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Begegnungen
Schriftenreihe des Europa Institutes Budapest, Band 26:89–122.

FERENC GLATZ

Die Zukunft des ländlichen Ungarns

Diskussionsmaterial

 

„Manchmal muss man innehalten, sich hinsetzen und umschauen: zurückblicken, den zurückgelassenen Weg bewerten und einen Plan für den vor uns liegenden Weg erarbeiten.” Ich habe das meinen Kollegen und Studenten in den vergangenen Jahren, vor unserem EU-Beitritt, oft gesagt, um sie dazu anzuregen, Rechenschaft abzulegen und sich vorzubereiten. In den vergangenen zehn Monaten aber, seitdem Ungarn Mitglied der Europäischen Union ist, denke ich immer wieder darüber nach: „Wir sollten jetzt aufstehen, uns auf den Weg machen und handeln.” Wir sollen unsere Lebensmöglichkeiten in einer neuen territorialen Verwaltungseinheit zwischen den neuen, sich jetzt herausbildenden wirtschaftlich-politischen Grenzen finden, in engerer Zusammenarbeit mit unseren Kollegen als früher. Die städtischen und ländlichen Leute, die Jungen und die Alten, bzw. die Vertreter verschiedener Berufe sollen ihre Lebensmöglichkeiten unter den sich verändernden Umständen finden.

 

I.
UNSER PLATZ IN DER WELT

Wir sprechen über das Schicksal und die Lebensmöglichkeiten in der ostmitteleuropäischen Region, darin Ungarn, der auf dem Lande lebenden Menschen und der natürlichen Umwelt im ländlichen Raum. Natürlich sollen wir zuerst einen Blick auf die Weltmächte werfen, die unseren Lebens- und Bewegungsraum eingrenzen. Heute sehe ich vier entscheidende Faktoren, die den Alltag des ländlichen Raums in der Region – und auch in Ungarn – beeinflussen.

Der erste ist die neue Etappe der industriell-technischen Revolutionen: die Revolution in der Informatik, die zur Folge hat, dass sich neue Techniken zur Organisation der Produktion und eine neue Kultur der menschlichen Beziehungen entfalten. Demzufolge wandelt sich in der Informationsgesellschaft – wie wir die sich jetzt herausbildende Gesellschaft unseres Zeitalters nennen – die Siedlungsordnung der Menschen, d.h. die Siedlungsstruktur, um.

Der zweite Faktor ist das Gaia-Prinzip. Das bedeutet die Erkenntnis, dass die Erde ein lebendiger Organismus sei. (Gaia ist die Göttin der Erde in der griechischen Mythologie.) Heute wissen wir bereits, dass die Erde ihren eigenen Gesetzen folgend im ständigen Wandel lebt: die tektonischen Platten sind in ständiger Bewegung, und ähnlicherweise ändern sich die Meeresströmungen und das Klima. Unsere Lebensumstände sind also nicht stabil. Heute wissen wir bereits, dass die menschlichen Eingriffe die Zukunft von Gaia und dadurch die Lebensmöglichkeiten des Menschen gemeinsam mit den eigenen Gesetzen der Erde gestalten – egal an welcher Stelle der Erde wir in die Ordnung der Natur eingreifen.

Der dritte Faktor ist das Zustandekommen der Europäischen Union. Die Europäische Union ist eine territoriale Verwaltungseinheit, in deren Rahmen die wirtschaftlichen und kulturellen Güter – vor allem der Mensch selbst – frei strömen können. Neue Gesetze und Rechtsregelungen werden verabschiedet, die in Europa gültig sind, und die die Wirtschaft und die Denkweise des Einzelnen und der Gemeinschaft bestimmen. Der einzelne Mensch – egal ob er in Ungarn oder in England lebt – wird einen viel breiteren Denk- und Bewegungsradius haben und soll bei der Planung seiner eigenen Einkommensmöglichkeiten und denen seiner Kinder auf einem viel bunteren Feld, auf verschiedenartigen Märkten nachdenken.

