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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 1:9–16.

FERENC GLATZ

Europa der freien Bürger

Staat, Nation, Bürger

Wessen Europa wollen wir eigentlich aufbauen? Ein Europa der Bürger, ein Europa der Nationen oder ein Europa der Staaten? Das war eine der ersten Fragen, die wir im mitteleuropäischen Raum im Jahr 1989 zur Zeit des beschleunigten Abbaus des sowjetischen Systems aufgeworfen haben.

Wie wird dann dieses gewisse „vereinigte Europa” aussehen? Und warum entstehen in den westeuropäischen Gesellschaften Bedenken den traditionellen (im Wesentlichen aus dem 19. Jahrhundert stammenden) territorial-administrativen Einrichtungen gegenüber?

Globale Herausforderung

Das Interesse der Produktion

Es ist heute schon ein Gemeinplatz, die globale Herausforderung zu erwähnen, doch kann es in diesem Teil Europas, d. h. in Mittel- und Osteuropa, nicht schaden, Tatsachen in Erinnerung zu rufen, die im Westen längst zu den Selbstverständlichkeiten gehören: Die Lösung der unseren Erdball gefährdenden ökologischen Probleme ist nicht möglich mit Gesellschaften, deren Menschheitsbild von den partikularen Interessen durch Staatsgrenzen abgesicherter Gebiete und der Vertretung einseitiger, eigener nationaler Interessen bestimmt wird. Aber genauso unvorstellbar ist die internationale Kontrolle der modernen Massenvernichtungswaffen, wenn die gegenwärtige Gliederung beibehalten wird. Es ist eine Trivialität, auch wenn wir es nicht zur Kenntnis nehmen: Die im 17.–19. Jahrhundert entstandene und heute noch bestehende staatliche Gliederung Europas ist zur Zeit das größte Hindernis für die Beseitigung dieser globalen Gefahren. (All dies erhält nun einen neuen Akzent, da das sowjetische System zusammengebrochen ist und die militärisch-politische Teilung der Welt nicht mehr existiert, die wir als alleiniges Hindernis einer Überwindung der globalen Gefahren bezeichnet haben.)

Die Wirtschaft äußert seit Anfang des Jahrhunderts ihre Unzufriedenheit mit der staatlich–territorialen Gliederung Europas. Der Aufschwung Europas war seinerzeit den vielen kleinen territorial-organisatorischen Einheiten, der abgewogenen Differenziertheit der gesellschaftlichen Lebensumstände zu verdanken. Jetzt, zur Zeit der industriellen Revolution, wurden diese zahlreichen, Schutzzölle erhebenden, schwer miteinander zu verbindenden kleinen gebietsorganisatorischen Einheiten (Staaten) zu Hindernissen der Entwicklung. Die Idee der Vereinigten Staaten von Europa wurde zu Beginn des Jahrhunderts nicht zuletzt von der zur Serienproduktion übergehenden Industrie angeregt, die die Vorteile der „Großräumigkeit” für die Produktion, Arbeitsteilung und den freien Arbeitsmarkt erkannt hatte. (Damals war die Vermeidbarkeit von Kriegen nur zum Teil das Ziel.) Der Vorstoß der Vereinigten Staaten von Amerika und später des Fernen Ostens in der Automatisierung, deren Höhepunkt zweifelsohne die computergesteuerte Serienproduktion ist, hat jedem klar vor Augen geführt, dass eine von Staatsgrenzen zerrissene Raumeinteilung die Entwicklung von Wirtschaft und Produktion behindert.

Regionalismus

Aus einem ganz anderen Motiv wird die gegenwärtige staatlich-territoriale Organisation auf wirtschaftlichem Gebiet vom „Regionalismus” im Frage gestellt, der kleinere, von Staatsgrenzen jedoch unabhängige, diese überschreitende Gebietseinheiten schaffen will. Die technische Entwicklung und die Internationalisierung der Beziehungen in Produktion und Handel lassen wirtschaftlich-regionale Abhängigkeiten ganz anderen Typs entstehen, als welche die jahrhundertealten Staatsgrenzen zulassen. Die benachbarten, durch Grenzen getrennten Gebietsteile zweier oder dreier Staaten sind organischer aufeinander angewiesen als der Osten oder Westen ein und desselben Staates. (Es ist egal, welchen mitteleuropäischen Staat wir als Beispiel erwähnen, es kann auch Ungarn sein: Südungarn und das ehemalige Jugoslawien, ebenso Nordungarn und die neue Slowakei, aber auch Ostungarn und westliche Gebiete der Ukraine und südliche Gebiete Polens könnten in wirtschaftlicher Hinsicht eine organischere Einheit bilden als die gegenwärtigen Staaten Ungarn, die Ukraine oder Kroatien es jeder für sich sind.) Ende des 20. Jahrhunderts erweist sich das Staatsgebiet als wirtschaftliche und Produktionseinheit nicht nur einfach als eng, sondern insgesamt als überholt und „künstlich”.

