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HORST HASELSTEINER EMLÉKKÖNYVE
Europa Institut Budapest • Budapest 2012. 201–206. p.

LAJOS VÉKÁS

Die Notwendigkeit der politischen Vernunft
bei der Privatrechtsvereinheitlichung in der Europäischen Union

Eine historische Parabel

Professor Horst Haselsteiner (von uns, seinen Freuden Horsti genannt) ist ein wahrer Europäer („unter Weißen ein Europäer”) und gleichzeitig ein echter Ost-Mitteleuropäer. Er ist in Belgrad geboren, mit ungarischer Muttersprache in Österreich aufgewachsen, studiert und in Wien ein international renommierter Forscher der osteuropäischen Geschichte geworden. Ich möchte meine freundschaftlichen Glückwünsche zu seinem siebzigsten Geburtstag mit einer kleinen Skizze zu der österreichischen-ungarischen Rechtsgeschichte begleiten: mit einer historischenParabel für die Europäische Union.

 

I. Eine gelungene Privatrechtsvereinheitlichung und Kodifikation, die in der Europäischen Union angestrebt wird, verlangt auch die politische Vernunft der zuständigen Organe. Ein doppeltes negatives Beispiel liefern dafür die oktroyierte Einführung des ABGB in Ungarn und kurz danach seine ziemlich willkürliche Außerkraftsetzung.

1. Das ABGB wurde zuerst nur für „die gesamten Deutschen Erbländer des Österreichischen Monarchie” am 1. 1. 1812 in Kraft gesetzt. In Ungarn und in seinen (seit 1849 als Kronländer verselbstständigten) Nebenländern (Kroatien, Slawonien, der Woiwodschaft Serbien und dem Temeser Banat) wurde das Gesetzbuch erst vierzig Jahre später durch das kaiserliche Patent vom 29. November 18521 eingeführt und nach einer Legisvakanz von sechs Monaten mit Geltungsbeginn ab 1. Mai 1853 in Kraft gesetzt. In Siebenbürgen geschah dies mit dem Kundmachungspatent vom 29. Mai 1853 und mit Wirkung vom 1. September 1853.2 Das kaiserliche Patent hob gleichzeitig die Avitizität3 auf.4 Aufgrund seiner oktroyierten Einführung5 stand die Beziehung des Gesetzbuches zu Ungarn unter keinem guten Stern. Oder wie es ein früherer Autor festgestellt hat: „Es wurde nach dem unglücklichen Ausgange des ungarischen Unabhängigkeitskampfes durch die Katastrophe bei Világos6 die oft und öfter beschworene Verfassung der Ungarn einfach vernichtet; mitten unter Waffenlärm musste die ordnungsmäßige Legislatur schweigen; Gewalt und Willkür trat an die Stelle des Gesetzes.”7 In dieser Atmosphäre begann die Geltung des ABGB. Inmitten der durch die Retorsionen bedingten Klagelaute betrachteten die meisten Ungarn es als weiteres Mittel einer fremden Macht. So warteten sie auf die Gelegenheit, dieses oktroyierte Gesetz von sich abzuschütteln und zu ihrem eigenen alten Privatrecht zurückzukehren, welches sich zwar Jahrhunderte lang beständig entwickelt hat, aber am Beginn des bürgerlichen Zeitalters die zeitgenössischen Bedürfnisse nicht zu befriedigen vermochte. Ganz im Gegenteil: in Ungarn hatte es großen Bedarf nach den zeitgemäßen Regeln des ABGB gegeben. Denn das Privatrecht war weiterhin von feudalen Verpflichtungen belastet;8 die für die Kapitalisierung – hauptsächlich auf dem Gebiet des Handelsrechts – benötigten, modernen Regelungen waren gerade eben seit den 1840er Jahren im Begriff, ausgearbeitet zu werden.9 Diese Regeln hatten im ungarischen Privatrecht gefehlt, obwohl ab 1791 wiederholte Versuche unternommen worden waren, das ungarische Privatrecht zu modernisieren. Trotz allem wurde das Schicksal des ABGB in Ungarn durch die politische Ungeduld und den falsch gewählten Zeitpunkt für das Inkraftsetzen besiegelt.