Der vierte Faktor ist die Neuinterpretation der Modernisierung und das Zustandekommen von neuen politischen Bedürfnissen. Das bedeutet, dass aus der Erkennung der neuen Welttendenzen eine neue politische Richtung entsteht, die den Begriff des „Zeitgemäßen” und des „Modernen” in der Bewertung der menschlichen Tätigkeiten neu interpretiert und die politische Wertordnung der vergangenen 150 Jahre zu überprüfen versucht.

Welche Wirkung haben diese vier Faktoren auf den ländlichen Raum? Wie steht es in Europa und in Ungarn?

1. Die neue industriell-technische Revolution und der ländliche Raum

Die industriell-technische Revolution bzw. der Vorstoß der Nachrichtenübermittlung und der Informatik gestalteten die Produktionsstruktur um. Wie bekannt, können jetzt weit mehr Produkte mit viel weniger Arbeitskraft hergestellt werden als früher. Gleichzeitig kommen immer neuere Produktionszweige und Dienstleistungssysteme zustande, die den Arbeitskraftüberfluss von einer Stelle in eine andere Branche saugen.

a) Die Umstrukturierung der Lebensmittelproduktion

Die Umwandlung der Produktionsstruktur erschütterte die Lebensmittelproduktion am stärksten. Die Lebensmittelproduktion war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts der Produktionszweig, der des Großteils der menschlichen Arbeitskräfte bedurfte. Die industrielle Produktion der Lebensmittel begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Anwendung von Vergaser- und Elektromotorkraftmaschinen, und diese Rationalisierung beschleunigte sich jetzt am Ende des 20. Jahrhunderts.

Die Steigerung der Effektivität hatte in Europa eine Lebensmittelüberproduktion zur Folge. Es kam zu einer paradoxen Situation: während die Hungersnot in dem größeren Teil der Erde mit ständiger Gefahr droht, können wir in dem anderen Teil, in der Kultur des weißen Menschen, nichts mit der erzeugten Lebensmittelmenge anfangen. Aber wir wissen nicht was die Zukunft mit sich bringt? Wird die Nachfrage in den von Hungersnot bedrohten Gesellschaften der Welt zunehmen und für die Kosten des in Europa und Amerika erzeugten Überflusses aufkommen können? Betrugen die durchschnittlichen Hektareinträge beim Weizen um 1965 zwischen 3.000 und 4.000 kg, so erreichen sie heute bereits über 10.000 kg. Andererseits erhielt der Bauer in der BRD und Österreich vor 40 Jahren für den Kilo Weizen bis zu 30 Cents, heute nur mehr 10 Cents. Werden solche große Speditionssysteme zustande kommen, die den Export des europäischen und amerikanischen Lebensmittelüberflusses zu den Märkten der hungernden Gesellschaften rentabel machen? Noch wissen wir nicht. Aber wir wissen schon, dass die Gebiete der Lebensmittelproduktion in Europa und Amerika so vermindert werden sollen, dass sie irgendwann, vielleicht in nicht so ferner Zukunft, reaktiviert werden können. Denn wir dürfen nicht vergessen: die Gesamtgröße der lebensmittelproduzierenden Gebiete auf der Erde kann nicht wesentlich vergrößert werden. Das Karpatenbecken – darin das Gebiet des heutigen Ungarischen Staates – gehört zu diesen lebensmittelproduzierenden Gebieten. In dem Tian Šan, der Sahara und der Wüste Gobi wird man voraussichtlich auch in den nächsten Jahrhunderten keine Lebensmittel erzeugen können.