Im öffentlichen Denken: Individualisierung

Es gilt weniger als Gemeinplatz, wenn wir darauf aufmerksam machen, dass sich im öffentlichen Denken der Gesellschaft Ideen und Ideale bemerkbar machen, die den traditionellen gebietsorganisatorischen Prinzipien der europäischen Staaten radikal gegenüberstehen. Eine neuartige Individualisierung des Bewusstseins trat vor allem im Denken der nach dem Krieg aufgewachsenen und heute bereits in den Institutionen tätigen Generationen in Erscheinung.

Es ist bekannt, was für ein explosionsartiger Fortschritt in der allgemeinen kulturellen Entwicklung der europäischen Gesellschaften in den letzten 50 Jahren eingesetzt hat. Das ist zunächst im Unterrichtswesen, dann im System der Massenmedien nachzuweisen. All das steigerte den Anspruch des Individuums auf kulturell-geistige Selbständigkeit. Nach der Boulevardpresse unterstützten auch Rundfunk und Fernsehen, d. h. die Entwicklung der Medien, die Individualisierung breiter Schichten. Die bekannten Symptome seien hier nur skizzenhaft formuliert: Obwohl diese neuen Mittel nur Schemata, Slogans und Stereotype vermitteln und damit das Weltbild vereinfachen, machen sie dem Individuum gerade mit der Vermittlung dieser Verhaltensformen glaubhaft, dass man seine Selbstverwirklichung vollständiger denn je fördere. Zum Teil stimmt das auch. Es mag sein, dass das Niveau des Alltagsdenkens sinkt – wie es von vielen angesichts der einfältigen Slogans behauptet wird –, doch ist es auch unzweifelhaft, dass diese von der Gesellschaft auf immer individuellere Weise „genutzt” werden. Das Individuum selektiert immer bewusster, es sucht sich seinen Platz in der Gemeinschaft. Es wird immer selbständiger in seinem Streben nach Identifizierung mit gleichdenkenden Personen.

Auch die häufig erwähnte ethnische Renaissance ist ein Prozess mit zwei Gesichtern. Dies bedeutet nicht einfach die Suche nach dem kollektiven Ideal, nach der ethnischen Zusammengehörigkeit, sondern auch, dass das Individuum sich von der alles überwältigenden staatlichen, staatsbürgerlichen Einstufung distanziert und andere Grundlagen der Gemeinschaftszugehörigkeit, wie z.B. die ethnischen, religiösen oder weltanschaulichen, dem Anspruch auf das staatsbürgerliche Identitätsbewusstsein vorzieht. Die dem Zwang entgegengesetzte individuelle Wahl, eine Suche nach sich der individuellen Auffassung besser anpassenden Identitätsbindungen ist ebenfalls ein Merkmal der Entstehung eines neuen Individualismus. In den Vereinigten Staaten bedeutet die ethnische Renaissance in den 1980er Jahren die Bindung an die „Wurzeln”, eine Suche nach gemeinschaftlichen Integrationskräften neuen Typs, die unabhängig vom Staat sind. In Europa ist die Zugehörigkeit zu den dieselbe Sprache Sprechenden, dem Ethnikum oder zu den verschiedensten Mikrogemeinschaften, die sich auf regionaler Grundlage oder aufgrund verwandten Denkens organisieren, das Zunächstliegende.

