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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 7:39–48.

PÉTER SIPOS

Der Internationale Spielraum Ungarns 1957–1964

 

Am 23. Oktober 1964 mussten die Mitglieder des Politbüros der USAP (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei, ung. MSZMP) die Worte von János Kádár erschüttert gehört haben, in denen es um die Einzelheiten der Entlassung des N. S. Chruschtschow und die offiziellen sowjetischen Begründung ging. Der Erste Sekretär teilte mit, dass die Nachricht in den Reihen der ungarischen Parteimitglieder Unruhe stiftete. Mehrere befürchten die Rückkehr zur stalinistischen Politik, da – so Kádár – es bereits einige gegeben hätte, die „erfreut auf die Rückkehr des Rákosi” Champagner hätten knallen lassen. Der ungarische Parteivorsitzende äußerte ferner dass er dem sowjetischen Botschafter Denisow mitgeteilt hätte: Unannehmbar, dass Chruschtschow des „Personenkultes” verdächtigt werden könne und in der Bekanntmachung seiner Ablösung hätte man ja auch einiges über seine Verdienste sagen müssen. Kádár stellte verbittert fest, dass er in einer wichtigen Frage ungewöhnlicherweise einen anderen Standpunkt vertritt als „die sowjetischen Genossen – und das ist ungesund, weil es sich hier um tatsächliche Meinungsverschiedenheiten handelt”. Und dies wurde – ähnlich von der früher üblichen Praxis abweichend – auch vor die Öffentlichkeit gebracht. Die „Népszabadság” publizierte nämlich Kádárs würdigende Worte über Chruschtschow – beispiellos in den Ländern des „Blocks”. Der ungarische Parteivorsitzende war sich über die Spielregeln und die Etikette natürlich im klaren und wusste, dass ihm L. I. Breschnew, der frischgebackene sowjetische Erste Sekretär, seine offene Sympathieerklärung für den putschartig entfernten Vorgänger nie verzeihen wird. Für Kádár war der Chruschtschowismus jedoch politisch lebenswichtig, und er wollte die Kontinuität um jeden Preis betonen.

In keiner anderen der Haputstädte der sowjetischen Blockländer wurde den erbitterten Machtkämpfen in der sowjetischen Parteiführung 1957–58 soviel Aufmerksamkeit geschenkt wie in Budapest – vielleicht Warschau könnte hier noch hervorgehoben werden. Die Mehrheit der ungarischen politischen Öffentlichkeit unterstützte Chruschtschow, dem es im Juni 1957 gelang, die Molotow-Kaganowitsch-Malenkow-Gruppe und ihre Verbündeten aus dem obersten Führungsorgan, dem Präsidium zu entfernen. Die seit Stalins Tod im März 1953 mehr oder weniger verwirklichte Kollektivführung wurde praktisch abgeschafft, und der Erste Sekretär sicherte sich eine exklusive Führungsrolle. Diese Stellung wurde mit der Entlassung des Verteidigungsministers Schukow im Oktober 1957 weiter stabilisiert. Chruschtschow – obwohl er keinesfalls über eine Machtstellung stalinistischen Charakters verfügte – erlangte das ultimative Entscheidungsrecht innerhalb des Präsidiums, er war berechtigt, die Zusammensetzung der Führungsorgane zu bestimmen, wodurch er seine privilegierte Position weiter verstärken konnte. Nach der Entfernung des Regierungschefs Bulganin 1958 vereinigte er in seinen Händen die Ämter des Ersten Sekretärs und des Ministerpräsidenten. Außer ihm konnte keiner mehr über einen als eigene Hausmacht fungierenden Apparat verfügen.

