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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 26:9–11.

FERENC GLATZ

Die österreichische Neutralität, Ungarn und das internationale Kräftefeld*

Moralische, militärische und wirtschaftliche Faktoren in der Geschichte

 

1. Der „letzte Vasall” und das „Opfer” (1945–1955)

Österreich schloss sich 1938 dem Deutschen Reich an. Der in Wien einziehende Adolf Hitler wurde von einer begeisterten Masse von Hunderttausenden begrüßt. Vom Ausbruch des Krieges bis zu seinem Ende wurden mehr als eine Million österreichische Soldaten in die Wehrmacht eingezogen. Bis zum letzten Augenblick des Krieges versuchte keine einzige politische Strömung in Österreich, ihren einstigen Staat wiederherzustellen oder die Teilnahme am Krieg zu beenden.

Ungarn wurde am 19. März 1944 von deutschen Truppen besetzt – und diese wurden nur von wenigen begrüßt. Es bildete sich eine deutschfreundliche Regierung. Am 15. Oktober 1944 versuchte allerdings das Staatsoberhaupt, Ungarn vom Dritten Reich loszulösen. Die Besatzungsmacht verhinderte dies.

Im Jahre 1945 betrachteten die Alliierten Österreich als „Opfer”, behandelten die Frage des mit Österreich – möglicherweise – abzuschließenden Friedensvertrages als gesondert zu behandelnde Angelegenheit und beendeten schließlich die Besatzung. Österreich wurde mit der Neutralität belohnt. Ungarn hingegen blieb – ähnlich den anderen Verbündeten Deutschlands – bis 1990 besetzt. Ungarn wurde gar als „letzter Vasall Hitlers” abgestempelt, teils von den Siegermächten (Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich), teils von jenen ehemaligen Verbündeten, zu denen Interessengegensätze bestanden (Rumänien und die Slowakei), und teils von den neuen politischen Strömungen, die 1945 an die Macht gelangten. Noch 1955, nach dem österreichischen Staatsvertrag, kam es niemandem in den Sinn, die Rolle Ungarns mit derjenigen Österreichs zu vergleichen. Zumindest jetzt, zum 50-jährigen Jubiläum des Staatsvertrages, sollten die moralischen Qualifizierungen überdacht werden: Wer war in Wirklichkeit der „letzte Vasall”, wer war wirklich das „Opfer”…

 

2. Großmachtinteressen und moralische Argumentation
(1955, 2005)

Wie im Jahre 1945 die Interessen der Großmächte über die Staatsgrenzen, über die Besetzung und über die Aussiedlung von Volksgruppen entschieden, so waren auch 1955 die Kräfteverhältnisse zwischen den Großmächten für die Neutralität Österreichs bestimmend. Ihr langfristiges Interesse war es, ein Wiedererstarken Deutschlands zu verhindern. Im Falle Österreichs wurde nicht aufgrund der tatsächlichen Rolle des Landes während des Weltkrieges, nicht aufgrund irgendeiner moralischen Werteordnung über die Freiheit der Österreicher entschieden. Vielmehr fürchtete man sich vor einer „Wiederauferstehung” Deutschlands und wollte daher eine dauerhafte Selbständigkeit Österreichs gewährleisten.

Es muss zur Kenntnis genommen werden, dass Glück und Zufall historische Faktoren sind. Aber das Glück und die Möglichkeit des Zufalls müssen erkannt werden. Ungarn eröffnete sich erst 1956 eine „zufällige” Situation. Diese wurde von den ungarischen Führern auch ausgenutzt, aber ein erneuter Zufall – der Ausbruch der Suez-Krise Ende Oktober 1956 – machte eine Konsolidierung der Revolution unmöglich. (1989 bot sich dann ein ebensolcher Zufall, der auch ausgenutzt wurde…)

Es muss zur Kenntnis genommen werden, dass Großmächte die Durchsetzung ihrer Machtinteressen niemals offen verkünden. Die politischen Propagandamaschinerien der Staaten entwickeln verschiedene moralische, für die Massen akzeptable gefühlsmäßige und kausale Begründungen, um ihre Maßnahmen zu untermauern. (Denn die Menschen werden – ganz zu recht – so erzogen, dass sie von der Wichtigkeit moralischer Faktoren überzeugt sind und auch der Historiker möchte an ihre Kraft glauben, 1955 ebenso, wie 1945, 1920 oder wie gerade 2005.) Die Historiker müssen aufpassen, dass nicht auch sie Teil irgendeines Propagandaapparats werden.