Die Lockerung der staatlichen Bindungen

Das staatsbürgerliche Bewusstsein als Denkschema Nummer eins der Identifizierung des Individuums mit der Gemeinschaft beginnt zu verblassen bzw. andere, das Individuum mit der Gemeinschaft verbindende Identitäten, wie die freundschaftlichen und familiären, die territorialen und regionalen, die ethnischen, weltanschaulichen, sozialen und arbeitsorganisatorischen, kommen immer stärker zur Geltung. (Beschleunigt wird dieser Prozess noch durch die Reisefreiheit, das Näherrücken fremder Kulturen dank der Massenmedien usw.) Das Individuum sehnt sich immer mehr danach, alle in der Umwelt ablaufenden Prozesse zu durchschauen und zu verstehen. Dies führt auch dazu, dass es die unüberschaubaren Strukturen und Organisationen ablehnt. (Es muss nicht im Detail dargelegt werden, dass die verschiedenen Bewegungen mit ihrer Forderung, der Staat, möge Befugnisse an regionale Organe abtreten – sei es in England, in Spanien oder in Italien –, im wesentlichen Erscheinungsformen dieser allgemeinen Entwicklung sind, wie Abtreten von Kompetenzen im Gesundheits- und Sozialwesen, in der Erschließung neuer Industriegebiete, im Fremdenverkehr.)

Die Besonderheiten der technisch-infrastrukturellen Entwicklung zu Ende des 20. Jahrhunderts könnten freilich noch länger aufgezählt werden, doch sie relativieren nur den staatlichen Rahmen, in dem Bewegung, Produktionstätigkeit und Denken des Bürgers ablaufen. Dieser Rahmen gilt immer mehr als Hindernis und neuartige Faktoren des Identitätsbewusstseins treten an seine Stelle bzw. erstarken.

Die Bürger Europas konstatieren, auch wenn sie es nicht Tag für Tag formulieren, dass zum Ende des Jahrhunderts die Entwicklung von Technik und Produktion sowie im kulturellen Bereich den bisherigen territorialen Rahmen ihres Lebens umgestaltet. Die globalen Spannungen und die Wirtschaft erweitern den staatlichen Rahmen und streben danach, ihn zu überschreiten. Auch die Individualisierung der Gesellschaft sprengt diesen Rahmen zum Teil. Darüber hinaus sucht sie Identifizierungsmöglichkeiten unabhängig vom territorialen Rahmen des Staates. (Ethnische, regionale Identifizierung u. dgl.)

„Nationalstaat”, der klassische Liberalismus

Während jeder die Notwendigkeit der Einigung des Kontinents anerkennt und der Streit darüber geführt wird, auf welche Gebiete des Lebens sich diese Einigung erstrecken soll und von welchem Umfang sie zu sein hat, stößt die Forderung nach der Aufteilung der Staaten in kleinere Territorialeinheiten und nach der Abtretung gewisser bisheriger Befugnisse in der Verwaltung von vielen Seiten auf Ablehnung.

Mit welchen Argumenten und aus welcher Richtung werden die Bestrebungen nach Lockerung der Staatsgrenzen in Europa in Frage gestellt?

1) Ein Teil der mit den klassischen liberalen Prinzipien des vergangenen Jahrhunderts verbundenen Intelligenz empfindet Widerwillen, weil sie im Banne des Freiheitsgedankens der Französischen Revolution und des französischen Staates aufwuchs, der Gruppenvorrechte und Gruppenrechte jedweder Art ablehnt. Diese Auffassung sieht Religion und ethnische Zugehörigkeit als eine Privatangelegenheit an und akzeptiert nicht die auf diesen Prinzipien beruhenden gemeinschaftsorganisatorischen Bestrebungen. Die Begründung ist bekannt: Das Individuum wird durch das staatsbürgerliche Bewusstsein mit der Gemeinschaft verbunden, der Staat ist die wichtigste Institution, er sichert die Gleichheit vor dem Gesetz und in der Politik. In der Realisierung des ethnischen Prinzips wird das Auftreten des „Stammes”-gedankens, des Gruppengedankens gesehen. Die Kritiker dieser Liberalen sagen nicht zu Unrecht, dass das staatsbürgerliche Bewusstsein ebenso ein „Gruppengedanke” ist wie der ethnische, nur beruht er auf einer anderen Grundlage. Auch der Vorwurf ist ihnen gegenüber nicht unberechtigt, dass sie die klassische Grundhaltung des Liberalismus verlassen: Sie behindern die freie Entfaltung des Individuums, indem sie nur die staatsbürgerliche Identität als gemeinschaftsorganisatorisches Prinzip anerkennen.)