Die andere Folge des Strukturwandels der Produktion ist die schnelle Umwandlung des lebensmittelproduzierenden Betriebs. Für die Herstellung von Massenernährungsgütern (vor allem Körnerfrüchte und Fleischprodukte) eignet sich die großbetriebliche Struktur, die für Europa charakteristische mittlere und kleinere Landbesitzstruktur wandelt sich also grundsätzlich um. In dem vergangenen halben Jahrzehnt ist die Entstehung eines Betriebsrahmens zu beobachten, die immer größere Ackerflächen umfasst, wodurch es zu einer Landbesitzkonzentration kommt. Besitzwechsel, Besitzkonzentrationen und neue Besitz- und Pachtformen kommen dadurch zustande und verschiedene Produktions- und Absatzvereine werden gegründet. Gleichzeitig bedürfen die neuen Produkte auch Veränderungen in der Betriebstruktur. Neben den Grundnahrungsmitteln bahnen sich auch lokale Spezialitäten, die für eine bestimmte Region charakteristisch sind, einen Weg. (In Ungarn gehören zu dieser Gruppe die sog. Hungarika, aber es gibt überall in der Welt ähnliche speziellen Produkte, die sich unter den gegebenen geographischen Umständen vor Ort herausbildeten.) Für diese Produkte entstand ein neuer Verbrauchermarkt – durch die Erhebung des europäischen und amerikanischen Mittelstandes. Der letztere Faktor stärkt nicht unbedingt die Großbetriebe, sondern die kleinen und mittleren Betriebe, und erzwingt ihre Allianz in Vereine und Organisationen. Darüber hinaus erzwingt er von den Lebensmittelerzeugern vor allem Mobilität, eine kurzfristige Marktforschung, schnelle Veränderungen in der Produktstruktur und – wenn erforderlich – in der Besitzstruktur. Die Lebensmittelproduktion war jahrhundertlang eine konservative Aktivität, die langfristig auf die Beschaffenheiten des Bodens und der Wasserbewirtschaftung, bzw. die klimatischen Gegebenheiten gegründet wurde. Heute ist sie zu einer Aktivität geworden, die sich den Veränderungen, den neuen Bedürfnissen und neuen Investitionen schneller anpasst.

Die gesellschaftlichen Folgen der Umwandlung der europäischen Lebensmittelproduktion und der Betriebsstruktur erregen Konflikte im ländlichen Raum. Es ist verständlich, weil die Lebensmittel heute und wohl im nächsten Jahrhundert auf Gebieten außerhalb der Städte erzeugt werden. Der Ort der Lebensmittelproduktion ist also weiterhin der ländliche Raum.

Die neue industriell-technische Kultur und die neuen Mächte auf dem Weltmarkt wandelten in Westeuropa die Landbesitzverhältnisse, die Betriebsgrößen und Erzeugervereinigungen allmählich um. Wir erleben die Wirkung dieser Umwandlung in den ehemaligen sozialistischen Ländern jetzt, nach 1990, als schockierend und unerwartet. Die ostmitteleuropäische Region, die sich jetzt in die Europäische Union integriert, wurde vom Weltmarkt künstlich, mit politischen und wirtschaftlichen Barrieren, getrennt. Den größten Teil der Lebensmittel erzeugten wir für den sowjetischen Markt, der viel größer war als der europäische, und alles aufnahm. Die Produktion erfolgte oft unter künstlich – politisch – festgelegten Besitzverhältnissen und Betriebsstrukturen und nach sowjetischen RGW- Forderungen, die viel niedriger waren als in Europa. Nach 1990 verschwanden die sowjetischen, bzw. RGW-Märkte und wir mussten mit der westlichen Lebensmittelproduktion in Konkurrenz treten, die aber mit entwickelteren Technologien und mit einer wohletablierten Betriebstruktur arbeitete. Statt dem sowjetischen Markt, der qualitätsmäßig niedrige Anforderungen stellte, müssen wir jetzt für die westlichen Gesellschaften, die einen äußerst feinen Geschmack entwickelt haben, Lebensmittel produzieren. Dazu kommen noch die Lebensmittel von den Märkten der USA und Südamerikas, und die mörderische Konkurrenz. Innerhalb der ostmitteleuropäischen Region wurden davon am meisten Polen und Ungarn betroffen. (Polen, weil die Anzahl der in der Lebensmittelproduktion beschäftigten Arbeitskräfte einen bedeutenden Anteil in der Erzeugung des nationalen Gesamtprodukts ausmacht, und weil ihr technisches Niveau rückständig ist. Ungarn ist dadurch betroffen, dass der einzige natürliche Rohstoff des Landes, das Ackerland, hohe Erträge erzielt, bzw. dass das Land besonders reich an unausgenutztem Wasserreservoirs ist.)