2. Die geschwächte kaiserliche Macht war nach Solferino (1859) gezwungen, sich mit Ungarn auszugleichen. Der Erlass des Oktoberdiploms bedeutete den ersten Schritt zum Ausgleich.10 Gleichzeitig mit dem Oktoberdiplom erschien ein kaiserlicher Erlass, welcher eine, auf der Rechtanschauung der ungarischen Nation basierende, provisorische Justizorganisation anordnete. Die einberufene sogenannte Judexkurialkonferenz tagte vom 22. Januar bis 4. März 1861 und hatte die Aufgabe, darüber zu entscheiden, wie das alte ungarische Recht wiederherzustellen bzw. zu ergänzen sei.11 Sie bildete einen Unterausschuss und beauftragte ihn mit der Erarbeitung von Vorschlägen über provisorische Vorschriften auf Grundlage des alten ungarischen Privatrechts. Im Gegensatz zu diesem Auftrag entschied sich der Unterausschuss für die provisorische Fortgeltung des ABGB. Das Plenum der Judexkurialkonferenz, dessen Mehrheit seine alten Privilegien aufrechterhalten wollte, lehnte jedoch diesen Vorschlag vehement ab und beschloss die „ungarischen materiellen bürgerlichen Privatgesetze” wiederherzustellen und die Geltung des ABGB sowie der dazu ergangenen Nebengesetze formell zu beenden.12 Nach der Genehmigung des Königs erfolgten die Verkündigung der Beschlüsse in der Sitzung der Königlichen Kurie am 23. Juni 1861 sowie die schriftliche Mitteilung an die einzelnen Gerichte und die Veröffentlichung in der ungarischen Gesetzessammlung. Die geschaffenen „Provisorischen Justiznormen” des Privat- und Zivilprozessrechtrechts (als Übergangsbestimmungen bis zu der geplanten, umfangreichen Privatrechtskodifikation) traten am 23. Juli 1861 in Kraft und sollten so lange Geltung haben, bis der Landtag Anderes verfügte.13 Im ersten Paragraph dieser Beschlüsse wurde als Prinzip aufgestellt, dass das ungarische Privatrecht mit Berücksichtigung der inzwischen erfolgten Ergänzungen und Änderungen wieder hergestellt und das österreichische ABGB außer Kraft gesetzt werde.14

Die Entscheidung war wieder der Sieg des kurzfristigen Egoismus und der nationalen Emotionen über die rationalen Überlegungen und stellt ein erneutes Beispiel für das Fehlen der politischen Vernunft dar. Wie jedoch auch der erwähnte Vorschlag des Unterausschusses der Judexkurialkonferenz zeigt, gab es hinsichtlich des Schicksals des ABGB in führenden Rechtskreisen durchaus gespaltene Meinungen. Viele hatten klar erkannt, dass Ungarn, das mit der Kapitalisierung begonnen hatte, die zeitgemäßen österreichischen Bestimmungen benötigte und dass die modernen Anforderungen auch durch das „fremde” Gesetz umfassend befriedigt werden konnten. Kurz nach dem Außerkraftsetzen des ABGB in 1861 gab es immer mehr Stimmen, die bedauerten, dass ein zeitgemäßes Gesetz durch das veraltete ungarische Privatrecht abgelöst wurde, welches von feudalen Verpflichtungen durchdrungen und schwer überschaubar war. Man könne außerdem den Faden der Rechtsentwicklung nämlich sowieso nicht dort aufheben, wo man ihn 1848 liegen ließ, weil der Boden der durch das ABGB geschaffenen Rechtsverhältnisse nicht auf einmal entzogen werden könne. Zur Veranschaulichung dieser Meinungen seien die Gedanken von Dell’Adami zitiert: „Es ist fünfzehn Jahre her, dass im Zuge des Vorschlages der Judexkurialkonferenz das österreichische Bürgerliche Gesetzbuch außer Kraft gesetzt wurde, der einzige materielle Privatrechtskodex, der je in unserem Besitz war; mit einem Federstrich ließ man ein System zusammenbrechen, das zwar lückenhaft war, aber zweifelsohne eine gewisse Ordnung in die materielle Privatrechtsverhältnisse brachte. Somit stand es über dem Chaos. (…) Nicht ruhige Überlegungen und vorausschauendes Taktgefühl bedingten diese Tat; es war ein vulkanartiger, nationaler Ausbruch, der alles austreiben wollte, was vom fremden Erzfeind eingeführt wurde. (…) Der fatale Moloch des Wohlstandes unserer Nation, das politische Kalkül, hat ein neues Opfer gefunden: das geordnete Privatrecht.”15 Als Ergebnis seiner großangelegten Studie über die Zukunft des ungarischen Privatrechts stellte der bekannte Rechtsanwalt und Rechtsgelehrte seiner Zeit Folgendes über das „Problem nationalen Ursprungs” fest: „Nach unserer Auffassung kann die wissenschaftliche Conclusio nur darin bestehen, dass nicht die nationale Herkunft von Rechtsgrundsätzen und Rechtsinstituten einer Privatrechtskodifikation zählt, sondern einzig ihre Zweckdienlichkeit, das heißt, ob sie mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen, Interessen und Zuständen in Einklang stehen.”16