Der Nationalstaat und seine Bürokratie

2) Die Bürokratien der europäischen Staaten weisen die Autonomiebestrebungen, besonders das Streben nach Territorialautonomie zurück. Die staatliche Bürokratie hatte im 17. bis 20. Jahrhundert die öffentliche Verwaltung Europas zustande gebracht, und zweifelsohne war ihr Entstehen eine Voraussetzung für den Aufschwung Europas in der Neuzeit. (Öffentliche Sicherheit, Verkehr, Schul- und Gesundheitswesen, soziales Netz usw.) Diese Rolle sicherte der staatlichen Bürokratie das bekannte gesellschaftliche Prestige, dies bedeutete aber zugleich auch eine Entfremdung vom Alltagsleben, besonders in den Staaten mit zentralisierter Verwaltung. Die „Hauptstadt”, die „Allmacht der Regierung” ist seit einem Jahrhundert ständige Zielscheibe aller territorialer Autonomiebestrebungen. Die zentralisierte Regierungsbürokratie ist höchstens bereit, über kulturelle Autonomien zu sprechen, und behauptet, dass die Bestrebungen, eine ethnisch oder wirtschaftlich ausgerichtete Territorialautonomie zu errichten, zu einer Anarchie in der Produktion sowie in Politik und Verwaltung führen würden. (Ihre Kritiker sagen nicht zu Unrecht, dass eine Gewährung von Territorialautonomien verschiedenen Grades gerade im Interesse der Sicherung der Funktionstüchtigkeit der Verwaltung liegt.)

Antifaschistische Traditionen

3) Einige Hüter der klassischen antifaschistischen politischen Traditionen sind heute gegen die Möglichkeit der territorialen und administrativen Neuorganisierung der Staaten Europas. Besonders besorgt sind sie wegen der Autonomie Südtirols, der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens als souveräne Staaten auf Kosten des einheitlichen Jugoslawiens und schließlich wegen der beabsichtigten Errichtung der selbständigen Tschechischen Republik und der selbständigen Slowakischen Republik innerhalb der Tschechoslowakischen Republik. Sie erwähnen das Europa des Jahres 1938, als die Mitte des Kontinents im Zeichen des siegenden ethnischen Prinzips neugeordnet wurde, im Großen und Ganzen wie heute. (Vgl. hierzu das vorhergehende Kapitel.) Und sie sprechen darüber, dass der Auslöser dieses Prozesses, genau wie 1938, das erstarkte Deutschland war. Kritiker dieser in der Alltagssprache als „konservative Linke” Bezeichneten reden nicht zu Unrecht von einer traditionellen Unzulänglichkeit der europäischen Linken: Sie habe in der Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft auf unangemessene Weise nur eine der Identitätsbindungen, und zwar das soziale Identitätsbewusstsein, in den Vordergrund gestellt. Darauf habe sie auch das politische Bewusstsein aufgebaut, und die Bindungen zur ethnischen Gemeinschaft und zur Heimat seien von ihr unterschätzt worden. Es wird ihr also die traditionelle urbane Auffassung vorgeworfen sowie der Umstand, dass sie dem nationalen Ordnungsprinzip als einem der Ordnungsprinzipien gegenüber unempfindlich war.)

Die „deutsche Gefahr”

4) Die Angst vor einer Zunahme der deutschen Gefahr ist überall im Lager der Befürworter des staatlichen Zentralismus anzutreffen. In Großbritannien hört man es ebenso gut, dass der Selbständigkeit Schottlands die Herrschaft der Deutschen Mark folgen würde, wie man dies im Falle der Schaffung von neuen Autonomien, also kleinerer Einheiten in Mitteleuropa verlauten lässt.

Diese Argumentation und die Angst zeugen davon, dass das gegenwärtige „europäische Gleichgewicht” letztendlich ein Produkt der Machtverhältnisse von 1945 ist und auf den damaligen politischen und militärischen Kräfteverhältnissen basiert. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem allmählichen Rückzug der Vereinigten Staaten kam es ins Wanken. Das selbständigere Europa kann Ausdruck der tatsächlichen inneren Kräfteverhältnisse auf dem Kontinent sein und könnte das Übergewicht des nunmehr stärksten Landes, Deutschlands, zur Folge haben. (Vorausgesetzt, dass Deutschland seinen früheren Besiegern gegenüber mit dem gleichen Allmachtanspruch auftritt, wie es dies in den 1930er Jahren getan hatte. Sollte das der Fall sein, wären die Befürchtungen nicht unbegründet.) Die Logik dieser Argumentation lautet also: Würde die gegenwärtige staatlich-administrative Oberhoheit über einer kleineren regionalen Einheit aufgehoben, träte sofort die nunmehr stärkste europäische Wirtschaft, die deutsche, an ihre Stelle. Zum Schutz vor der deutschen Expansion ist also ein Beharren auf der staatlichen Verwaltung erforderlich. (Die Kritiker dieser Auffassung führen nicht ohne Grund an, dass Deutschland Territorialautonomien gegenüber in Wirklichkeit ein größeres Verständnis aufbringt als Frankreich oder England, was aber nicht aus seinem Imperialismus folgt, sondern mit traditionellen Prinzipien seiner Staatsorganisation begründet ist. Deutschland, aber auch Österreich, sind Bundesstaaten, in denen die Selbstständigkeit einzelner Gebiete noch vor der Nationswerdung verwirklicht wurde, sie ist also eine „nationale” Tradition. Diese auf Autonomien beruhende Tradition wurde gerade von den nationalsozialistischen Verfechtern der Reichseinheit zurückgewiesen. Das deutsche Prinzip der Staatsorganisation nach 1949 ist gleichzeitig auch eine Kritik am Faschismus, es verkörpert die Verwirklichung der demokratischen Politik und die Anerkennung einer gewissen Autonomie kleinerer Territorialeinheiten innerhalb eines Staates, nämlich der Bundesrepublik.)