b) Die Umwandlung und Verbesserung der ländlichen Lebensbedingungen

Mit der ersten industriellen Revolution nahm die Bedeutung der Städte in der europäischen Geschichte zu. Die Stadt war schon immer der Motor der Entwicklung – seit den ersten bekannten Staatsgründungen, also seit etwa fünftausend Jahren. Die Güter wurden in den Städten ausgetauscht, die Stadt war das institutionelle Zentrum der regionalen Verwaltung, die Bildungs- und Wissenschaftszentren bildeten sich in Städten heraus, und natürlich waren die täglichen Lebensumstände (Wohnungen, Stadtwerke, Dienstleistungen, etc.) in den Städten immer weiter entwickelt als auf dem Lande. Dieser Vorteil der Städte, die seit fünftausend Jahren besteht, nahm im Zeitalter der Mechanisierung ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, d.h. in der Zeit der ersten industriell-technischen Revolution, noch weiter zu. Diese eindeutige Trennung der Städte vom ländlichen Raum fing ab 1780 überall in der Welt an, auch in Europa. Die Modernisierung im technischen und Bildungsbereich wurde in den vergangenen zweihundert Jahren noch mehr mit den Städten verbunden als früher.

Heutzutage beginnt eine neue Ära in der Beziehung der Städte und des ländlichen Raums in Europa. Ab den 1970er Jahren trat eine allmähliche Veränderung in der Beziehung des ländlichen Raums und der Städte ein (eine Veränderung, die sich ab 1998 beschleunigte. Dies war die Möglichkeit eines langsamen Ausgleichs der Unterschiede, wobei jetzt ein schnellerer Gang eingelegt wird. Zuerst die Massenanwendung der Elektrizität, später die Verbreitung der Transistoren, brachten in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Beleuchtung, das Radio und das Telefon in den ländlichen Raum. Dann erfolgte die Verbreitung der Verkehrsmittel, die in Europa ab den 1970er Jahren florierte. In den 1970er Jahren begann mit Hilfe der Satelliten das Fernsehen und ab den 1980er Jahren das Handy die menschlich-kulturellen Nachteile der ländlichen Lebensform zu vermindern und die ländliche und städtische Lebensqualität einander näher zu bringen. Der endgültige Durchbruch in der Emanzipation des ländlichen Lebens kommt mit dem Internet ab 1998. Das Internet, das erst seit ein paar Jahren zur Verfügung steht, trägt heute zur vollen Entfaltung der Modernisierungsbedingungen der ländlichen Lebensform bei. Man kann im kleinsten, verstecktesten Dorf (oder sogar in einem Zelt) Teilhaber der Weltkultur werden. Der sich jetzt beschleunigende Ausgleich ist nur eine Bedingung, und es ist die Frage der kommenden Jahrzehnte in wie weit man die Gebiete außerhalb der Städte in Besitz nehmen wird.

Unsere Schlussfolgerung. Die neue industriell-technische Entwicklung trägt gegensätzliche Auswirkungen in sich. Einerseits drängt sie die bisher primäre Funktion des ländlichen Raums in der Erhaltung des menschlichen Lebens – die Lebensmittelproduktionzurück, andererseits sichert sie zum ersten mal nach fünftausend Jahren das Erleben einer zeitgemäßen Lebensform auch in dem Raum, der außerhalb der Städte liegt. Das führt zu einer Annäherung der ländlichen und städtischen Lebensqualität.