So konnte Chruschtschow die auf dem XX. Kongress der KPdSU angefangene Destalinisierung fortsetzen, ferner seine Reformen zwecks etwaiger Modernisierung des Sowjetsystems. Dies war für Kádár eine lebenswichtige Frage, da er sich von den Parteichefs des sowjetischen Blocks am meisten dem Begriff des „Musterschülers” im chruschtschowistischen Sinne näherte. „Wäre die Chruschtschowsche Politik dem Stalinismus oder Neostalinismus unterlegen, so hätte der einstige Innenminister keine Illusionen im Bezug auf seine politischen Chancen gehabt. Bestenfalls hätte er mit der völligen Bedeutungslosigkeit am Rande der Gesellschaft rechnen können. So wurde seine politische Karriere untrennbar von dem Erfolg Chruschtschows seinen Gegenspielern gegenüber” – schrieb über ihre Schicksalsgemeinschaft Ferenc Fehér.

Die Lage der Kádár-Führung wurde jedoch nicht bloß durch die Geschehnisse auf der obersten Ebene der KPdSU beeinflusst. Die Änderungen in der Weltkommunistischen Bewegung erwiesen sich – im Zusammenhang mit den vorhin bereits angesprochenen Problemen – als nicht weniger bedeutend. Die frühere – zumindest nach außen demonstrierte – monolithische Einheit wurde ab 1957 selbst für die Außenwelt erkennbar durch ein instabiles internationales System ersetzt, in dem die erbitterten Auseinandersetzungen und 1962–63 die sich schon bis zur Trennung vertiefenden Krisen alltäglich wurden. Die führende Rolle der sowjetischen Partei war dahin, in den Manifestationen der KPdSU ging es lediglich um die „erste Partei” oder den „Vortrupp”.

Immer mehr kam – wie P. Togliatti ausgedrückte – der Polizentralismus zur Geltung, die Bedingung der Selbständigkeit der einzelnen Parteien. Die ehemalige Einheit spaltete sich zwar nicht in zwei kleinere, doch aber auch kohärente Teile. Die wichtigste Trennung stellte zweifelsohne die sowjetisch-chinesische Rivalität dar, die auch auf die meisten anderen Streite Einfluss nahm.

Andererseits aber schuf weder der eine noch der andere Rivale ein „eigenes” neues politisches Zentrum, so zerbrach der frühere Monolith in Mosaike. Die Staatsbürger versuchten, ihre eigenen nationalen Interessen zur Geltung zu bringen, während sie unter Regierungsproblemen litten. Die Bewegungen, die keine regierende Position einnahmen, versuchten den Rückgang ihres gesellschaftlichen Einflusses und ihrer Bedeutung aus eigenen Kräften aufzuhalten. Die in Ungarn Politisierenden blickten auch um die Wende der 50-er und 60-er Jahre so gut wie gewohnheitsmäßig hinter die Zeilen der Tageszeitungen und folgten mit Vorliebe der Tradition, die durch die einheimische Massenkommunikation streng kontrollierten Informationen um von ausländischen Rundfunksendern entstammende Nachrichten zu ergänzen. So sprach sich herum, dass es mit den Jugoslawen wieder „Probleme gibt”, was keinen wunderte. Umso erstaunlicher war aber selbst für die sich für berufen haltenden homo politici, dass es „Probleme”, sogar, wie es immer mehr klar wurde, „schwere Probleme” mit den Chinesen gebe.

Diesmal rechneten viele mit der Tatsache, dass hier nicht von Streitigkeiten abstrakten, theologischen Charakters die Rede ist, sondern die Streite in der internationalen kommunistischen Bewegung – aus Abhängigkeitsrelationen heraus – den ganzen Spielraum des Systems und dadurch auch die einheimische Lebenssituation auf direkte Weise mit beeinflussen.