 

3. Das „Gemeinsame Werk”: Der Kalte Krieg

Der Kalte Krieg ist die gemeinsame „Leistung” der vier Großmächte. Heute kann bereits nachgewiesen werden, dass nicht nur die diktatorische Sowjetunion, sondern auch die demokratischen Vereinigten Staaten von Weltmachtbestrebungen und entsprechenden Aktivitäten geprägt waren. (In diesem Zusammenhang dürfen nicht nur die Militärbasen berücksichtigt werden, sondern auch „politikfrei” erscheinende Aktivitäten wie z.B. die Ausweitung der Dollarzone zu Lasten des Pfundes, die Expansion der Kulturindustrie usw.) Nur deshalb, weil der Historiker die demokratische Ordnung als einzigen gangbaren Weg betrachtet, darf er dennoch nicht verschweigen, dass auch demokratische Staatsführungen „Aggressoren” sein können.

 

4. Die Rolle der technisch-wissenschaftlichen Erfindungen (1945–1990)

Bei der Untersuchung der Triebfedern der Weltpolitik zwischen 1949 und 1990 ist es notwendig, den wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Neuerungen größeres Interesse zukommen zu lassen. Vor einigen Jahren haben wir ein Experiment unternommen: Wir haben versucht, die mehrfache Wende in der Weltpolitik mittels der Entwicklungen in Technik und Wissenschaft zu erklären. (Atom, strategische Langstreckenbomber, Raketentechnik, Weltraumforschung, digitale Informations- und Steuerungssysteme; siehe hierzu den Artikel „Űrkutatás, közgondolkodás, történettudomány” [Weltraumforschung, allgemeines Denken und Geschichtswissenschaft], in: História 7/2000.) Wenn wir diese Faktoren nicht beachten, dann erscheinen lediglich unmittelbare Wirtschaftsinteressen und Ideologien (gegebenenfalls der Kampf zwischen „gut” und „böse”) als Triebkräfte der Geschichte.

 

5. Monozentrische oder multizentrische Weltordnung
(1945–2005)

Das Jahr 1955 veranlasst dazu, über die weltpolitischen Systeme nachzudenken. Es scheint, dass die multipolare Ordnung mehr Alternativen bietet und bei der Lösung von mehr lokalen Konflikten mithelfen kann, als eine monozentrische Ordnung. Die sowjetischen und amerikanischen – und neben ihnen auch die britischen und französischen, später die chinesischen – Machtzentren haben letztlich den wichtigsten weltgeschichtlichen Prozess in den Jahren von 1945 bis 1990 vorangetrieben, nämlich die Emanzipation der Gesellschaften der „Nicht-Weißen-Menschen” und die Entwicklung ihrer eigenen Verwaltungsinstitutionen. (Dies trifft auch dann zu, wenn dies im Rahmen von Wirtschafts-, Kultur- und Interessensphären-Politik erfolgte und von Waffenhandel und Ideologie-Export begleitet war.) Die heutige nordamerikanisch-europäisch-chinesisch-arabische Welt regt hinsichtlich des entstehenden Multizentrismus zum Nachdenken an.

Aber auch das Studium des österreichischen Falles gibt zu denken: Anstelle des Wettkampfes der Großmächte ist die Kooperation der Weltmächte notwendig. Der Mangel an Zusammenarbeit zwischen den Großmächten kann Konflikte über Jahrzehnte hinaus verlängern. Der Zweite Weltkrieg endete in Österreich – als glücklicher Ausnahmefall und Ergebnis der Großmachtkooperation – 1955. In den anderen Verliererstaaten in Europa fand er erst 1990 sein Ende, nämlich mit dem Zusammenbruch der einen Großmacht.

 

* Skizze des Einführungsvortrages anlässlich der Konferenz zum 50. Jahrestag des österreichischen Staatsvertrages an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Budapest. Die Tagung wurde am 9. Juni 2005 abgehalten und vom Institut für Geschichtswissenschaft an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie vom Budapester Europa Institut ausgerichtet.