 

2. Die Neuerwägung der Beziehung des Menschen zur Natur, und der ländliche Raum

Ich halte die Herausbildung des Gaia-Prinzips für die bedeutendste wissenschaftliche Entdeckung der vergangenen dreißig Jahre. Und ich betrachte die Umweltschutzbewegung als die bedeutendste gesellschaftliche Bewegung der vergangenen dreißig Jahre. In demselben Jahrzehnt, in den 1970er Jahren, wurde der Wissenschaft die Wechselwirkung der sich vollziehenden natürlichen Prozesse bewusst, und gleichzeitig entstanden die ersten intellektuellen Weltbewegungen zum Schutz der Natur. Im Jahre 1979 erschien eine wissenschaftliche Monographie, die das Gaia-Prinzip zum ersten Mal vorstellte, sie wurde ein Welterfolg. Darauf folgte das Programm der „Erdsystem Wissenschaft” im Jahre 2000, das verkündete, dass alle Offenbarungen des irdischen Lebens in ihrer gegenseitigen Wirkung untersucht werden sollen. In 1972 entstand die Weltbewegung für Umweltschutz, worauf bald die Verkündung des Prinzips der „nachhaltigen Entwicklung” folgte. Schon 1992, und danach 2002, forderten Weltkonferenzen (in Rio de Janeiro und Johannesburg) von den Nationalstaaten, die umweltschädigenden Folgen der auf ihrem Gebiet betriebenen Industrietätigkeit mit Gesetzen zurückzudrängen. Es wurde behauptet, dass der Mensch mit der Ausdehnung der technischen Zivilisation, der Verbrennung der fossilen Energien, der Emission von Kohlendioxid, Methan und anderen Gasen, sowie mit der Zerstörung der Biomasse in der Erdoberfläche die Verödung seiner lebenden Umgebung, der Natur, beschleunigt (z.B. mit der Ausrodung der Wälder, der Verschmutzung der Gewässer und des Erdbodens etc.). Damit wird die Lebenserwartung von Gaia, der Erdmutter, verkürzt. In der Geschichte des menschlichen Denkens gab es bisher noch keinen Gedankenkreis, der sich so schnell verbreitet hätte und solche politischen Erfolge erreicht hätte wie der Kult der natürlichen Umgebung, die Neuerwägung der Beziehung des Menschen zur Natur. Während der Mensch im jüdisch-christlichen Kulturkreis seit zweitausend Jahren die „Überwältigung” der Natur als eine seiner wichtigsten Lebensziele betrachtete, wurde dieses zweitausend Jahre alte Dogma ab den 1970er Jahren von einem neuen Grundprinzip abgelöst: Der Mensch selbst ist Teil der Natur, die Natur soll nicht besiegt werden, sondern man soll damit friedlich zusammenleben. Mit dem Aufbrauchen der uns von der Natur geschenkten Dinge und Güter engen wir die menschlichen Lebensbedingungen ein.

Das neue Gaia-Prinzip steckt noch in den Kinderschuhen. Aber bestimmte Schlussfolgerungen für das nächste Jahrhundert haben sich schon herauskristallisiert. Welche sind diese?

a) Die regenerativen Energiequellen, Bioenergie

Eine der Schlussfolgerungen lautet folgenderweise: die fossilen Energiequellen sollen so schnell wie möglich von regenerativen Energiequellen abgelöst werden. Statt Steinkohle, Erdöl und Gas soll allmählich die Nutzung von Wasser-, Wind- und Sonnenenergie, bzw. die Bioenergiequellen in den Vordergrund gestellt werden. Die Bioenergiequellen, d.h. die Energiequellen pflanzlicher Herkunft, sollen bevorzugt werden: das Bioöl, das Ethanol, das Energiegras und der Energiewald, mit deren Verbrennung die Emission – also das Freiwerden von umweltschädlichen Gasen – minimalisiert werden kann.

Der bisherige Schauplatz der Energieerzeugung war meistens die Stadt. Die großen energetischen Zentren, deren Errichtung auf fossile Energiequellen basierte, brachten städtische Siedlungen zustande. Die Energieproduktion erfolgte ja in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten in Großbetrieben. Die Erzeugung der Bioenergiequellen dagegen erfolgt auf dem Lande. Das bringt einen Strukturwandel in der Landwirtschaft mit sich: neben der Lebensmittelproduktion fällt der neue Akzent auf die Produktion von Bioenergiequellen. Der ländliche Raum und die ländliche Landwirtschaft werden voraussichtlich Ort der Erzeugung der neuen Energie sein. Die Energie des 21. und 22. Jahrhunderts wird immer weniger von Bergmännern auf die Oberfläche befördert, sondern in immer größeren Mengen von Bauern erzeugt. (Nicht zu sprechen von den Folgen der bisher noch unergründeten Energiequellen – Sonne, Wind – auf den Strukturwandel der Siedlungen.) Der ländliche Raum gewinnt also in der menschlichen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts an Bedeutung.