Schutz der kleinen Nationen

5) Schließlich dürfen wir unter den Verteidigern des nationalstaatlichen Systems nicht den vermutlich wachsenden Anteil der kleinen Nationen vergessen. Die kleinen Nationen stellen nämlich nicht zu Unrecht die Frage: Auch wenn im vereinten Europa der Zukunft die Nationen ihre kulturelle und ethnische (auch sprachliche) Eigenart bewahren können, werden sie nicht trotzdem unter dem Einfluss der Kulturen der großen Nationen ins Hintertreffen geraten? Wird das vereinte Europa ein Europa der englischen, französischen und deutschen (vielleicht italienischen) Kultur sein? Sie sind der Ansicht, dass das wichtigste Mittel für die Erhaltung der Kulturen der kleinen Nationen der Nationalstaat ist, der innerhalb seiner Grenzen mit Hilfe des staatlichen Unterrichtssystems und der staatlichen Kulturförderung vorrangig die nationalen Sitten und Bräuche pflegt. Verliert der Bürger den eigenen Staat, dann gehen seinen Kindern auch die Institutionen der Nationalkultur verloren, behaupten sie.

Das vereinte Europa wurde also im Prinzip von jedermann mit Freuden begrüßt, man sah sogar ein, daß eine kontinentale Organisation der Konkurrenzfähigkeit den Kulturen dieses Erdteils dient, aber sobald die bisherigen territorialen-administrativen und nationalen Schranken abgebaut werden sollten, melden sich plötzlich zahlreiche Verfechter des Nationalstaates zu Wort.

Die unendliche Geschichte

Die gegenwärtige Situation (nach dem Maastrichter Abkommen vom Februar 1992) könnte folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Architekten des vereinten Europa lassen die Staaten allmählich ihrer militärischen, politischen und finanziellen Souveränität entsagen. Auf wirtschaftlichem Gebiet würde das von den Staaten unabhängige kontinentale bzw. regionale Prinzip triumphieren. Doch, fügen wir hinzu, es ist überhaupt nicht zwingend, dass die Regionen sich mit festen Verwaltungsgrenzen, das heißt als allgemeine, alle Lebensfunktionen umfassende gebietsadministratorische Einheiten konstituieren sollten. (Wie es die klassischen Staaten unserer Tage tun.) – Und in der Kultur kann es neben der Entstehung eines weltbürgerlichen Bewusstseins zur Neugründung ethnisch-religiöser Gemeinschaften kommen. (Das heißt, letztere, die kulturelle Autonomie, verbleibt den territorialen Organisationen, vielleicht innerhalb der heutigen Staatsgrenzen und auf verschiedenen Ebenen in weitere Autonomien gegliedert.)

Die Geschichte hat aber niemals ein Ende. Mit unseren heutigen Beschlüssen bringen wir die vor Jahrzehnten entstandenen und heute siegreichen Kräfte zur Geltung. Doch es darf nicht vergessen werden: Gestern, selbst auch in unserer Gegenwart, sind neue Kräfte entstanden, deren Mitwirkung bei der Gestaltung unserer unmittelbaren Zukunft nicht gewiss, aber auch nicht auszuschließen ist. Ist zum Beispiel tatsächlich unwahrscheinlich, dass das vereinte Europa als erstrebenswertes Ziel vor den europäischen Gesellschaften verblasst? Ist tatsächlich unwahrscheinlich, dass die europäische Intelligenz einfach nicht die entsprechenden Territorialverwaltungsprinzipien findet und deshalb nicht in der Lage ist, das Programm der europäischen Einheit für die verschiedenen auseinanderstrebenden nationalen und gesellschaftlichen Interessengruppen anziehend genug zu gestalten? Die dann dem „Gemeinsamen” einfach fernbleiben wollen? Der Druck der „zwei Großen”, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, hatte die westeuropäischen Staaten einander nähergebracht. Mindert nicht der Wegfall dieses „Zwanges” das Gefühl des Aufeinanderangewiesenseins?