(960 wurde das Dokument „Über unsere Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Beurteilung der Weltsituation, der strategischen und taktischen Fragen der internationalen kommunistischen Bewegung” vom Politbüro der USAP erstellt, welches im darauffolgenden Monat dem Vorbereitungsausschuss der für November vorgesehenen Moskauer Konferenz zur Kenntnis gebracht wurde. Aus dem als offizielle Stellungnahme der ungarischen Partei anzusehenden Resümee geht hervor, dass sich die Chinesische Kommunistische Partei gegen die Erklärung von 1957 wandte, in der die internationale Lage im Geiste des XX. Kongresses der KPdSU von 1956 beurteilt wurde. Die chinesische Führung stufte die von Chruschtschow formulierten Thesen über das friedliche Zusammenleben von Ländern unterschiedlicher Gesellschaftsordnung und die mögliche Herbeiführung einer Proletardiktatur auf friedlichem Wege als fehlerhaft ein. Nach Mao Tse-tung sei der Imperialismus ein „Papiertiger”. Diese Ansicht wurde vom ZK der USAP so kommentiert: „Wenn hinter dem Imperialismus nur ein Papiertiger steckt, warum jagten wir ihn denn nicht aus Südkorea hinaus, warum dulden wir, dass er auf der Insel von Taiwan so dasitzt, warum jagen wir ihn nicht aus Europa hinaus, warum wird er in Japan nicht zerschlagen, und so weiter und so fort?” Die erste und direkte Zielscheibe der Angriffe der chinesischen Führung war um die Wende der 50-er und 60-er Jahre öffentlich noch nicht die KPdSU, sondern der Bund der Kommunisten Jugoslawiens. So wollte Mao Tse-tung die Scheineinheit zwischen den beiden großen Parteien vorerst bewahren.

Als Vorwand zu einer erneuten Offensive gegen die Jugoslawen diente, dass das neue Parteiprogramm der BKJ vom April 1958 den Bürokratismus und den Etatismus, ferner den pseudorevolutionären Sektarianismus ablehnte, sich außerdem zum Selbstverwaltungsideal bekannte und die Rolle der Partei lediglich auf Erziehung und Überzeugung beschränkte. Dies löste eine große Empörung in den Führungsspitzen der kommunistischen Parteien der Sowjetblockländer raus, und sie bemängelten in einem kritischen Ton den „Revisionismus” der Jugoslawen. Die Chinesen verlangten darüber hinaus, dass sie Belgrad gegenüber wieder die Stellung des stigmatisierenden und ausgrenzenden Kominform-Beschlusses von 1949 beziehen sollten, was selbst die Aufrechterhaltung von zwischenstaatlichen Beziehungen unmöglich gemacht hätte. Die anderen Parteien – mit Ausnahme der Albaner – begnügten sich mit der Tonlage des Kominform-Beschlusses von 1948, die zwar ähnlich unbegründet und unberechtigt, doch eher kritisch als verurteilend war.

Nach der bereits zitierten Stellungnahme des Politbüros der USAP vom September 1960 „sollen wir trotz der tiefgreifenden ideologischen und politischen Gegensätze danach streben, mit Jugoslawien zwischenstaatliche Normalbeziehungen zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Auch diese zwischenstaatlichen Beziehungen haben etwaige Auswirkungen auf die Gestaltung der internationalen Zusammenarbeit mit neutralen Ländern. Dem sollte die Frage der zwischenstaatlichen Beziehung zu Jugoslawien untergeordnet werden. Dies ist nicht minder wichtig im Hinblick auf die Förderung des Kampfes um die Aktionseinheit des westeuropäischen Proletariats. Eine abnormale zwischenstaatliche Beziehung zwischen den Ländern des sozialistischen Lagers und Jugoslawien erschwert unseren westeuropäischen Schwesterparteien den Kampf um die Aktionseinheit der Kommunisten und Sozialdemokraten.” János Kádár schloss sich also gleich und augenfällig dem sowjetischen Standpunkt, beziehungsweise Chruschtschow an. Auf der Sitzung des ZK der USAP am 21. Dezember 1960 äußerte er zur Moskauer Konferenz: „... der ideologische Kampf bestand unsererseits und seitens anderer Schwesterparteien in der Verteidigung derjenigen Hauptlinie, ...die von der KPdSU im Sommer 1953 initiiert worden war, ... und die mit dem XX. Kongress weiter befolgt wurde... Wir haben dafür gekämpft, diese Linie hat gesiegt und sich verstärkt.” Der Spielraum der Kádár-Führung wurde maßgeblich durch die Ost-West-Beziehungen beeinflusst, unter anderen auch durch das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten. Für die Wende der 50er–60er Jahre war kennzeichnend, dass sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjetunion anfingen, ein Gleichgewicht der „strategischen Einschüchterung” zu entwickeln. Dies waren die Übergangsjahre, in denen die Weltmächte die machtpolitischen Möglichkeiten und Grenzen des Rivalen gegenseitig erfassten. Der Rüstungswettbewerb, der noch unentschieden zu sein schien und den beiden Chancen zum Gewinn der Oberhand bot, wurde zum entscheidenden Faktor im außenpolitischen Denken und Handeln der beiden Bündnissysteme. Das Misstrauen den Absichten des anderen gegenüber und die Unsicherheit bei der Erfassung seines Rüstungspotentials führten auf der einen wie auf der anderen Seite zu übertriebenen Schätzungen und Mutmaßungen. Auch mit diesen labilen und Argwohn erregenden Kalkulationen ist der häufige Wechsel von Spannung und Entspannung zu erklären.