In der Energieerzeugung der ostmitteleuropäischen Staaten lässt jedoch der Wandel auf sich warten. Während in Westeuropa 10-12% der erzeugten Energie aus regenerativen Energiequellen stammt, erreicht in den ostmitteleuropäischen Staaten – so auch in Ungarn – dieser Anteil nur 3%. Die Gegebenheiten der Region – nicht zuletzt die von Ungarn – eignen sich hervorragend für die Sonnen-, Wind- und Wasserenergieerzeugung, und unsere Boden-, Klima- und Gewässerverhältnisse können uns eine vorrangige Position in der Erzeugung von Bioenergie sichern. In der ostmitteleuropäischen Region und in Ungarn kann die Nutzung des ländlichen Raums als ein Ort der Energieerzeugung ein wichtiges Grundelement der neuen ländlichen Politik sein.

b) Umweltbewusste Politik, Gemeindenken

Die andere Schlussfolgerung: eine umweltbewusste Mentalität soll herausgebildet werden. Jede bürgerliche Gemeinschaft ist verpflichtet, die Naturschätze der von ihr bewohnten Gebiete, ihrer sog. Unterkunftsgebiete, instand zu halten, deshalb soll die Umweltwirtschaft – sowohl in der Stadt als auch in dem ländlichen Raum – ein Grundelement der Politik und des Gemeindenkens werden. Unserer Beurteilung nach wird dies das Grundprinzip der regionalen Entwicklungspolitik des 21. Jahrhundert sein.

Die Größe der Gebiete, die außerhalb von Städten liegen, machen 80% von Europa aus – Ungarn inbegriffen. Die umweltbewusste und umweltschonende Denk- bzw. Sichtweise soll natürlich auch in den Städten zur Geltung kommen. Dabei soll aber erkannt werden, dass die Erhaltung des natürlichen Zustands dieses 80-prozentigen Gebietanteils die natürliche Instandhaltung des ländlichen Raums bedeutet. Die natürliche Instandhaltung soll von den einheimischen Ortsbewohnern gewährleistet werden. Es ist unwahrscheinlich, dass die Stadtbewohner – eventuell die sog. ausgebildeten Fachleute zur Erhaltung der Umwelt – 100-150 km zurücklegen werden, um unsere Wiesen, Lebensstätten im Wasser oder im Wald instand zu halten. Jeder Staat soll also bestrebt sein, das gesamte Gebiet des Staates mit Einwohnern „abzudecken”. Die ländlichen Leute haben – mit einem urbanen Begriff – eine Funktion als öffentliche Hüter der ihnen anvertrauten Gebiete, eine Funktion die in den Städten in dem vergangenen Jahrhundert als ein spezielles Unternehmen anfing (mit der Errichtung von Unternehmen, die sich auf die Instandhaltung des Gemeinguts, der öffentlichen Plätze, Straßen, usw., spezialisiert haben), und deren Finanzierung aus öffentlichen Mitteln wir für selbstverständlich halten.