Neue Typen der Integration?

Die wahre und schwerwiegendste Frage wird wiederum von den neuen technischen und wirtschaftlichen Ordnungsprinzipien aufgeworfen: Macht der in der Informatik zu erwartende schnelle Fortschritt, die Entfaltung der bereits angebrochenen Chips-Epoche, nicht etwa den schönen Traum vom Anfang unseres Jahrhunderts von der europäischen Einheit vergessen? Und macht es nicht vergessen, dass notgedrungener Weise die Wirtschaftsordnungen der in geographischer Nähe lebenden Völker aufeinander angewiesen sind? Wird nicht der Ausbau der interkontinentalen Wirtschaftssysteme eine Integration neuen Typs, eine nunmehr interkontinentale Integration bewirken? Wobei die Integrationseinheiten nicht die sich in kontinentalem Maßstab organisierenden Kulturen sein werden, sondern jene der in globalem Maßstab Aufeinander-Angewiesenen, während die gegenwärtigen staatlich-territorialen Strukturen erhalten bleiben? (dass also nicht nur die Tschechoslowakei und Polen, sondern auch Polen und Südkorea miteinander in ein engeres Produktionsverhältnis treten werden?) Und werden nicht auch die organisatorischen Rahmenbedingungen der Integration – die gegenwärtigen zwischenstaatlichen Verträge, die Armee gutgekleideter Diplomaten und Experten, wie man sie seit dem 16. Jahrhundert in Europa kannte –, ganz anders beschaffen sein?

Wer könnte heute mit Sicherheit ausschließen, dass derartige Entwicklungsprozesse nicht bereits in den kommenden 10 Jahren ablaufen?

Die Zukunft: Die Kulturnation

Was immer auch kommt, diejenigen, die über die Alternativen kommender Jahrzehnte nachdenken werden, in dieser Hinsicht Stellung nehmen müssen. Unserer Meinung nach stellt die Wahrung der nationalen Vielfalt Europas ein universelles menschliches Interesse dar. Diese Nationen aber müssen darauf verzichten, auf territorialen und staatlichen Strukturen und auf wirtschaftlicher und politischer Isolierung der Nationalstaaten zu bestehen. Die wirtschaftlichen (volkswirtschaftlichen) und staatlichen (nationalstaatlichen) Grundsätze sind aus der bisherigen Auslegung des Nationsbegriffes zu verbannen. Die Nation ist in erster Linie eine Kulturnation, eine Gemeinschaft von Menschen mit derselben Sprache und denselben Traditionen, und so muß sie dem 21. Jahrhundert erhalten bleiben.

Europa der freien Bürger

Die Vision, das Zukunftsbild, ist für jede Gesellschaft von großer Bedeutung, und das trifft auch für die mitteleuropäischen Gesellschaften zu. Wollen diese mit den Gesellschaften der Welt bzw. Westeuropas Schritt halten, müssen sie sie nicht kopieren, sondern sie müssen begreifen, was dort geschieht. Meiner Meinung nach würden viele Gefahrenherde in den staatlich-nationalen Spannungen des Raumes beseitigt, wenn wir in den Leitgedanken unserer Politik mit dem nationalstaatlichen Erbe abrechnen, die Präsenz der eine neue territoriale und administrative Neuordnung fordernden Kräfte zur Kenntnis nehmen würden und uns selbst als eine – auf unsere nationalen Traditionen und unsere nationale Kultur stolze – Kulturnation in das 21. Jahrhundert hinein bewahren wollten.

Es kann Gegenstand eines neuen Fragenkomplexes sein: Vermag der Traum der humanen und wirtschaftlichen Intelligenz des heutigen Europas, das Europa der freien Bürger verwirklicht werden? Reibt sich nicht im Zusammenprall der verschiedenen gesellschaftlichen – staatlich-administrativen, kulturnationalen, sozialen sowie religiösen und weltanschaulichen – Ordnungsprinzipien die dünne europäische Intelligenzschicht selbst auf?