In den Ost-West-Beziehungen folgten die Phasen der Détente und des Antagonismus zyklisch aufeinander. Die erste Entspannungsphase dauerte von Stalins Tod bis zu dem Suez-Krieg und der sowjetischen Intervention in Ungarn. Ab 1957 begann es wieder zu „schmelzen”, und 1958 kam es zu Verhandlungen über die Einstellung von nuklearen Versuchen. Darauffolgend initiierte Chruschtschow eine die Konfrontation wiederbelebende Kampagne zur Lösung der deutschen Frage und des status quo Berlins. Nach diesem Zwischenfall wurde 1959 das Treffen zwischen Eisenhower und Chruschtschow in den Vereinigten Staaten unter Dach und Fach gebracht. Die nach der Präsidialresidenz „Geist von Camp David” genannte etwas freundlichere Atmosphäre wurde wieder abgekühlt durch mit dem Abschuss des U-2 Aufklärers über sowjetischem Gebiet ausgelösten Skandal, und infolge dessen durch das Vereiteln des nächsten Gipfeltreffens in Paris. Doch führten dann 1961 Kennedy, der neugewählte Präsident und Chruschtschow persönliche Gespräche, um einander sozusagen besser kennenzulernen. (So nebenbei sollte bemerkt werden, dass dieses Treffen – unseres Wissens – das erste weltpolitische Ereignis war, das vom ungarischen Fernsehen live übertragen wurde.) Diese „frühen” Zusammenkünfte der führenden Persönlichkeiten der Supermächte brachten der Menschheit keine Erlösung, auch keine Entscheidungen großer Tragweite wurden bei diesen getroffen. Sie waren jedoch äußerst wichtig hinsichtlich der Verbesserung der politischen Atmosphäre. Ost und West hatten zumindest Minimalkontakte miteinander, und die Welt sah und empfand, dass trotz und inmitten gegenseitiger Beschimpfung und Beckmesserei der amerikanisch-sowjetische Dialog doch weitergeführt wird und an dessen Kontinuierlichkeit die beiden Seiten interessiert sind.

Dies schien auch durch einiges nur bestätigt zu sein, dass nämlich die territoriale Unverletzbarkeit der Vereinigten Staaten für den Fall eines bewaffneten Konflikts völlig dahin war, nachdem die erste sowjetische interkontinentale ballistische Rakete und dann der erste künstliche Erdsatellit (Sputnik) gestartet worden waren. Die amerikanische Regierung füllte die „Raketenlücke” mit nahezu panischen Anstrengungen sofort aus und konnte so ihren Rückstand aufholen. Anfang der 60er Jahre entwickelte sich die Fähigkeit der „gegenseitig gesicherten Vernichtung” (Mutual Assured Destruction, MAD) heraus. Die beiden Supermächte sahen als gemeinsames Interesse an, die Lage durch eine verhandlungsgemäß vereinbarte Rüstungskontrolle zu stabilisieren. Die Rüstungskontrolle – laut einer zu jener Zeit gängigen Definition – „beinhaltet jede Form von militärischer Zusammenarbeit zwischen potentiellen Gegnern, um die Wahrscheinlichkeit eines Krieges auf das Minimale zu beschränken, seine Ausdehnung und Intensität – falls er doch ausbricht – zu vermindern, ferner die politischen wie wirtschaftlichen Kosten der Kriegsvorbereitungen zu reduzieren.”