 

II. Die europäische Privatrechtsvereinheitlichung darf nicht voreilig, gar forciert verwirklicht werden. Das allgemeine Vertragsrecht scheint eine treffend bestimmte Zielsetzung dieser Bemühungen zu sein. Hier zeigen die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen die geringsten Unterschiede auf. Aber auch auf diesem Gebiet muss man Geduld für die gründliche Vorbereitung haben.

Die hier geschilderten historischen Beispiele über das Schicksal des ABGB in Ungarn mögen die Kommission an die Wichtigkeit des richtig gewählten Instruments und Zeitpunkts bei der Vereinheitlichung des Privatrechts innerhalb der Europäischen Union erinnern.

 

Kedves Horsti! Őszinte barátsággal és szeretettel kívánok további alkotó éveket és boldogságot, örömet Családod körében!

 

Anmerkungen

1 RGBl. 246/1852

2 RGBl. 99/1853

3 Avitizität (ungarisch: ősiség) ist eine 1351 gesetzlich gefestigte feudale Besitz- und Erbschaftsordnung in Ungarn, welche die Verfügungs-und Testierfreiheit hinsichtlich Immobilien weitgehend ausschloss. Vgl. Vanda Lamm (Hrsg): Jogi Lexikon [Rechtslexikon], Budapest, 2009. 538. f, sowie weiter u FN 18 m. w. A.

4 Zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen siehe Christian Neschwara: Die Geltung des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches in Ungarn und seinen Nebenländern von 1853 bis 1861. ZRG/GA 1996, S. 362. ff.

5 Zu Vorbereitungen der Einführung siehe János Zlinszky: Ungarn. In: Helmut Coing (Hrsg): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. III/2. München, 1982. 2151; Neschwara, 364. f.

6 Ort des Niederschlags des ungarischen Freiheitskampfs durch die russischen Truppen.

7 Karl Putz: System des ungarischen Privatrechtes. Wien, 1870. 50. Vgl. Auch Ferenc Mádl: Kodifikation des ungarischen Privat- und Handelsrechts im Zeitalter des Dualismus. In: Csizmadia/Kovács (Hg.): Die Entwicklung des Zivilrechts in Mitteleuropa. Budapest, 1970. 101.

8 Siehe beispielsweise zum Donationssystem und zur Avitizität Zlinszky, 2198. ff.

9 Siehe hierzu Mádl, 98; Zlinszky, 2151., 2157.

10 Diplom vom 20. Oktober 1860, RGBl. 226/ 1860. Zur Kompetenz in Justizgesetzsachen siehe Absätze (4) und (5) des Oktoberdiploms.

11 Zum Verlauf der Judexkurialkonferenz siehe die lebendige Beschreibung von Mádl, 102. ff.

12 Mádl, 105. f; Emil Böszörményi-Nagy: Das ungarische Erbrecht im Dualismus. In: Csizmadia/Kovács (Hrsg): Die Entwicklung des Zivilrechts... S. 415. ff.

13 Die Beratungen der Konferenz wurden von György Ráth in zwei Bänden herausgegeben: Az országbírói értekezlet a törvénykezés tárgyában [Die Judexkurialkonferenz über die Gesetzgebung]. Pest, 1861.

14 Siehe hierzu Anton Almási: Ungarisches Privatrecht. I. Band, Berlin/Leipzig, 1924. 5. f; Richard Zehntbauer: Einführung in die neuere Geschichte des ungarischen Privatrechts. Freiburg (Schweiz), 1916. Geschichte, 22. ff.

15 Rezső Dell’ Adami: Az anyagi magyar magánjog codifikátiója [Die Kodifikation des ungarischen materiellen Privatrechts]. Budapest, 1877. 1. f.

16 Dell’ Adami, 323. f.