Die Verbreitung der umweltbewussten Mentalität bringt die Aufwertung und Umwandlung der ganzen Landwirtschaft mit sich. Einerseits müssen die Landwirte zur Kenntnis nehmen, dass sich das Ziel der Landwirtschaft verändert. Sie sollen einem dreifachen Zielsystem folgen: 1. Lebensmittelproduktion; 2. Erzeugung von industriellen Rohstoffen; 3. Umwelterhaltung. Andererseits soll die städtische Gesellschaft zur Kenntnis nehmen, dass der Gemeinnutzgehalt der Lebensmittelproduktion größer ist als der der Produktion von Industriegütern oder sonstiger Dienstleistungen. Der Landwirt als Lebensmittelerzeuger produziert nicht nur solche Güter, die auf dem Markt absetztbar sind und die zur Reproduktion der eigenen physischen Kräfte nötig sind. Er hält mit seinen Getreidefeldern und Weiden auch die Kulturlandschaft instand. Hinter jedem Kilo verspeistem Brot oder Fleisch findet man aufgepflügte und gepflegte Felder, Wiesen und Wälder.

Schlussfolgerung. Der ländliche Raum wird aus der Sicht der gesamten Menschheit aufgewertet: Der Ort der traditionellen Lebensmittelproduktion wird zum Ort der Umweltwirtschaft und – allmählich – zum Ort der Energieerzeugung.

 

3. Die europäische Integration

Die Europäische Union als territoriale Verwaltungseinheit hält es für ihre Aufgabe, ein einheitliches Regelungssystem für die grenzübergreifenden Produktions-, Natur- und Kulturprozesse des Kontinents auszubauen. Die Geschichte ihrer Entstehung nach 1945 zeigte bereits, dass zu Beginn die Produktions- und Marktvorteile einer großen Region am wichtigsten waren (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl /1951/, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft /1957/). Die wirtschaftlichen Vereinheitlichungsprozesse schufen mit der Einführung des Euros als Zahlungsmittel (1999) die gemeinsamen Institutionen. Aus den gemeinsamen wirtschaftlichen Grundprinzipien entwickelte sich die Gemeinsame Agrarpolitik (CAP), die sich infolge der weltweiten Verbreitung und Anerkennung der Aspekte des Umweltschutzes aus einer Regelung für die Produktion von Lebensmitteln zu einem Regelungssystem für Lebensmittel- und Umweltwirtschaft umwandelte. Seit Maastricht (1992) geht es in den heftigsten Debatten innerhalb der Union immer um die Agrarförderungen. Einen Teil dieser Debatten habe ich selbst miterlebt. Ich selbst gehöre zu den Leuten, die den Gemeinnutz der Förderung des Agrarwesens betonten: dass nämlich das Agrarwesen heute – wie schon gesagt – nicht bloß die Produktion von Lebensmitteln bedeutet, sondern auch Umweltwirtschaft – und in der Zukunft immer mehr die Produktion von Bioenergie. Ich gehöre aber auch zu den Leuten, die den verschiedenen großen Agrarlobbys ständig vorwarfen, dass sie die großen Agrarförderungen, die aus dem Geld der Steuerzahler herrühren, in die Tasche stecken, aber diese nicht zum Strukturwandel benutzen, sondern zur Konservierung der alten, einseitigen Produktionsstruktur. Diese Förderungen stehen nur teilweise der güterproduzierenden Funktion der Lebensmittelerzeugung zu. Sie sind gerade für die Umwelterhaltungsfunktion der Lebensmittelproduktion und für den Strukturwandel gemeint, unter anderem für die Produktion der Rohstoffe der Bioenergie. Ich persönlich schlug mehrmals die einheitliche europäische Verwendung eines sog. Gemeinnutz-Koeffizienten vor. Die „territoriale Deckung und die Erzeugnisförderung” (die zwei Aspekte der Förderung) werden in imaginären Klammern mit einem Gemeinnutz-Koeffizienten multipliziert, der nach den von uns für wichtig gehaltenen Präferenzen zunehmen soll. Der „Gemeinnutz-Koeffizient” soll bei der Förderung solcher Produkte minimal sein, die wir zurückdrängen wollen, und er soll bei der Förderung solcher Produkte ansteigen, deren umwelterhaltende oder die Gesundheit fördernde Funktion hervorragend ist. Nach meinem Maß sollte der Gemeinnutz-Koeffizient – und dadurch die Förderung – bestimmter Produkte höher sein als die Förderung der traditionellen Grundernährungsprodukte, die auf dem Markt sowieso leicht zu verkaufen sind. Zu ersteren Gruppe gehören z.B. die Nutzpflanzen, die den Stickstoffgehalt und die Porosität des Bodens steigern; Tierarten, die die gesunde Ernährung fördern, Tier- und Pflanzengemeinschaften, die das biologische Gleichgewicht der natürlichen Lebensstätten sichern, oder Grundpflanzen zur Herstellung von Bioenergie. (Die Agrarpolitik der Europäischen Union ist natürlich von vielen Widersprüchen belastet, aber zu vielen Fragen nimmt sie eine eindeutige Stellung, und an die soll man sich halten. Diese Widersprüche zeigen sich z.B. bei der Förderung der Getreideproduktion. Einerseits liegen ja enorme Getreideüberflüsse in den Interventionsdepots, und doch ist das Getreide eine Pflanze, die für die Deckung großer Gebiete geeignet ist. Die Agrarpolitik der Union spricht sich eindeutig für die Förderung der Rinder- und Fischzucht und für die Verringerung der Förderungssummen der Schweinezucht aus. Das führt im Falle der neuen Mitgliedstaaten zu einem weiteren Widerspruch, weil die Schweinezucht nicht nur von der Tradition und den günstigen Klimaverhältnissen, sondern auch von dem schnellen Umschlag der Investition, die Fertilität und relative Anspruchslosigkeit der Schweine, bzw. ihrer vielseitigen Verwendbarkeit angeregt wird. Aber die meisten von uns – nicht nur die Forscher, die sich mit der Agrarpolitik beschäftigen, sondern auch die Landwirte selbst – könnten die Widersprüche aufzählen, die nicht zuletzt die Bevölkerungsschicht der neuen Beitrittsländer belasten, die in der Landwirtschaft tätig sind.)