Selbst die Tatsache galt als Novum im Verhältnis zu den früheren Jahre, dass über ein „Tempolimit” in puncto Rüstungswettlauf nachgedacht wurde. Hier ging es nicht um leere Propaganda, bombastische und unüberlegte, von Grund aus inakzeptable Vorschläge, sondern um tatsächliche diplomatische Aktivitäten. Es ließen sich die ersten, durch internationalen Konsens realisierten Erfolge sehen: 1957 wurde die Internationale Atom-Energie-Agentur ins Leben gerufen, 1959 wurde das Antarktis-Abkommen unterzeichnet, das auf 14 Millionen Quadratkilometern des Eiskontinents jegliche Nuklearversuche untersagte und eine völlige Demilitarisierung vorschrieb. Damit wurde zumindest ein Erdwinkel aus dem Wettrüsten ausgeschlossen. Ein weiterer wichtiger Faktor war auf dem Weg zur Konsolidierung – was den internationalen Hintergrund anbetrifft –, dass die Entwicklungsländer – insbesondere Südostasien und die arabischen Staaten, weniger Zentralafrika – zu den Hauptakteuren der Weltpolitik avancierten.

Die Chruschtschowsche Denkweise stellte eine wesentliche Neuerung im Vergleich mit den Ansichten Stalins dar, da er in der Dritten Welt – auch dieser Begriff selbst muss zu jener Zeit eingebürgert worden sein – potentielle Verbündete erahnte. „Für den Kampf gegen den Weltimperialismus” 1958–59 begann der Wettlauf zwischen den Sowjets und Amerikanern um die Positionen im Nahen Osten.

Die sowjetischen Stellungen wurden dadurch nur verstärkt, dass sich Ägypten und Syrien 1958 in einer Union, der Vereinigten Arabischen Republik, unter Nassers Führung zusammenschlossen. Noch im selben Jahr kam nach einer Revolution im Irak eine linksorientierte Militärdiktatur an die Macht.

Der Idee der „Unabhängigkeit”, in deren Kernpunkt die Bestrebung zur gleichartigen Distanzierung von den beiden Supermächten stand, kam immer größere weltpolitische Bedeutung zu. Die Bewegung der unabhängigen Länder wurde 1961 in Belgrad, wo Staats- und Regierungschefs von 25 Ländern zusammentrafen, unter der geistigen Führung von Tito, Nehru und Nasser institutionalisiert.

Seit Ende der 50-er Jahre spielte Westeuropa eine immer wichtigere Rolle im internationalen Geschehen. 1957 wurden nach der Unterzeichnung der sog. Römer Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) ins Leben gerufen, womit die Grundlagen der Integration geschaffen wurden. Zum selben Zweck wurde die Europäische Freihandelszone (EFTA) 1959 auf britische Initiative gegründet, der zumeist neutrale Staaten, ferner die skandinavischen Länder beitraten.

