orleans die Angelegenheiten in die Hand nahm. Der neue König aber erwies sich auch später nicht als die geeignete Persönlichkeit, das Ansehen von Führung und politischem System wieder herzustellen. Der Prunk, die Verschwendung, seine Gleichgültigkeit, die Einmischung seiner Geliebten (Pompadour, Dubarry) in die Politik, die vielen willkürlichen Maßnahmen haben alle den Oppositionskräften und der unzufriedenen öffentlichen Meinung die Gelegenheit dazu geboten, die politische Führung und allgemein die Autorität zu untergraben. Der Königshof wurde immer mehr zum Gegenstand des öffentlichen Hasses. Die Gegner des absolutistischen Systems rekrutierten sich aus den Reihen des ständische Traditionen befolgenden Adels einerseits sowie jenen des erstarkten Bürgertums andererseits. Industrie und Handel hatten im Frankreich des 18. Jahrhunderts einen bedeutenden Aufschwung zu verzeichnen, doch hat es der sich bereichernde Bürger umso schwerer ertragen, dass man ihn mit feudalem Hochmut behandelte und aus der Machtausübung ausschloss.

Auf die Situation in der Habsburgmonarchie, d.h. in Österreich und damit auch Ungarn, wird an anderer Stelle eingegangen. Es soll jedoch auf die Nachbarn verwiesen werden. Das gilt vor allem für den frühesten und ältesten Gegner, das Osmanische Reich, welches zwar stark zurückgedrängt wurde, noch immer aber den Balkan, Serbien, die rumänischen Fürstentümer beherrschte und noch immer darum bestrebt war, verloren gegangene Gebiete zurückzuerobern. Bedeutende Veränderungen hingegen haben nicht allein für die östlichen Regionen sondern allgemein für die europäische Politik zwei neue Großmächte mit sich gebracht: das aufstrebende Preußen und Russland. Ersteres gestaltete sich infolge der ausdauernden Organisationstätigkeit über mehrere Generationen hinweg, zunächst seitens der Brandenburger Kurfürsten und ab 1701 dann der preußischen Könige, zum Rivalen Österreichs, was in erster Linie dem effektiveren Militär bzw. dem staatsbehördlichen Apparat zu verdanken war. Friedrich II. (der Große, 1740–1786) vermochte bereits der größeren, jedoch weniger schlagkräftigen Habsburgmonarchie gegenüber in zwei Kriegen seinen Eroberungsabsichten erfolgreich Geltung zu verschaffen. Der neue Fortschritt in Russland erhielt seinen Anstoß vom außerordentlich energischen Zaren Peter I. (der Große, 1689–1725) mit seinen Bemühungen um einen Zugang zum Meer, seinen Versuchen der Einführung westlicher technischer Methoden und der Festigung der herrschenden Zentralmacht der orthodoxen Kirche und dem Adel gegenüber. Im Verlaufe des langandauernden Nordischen Krieges (1700–1721) gelang es schließlich, die Macht des Erzrivalen Schweden zu brechen. Und obwohl er zunächst eine Niederlage vom Schwedenkönig Karl XII. einstecken musste (Narva, 1700), hat er doch den entscheidenden Sieg über ihn errungen, als der Gegner in Russland einfiel (Poltawa, 1709). Karl XII. floh in die Türkei, und kehrte später mit spärlicher Begleitung zu Pferde über Ungarn nach Hause zurück, wo er bald darauf beim Ansturm auf eine Burg fiel. Russland hat 1721 den Nordischen Krieg erfolgreich abgeschlossen, denn man errang Litauen, Estland sowie die Ostküste des Finnischen Meerbusens. Peter I. unternahm große Anstrengungen zur Förderung von Handel, Manufakturindustrie, Militär sowie zur effektiveren Gestaltung der öffentlichen Verwaltung und zwar auf jene Weise und in dem Maße, wie ihm das unter den gegebenen Schwierigkeiten und einfachen Verhältnissen möglich war. Mit eisernem Willen und das Gemeinwerk antreibend hat er die großartige Barockstadt St. Petersburg errichten lassen, die er ab 1714 zur Hauptstadt deklarierte. Ein paar Jahrzehnte später dann kam der Armee und Diplomatie Russlands im Siebenjährigen Krieg herausragende Bedeutung zu.

Im Zusammenhang mit beiden neuen Mächten, d.h. Preußen und Russland, muss darauf hingewiesen werden, dass deren Führungskräfte und Herrscher sich zwar Leitungspraktiken und -techniken des westlichen Absolutismus angeeignet hatten, doch wandten sie diese in solchen Gesellschaften an, denen es zum einen an spontaner Sachkenntnis zum Versehen der neuen Funktionen mangelte, vor allem aber an jenem weitverzweigten Netz des Gewohnheitsrechtes, welches im Westen doch in vielerlei Hinsicht die totale Macht der Herrscher einschränkte. Hieraus ergab sich für die beiden Staaten hinsichtlich des militärischen und politischen Systems in gewisser Hinsicht – wenn auch nicht gleichermaßen – der effektive, dabei aber verstärkt auf Befehlen basierende, autoritative, diktatorische Charakter.

 

Domokos Kosáry ist ein Gründungsmitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Europa Institutes Budapest, er war von 1990–1996 Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, er ist der Doyen der ungarischen Historiker. Bei vorliegendem Material handelt es sich um das Schlusskapitel seines jetzt, im Jahre 2001 veröffentlichten Buches (Wiederaufbau und Verbürgerlichung 1711–1867). Das Buch erscheint übrigens als dritter Band der auch vom Europa Institut unterstützten Reihe „Ungarn in Europa”