Der außenpolitische Spielraum der Kádár-Regierung beschränkte sich in der ersten Hälfte des Jahres 1957 auf die Länder des Warschauer Paktes, China, schließlich – von heftigen Auseinandersetzungen belastet – Jugoslawien. Im System der internationalen Beziehungen war wohl das erdrückende Erbe der letzten Periode zu spüren. Zu einer bedeutenderen Öffnung kam es nicht einmal nach dem Juni 1953. Wie es einer Meldung des Außenministeriums vom Juni 1955 zu entnehmen ist, habe die ungarische diplomatische Initiative die durch die sowjetischen politischen Änderungen gebotenen Chancen nicht wahrgenommen, so liegt sie selbst hinter Bulgarien und der Tschechoslowakei zurück. Diese Situation kennzeichnet auch die Tatsache, dass Ungarn 1938 zu 38, 1958 lediglich zu 36 Ländern diplomatische Beziehungen hatte. Im Jahre 1954 wurden in die kapitalistischen Länder 3040 Dienstreisen und insgesamt nur 95(!) Privatreisen registriert. Etwaige Änderungen ließen die statistischen Angaben ab 1959 erkennen. Die Kennzahl der diplomatischen Beziehungen wuchs 1958 auf 39, 1962 auf 57 Länder. Ungarn nahm 1958 an 186, 1961 an 329 internationalen Konferenzen teil. Die Zahl der Dienstreisenden in kapitalistische Länder betrug 1959 12 784, die der Privatreisenden 15 483 Personen; von 28 267 emigrierten 38 Personen (0,13 %), 1960 blieben von 38 584 Reisenden 23 Personen (0,07 %) endgültig im Ausland. Sicherlich trugen auch diese Erfahrungen dazu bei, dass das Politbüro der USAP im Oktober 1960 etwaige, doch vorerst ziemlich unerhebliche Reiseerleichterungen beschloss. Laut dieses Beschlusses kann grundsätzlich jeder ungarische Staatsangehörige einen Reisepass haben, mit Ausnahme derjenigen, „deren Ausreise gegen die Interessen der Volksrepublik Ungarn verstößt”. Zu dieser Gruppe mussten die 280 000 Personen gezählt haben, die „laut Angaben des Innenministeriums als Belastete galten”. Für Wehrpflichtige war die Ausreise in die BRD weiterhin untersagt. Die Privatreise in die Ostblockländer war, falls sie keinen Devisenkauf voraussetzte, einmal pro Jahr genehmigt, womit praktisch also vor allem Besuche bei Verwandten gefördert waren. An den von Reisebüros organisierten Gruppenreisen konnte demgegenüber jeder Reisepassinhaber teilnehmen, soweit er natürlich genügend Geld hatte.

All diese Ereignisse ließen die Welt wissen, dass der Konsolidationsprozess im Gange ist, und sich die Selbstsicherheit des Regimes erhöht hat. Mit internationalen Interessen stimmte die im April 1960 erlassene Amnestieverordnung des Präsidialrats überein, laut derer die zu weniger als 6 Jahren Freiheitsstrafe Verurteilten auf freien Fuß gesetzt wurden, und die sog. „Verhaftung aus allgemeinen Sicherheitsgründen” (Internierung) wurde abgeschafft.

Für die Kádár-Regierung – ähnlich wie für die DDR – galten vor allem die möglichen Kontakterweiterungen zu den Entwicklungsländern als Ausbruchschancen aus der Isolierung. Im August 1957 besuchte eine unter der Leitung eines stellvertretenden Außenministers stehende Regierungsdelegation Indien, Burma, Indonesien, Nepal, Ceylon, Syrien, Ägypten und den Sudan, sie wurde – unter anderem – von Nasser, Nehru und Bandaranaike empfangen, die damals zu den führenden Politikern der Dritten Welt zählten. 1960 stattete Sukarno einen Besuch in Budapest ab, im darauffolgenden Jahr reiste Nkrumah in die ungarische Hauptstadt. Hinsichtlich des zwischen der Kádár-Regierung und der UNO bestehenden Verhältnisses – darauf kommen wir noch zurück – war es von wichtiger Bedeutung, dass in den Jahren 1958–61 20 Länder von Afrika die Unabhängigkeit errangen und der Weltorganisation beitraten, wo sie sich dem Block der sich von den westlichen Ländern distanzierenden Neutralen anschlossen.

Anfang 1960 wurden zwischen Japan und Ungarn die diplomatischen Kontakte aufgenommen, und im August führte eine japanische Wirtschaftsdelegation Verhandlungen in Budapest.

In Europa normalisierten sich die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen hauptsächlich zu den EFTA-Ländern und den neutralen Staaten.

Trotz der Teilerfolge, die der Lockerung der Isolation dienten, konnte Ungarn als kein Vollmitglied der internationalen Gemeinschaft anerkannt werden, solange die Ratifikationsprozedur des Mandats der ungarischen Delegation (seit Februar 1957) hinausgezögert wurde, und die „ungarische Frage” bei der UNO auf der Tagesordnung stand, deren Erörterung gleichzeitig die Verurteilung des Kádár-Regimes bedeutete. Bei der Abstimmung über die Aufnahme auf die Tagesordnung gestalteten sich die Verhältnisse für die ungarische Regierung immer günstiger. Während es 1958 61 Ja, 10 Nein-Stimmen bei 10 Stimmenthaltungen gab, erhielt der Vorschlag 1962 nur 43 Ja-Stimmen, 19 Abgeordnete stimmten dagegen und 34 enthielten sich der Abstimmung. Es war vorabsehbar, dass die Zwei-Drittel-Mehrheit, die nötig war, „die ungarische Frage” auf der Tagesordnung zu halten, bald nicht mehr zustande kommt. Doch war es für die ungarische Regierung bei weitem nicht unwichtig, wann ihre Lage bei der UNO normalisiert wird, und wann sie in diesem Zusammenhang ihre internationale Handlungsfähigkeit zurückgewinnen kann. Andererseits selbst die Vereinigten Staaten – die es allen voran befürworteten, dass die Entscheidung über das Mandat verschoben wird und die „ungarische Frage” weiterhin auf der Tagesordnung bleibt – hatten kein Interesse daran, durch eine eventuell für sie negativ ausfallende Abstimmung einen Prestigeverlust zu erleiden. Sowohl der amerikanischen wie auch der ungarischen Regierung wurde es klar, dass die einzig mögliche Lösung zur Überwindung der Gegensätze in der UNO ist, fürs erste die ungarisch-amerikanischen Beziehungen zu normalisieren. Nach dem anfänglichen „Abtasten” ab 1960 wurde 1962 im amerikanischen Außenministerium dem zuständigen ungarischen Sachberater ein inoffizielles „Memorandum” über die Bedingungen eines Abkommens übergeben. Laut dieses Dokumentes halten die Vereinigten Staaten für wünschenswert, diejenigen, die wegen der Beteiligung an den Ereignissen im Oktober-November 1956 verurteilt wurden und immer noch inhaftiert sind, auf freien Fuß zu setzen. Als Gegengeste setzt sich die amerikanische Regierung für die Abschaffung der Benachteiligung Ungarns in der UNO ein, sie macht ferner in einem Manifest die internationale Öffentlichkeit auf die ungarischen Änderungen aufmerksam und bestätigt, dass eine weitere Diskussion der „ungarischen Frage” in der Weltorganisation nicht mehr dem Fortschritt diene. Danach wäre die amerikanische Regierung bereit, Verhandlungen über die Normalisierung der bilateralen Beziehungen zu führen. Nach der Kuba-Krise wurde János Kádár während seiner Verhandlungen in Moskau im November 1962 nicht nur eine Erlaubnis erteilt, er erfuhr sogar eine ausgesprochene Ermutigung von der Seite Chruschtschows, damit das Geschäft „Amnestie für Normalisierung” abgewickelt wird. Der Erste Sekretär der USAP unterstrich in seiner Ansprache auf dem VIII. Parteikongress, dass die ungarische Regierung bereit sei, ihre Beziehungen zu den Vereinigten Staaten aufs rechte Gleis zu bringen. Man brauchte keine große Phantasie, um herauszufinden, warum er direkt nach dieser Rede mitteilte, dass 95 % der aus politischen Gründen Verhafteten von 1956 auf freien Fuß gesetzt würden und in diesem Zusammenhang noch weitere Maßnahmen vorgesehen seien.

Auch die amerikanische Seite löste ihr Wort ein. Auf der XVII. Plenarsitzung der UNO wurde der Sonderauftrag des australischen Diplomaten Leslie Munro – laut eines am Ende Dezember 1962 ratifizierten Beschlusses – zurückgezogen, damit wurde die „ungarische Frage” von der Tagesordnung der Weltorganisation gestrichen.

Die ungarische Antwort darauf war die allgemeine Amnestieverordnung des Präsidialrats von März 1963, laut derer alle politischen Gefangenen freizulassen waren. Als Schlussakt des Normalisierungsprozesses in der UNO stattete der UNO-Generalsekretär, U Thant vom 1.–3. Juli 1963 in Ungarn einen Besuch ab. Während seiner Besprechung mit János Kádár teilte der burmesische Diplomat mit, dass sein Ziel der Erwerb von Erfahrungen und Informationen sei, „die ihm bei der Beilegung der (ungarischen Frage) behilflich sind”. Dies wurde auch durch einen internationalen Rechtsakt bestätigt, in dessen Rahmen der Mandatprüfungsausschuss der UNO 1963, vor der XVIII. Plenarsitzung, die Mandatsurkunden aller Delegationen, die ungarischen inbegriffen, einhellig ratifizierte.

Im internationalen Spielraum – wie es auch aus dem vorhin Erläuterten hervorgeht – folgte Kádár unterschiedlichen Haltungsformen einerseits der Sowjetunion und den anderen Ostblockländern gegenüber, andererseits den westlichen Staaten gegenüber. Was die „sozialistische Relation” anbelangt, bekannte er sich zum Grundprinzip, „eine jede Entscheidung ist zu rechter Zeit auf Partei- und Staatsebene mit den brüderlichen Ländern, vor allem mit der Sowjetunion, abzusprechen.” Die Betonung der Einheit hielt er insbesondere „nach außen” für wichtig. Er war der Ansicht, dass „unsere potentiellen Gegner so einschätzen: wir sind einig, und wir müssen darauf bestehen”. Die vorherige Absprache betrachtete er im Gegensatz zu der sowjetischen Führungsspitze als gegenseitige Verpflichtung, und dies erwartete er auch von ihr, darum war er über die Entlassungsumstände Chruschtschows so sehr empört. Während der Breschnew-ära verhielt er sich – wie es von einem amerikanischen Diplomaten in einem anderen Zusammenhang formuliert wurde – wie ein „unwilliger Verbündeter”. Im Bezug auf die westlichen Länder war die Kádársche Ambivalenz daran zu erkennen, dass er die Notwendigkeit der „Bekämpfung des Imperialismus” und der „friedlichen Koexistenz” gleichzeitig betonte. Doch während sich die erste These in allgemeinen Redewendungen und in der stetigen Wiederholung einer abstrakten „prinzipiellen Linie” manifestierte, setzte sich die andere These in der Praxis durch, und diese regte ihn dann an, im seit 1963 breit geöffneten internationalen Spielraum weitere Verhandlungen zu führen und Kontakte zu knüpfen. Als die Sektarianer und/oder übereifrigen Bürokraten des Außenministeriums vorschreiben wollten, dass die ungarischen Diplomaten den Amerikanern gegenüber eine distanzierte Haltung einzunehmen hätten, winkte Kádár sie ab: „Machen wir die Sachen nicht so mechanisch... politische Schritte lassen sich nicht mit Rechnungszettel und Logarithmentafel berechnen.”

Der Pragmatismus bewirkte von der zweiten Hälfte der 60er Jahre an eine Verbesserung und Erweiterung der Kontakte zu einer ganzen Reihe von sich bisher distanzierenden westeuropäischen Ländern und zum Heiligen Stuhl. Bis zum Ende des Jahrzehntes wurde Kádár in den meisten Hauptstädten und im Vatikan zum beliebtesten osteuropäischen Parteichef.