Die Union ist eine junge territoriale Verwaltungsorganisation und ein junges Staatsgebilde. Auf einem Europa Forum im Vorjahr versuchte ich den vorherrschenden Euroskeptizismus ein wenig zu bremsen, der einerseits von den nach der Krise in Irak herausbildenden Gegensätzen ausgelöst wurde, und der andererseits eine sogar in Expertenkreisen auftretende Passivität bei den Wahlen des Europäischen Parlaments hervorrief. Ich argumentierte folgenderweise: die Herausbildung Deutschlands, der stärksten territorialen Verwaltungseinheit Europas im 19. Jahrhundert, nahm auch 56 Jahre, zwischen 1815 und 1871, in Anspruch. Der letzte Binnenzoll wurde erst in den 1880er Jahren abgeschaffen. Ich rief auch in Erinnerung, dass die Herausbildung der jetzigen Struktur der Vereinigten Staaten auch mehr als hundert Jahre brauchte. Was ist dagegen die Geschichte der Europäischen Union? – fragte ich. Seit Maastricht sind nur 13 Jahren vergangen. Noch dazu vollzieht sich die Herausformung des neuen Gebildes in einem geographischen Gebiet, in dem zwanzig gleichrangige Literatursprachen und viele sprachliche Kulturinstitutionen und Administrationen tätig sind. Diese hindern die Integration Tag für Tag gerade wenn es um die Führung der gemeinsamen Angelegenheiten geht. Die Europäische Union ist also eine Organisation, die sich jetzt herausbildet, die dadurch unvermeidlich voller Widersprüche ist, und deren Leiter sich bewusst sind, dass die Betroffenen in ihrer Gestaltung aktiv teilnehmen sollen.

Was folgt aus der Osterweiterung der Union für Ungarn bzw. die Ostmitteleuropäische Region?

a) Steuerzahlergemeinschaft von Nationalstaaten

Die Europäische Union ist die erste territoriale Verwaltungseinheit in der Weltgeschichte, in der die Bürger keine direkte staatliche Steuer einzahlen. Das vergessen wir immer wieder zu betonen. Seit der Herausbildung der ersten bis heute bekannten Staaten wurde die territoriale Verwaltung und die zum Umwelt- und Sicherheitsschutz nötigen Systeme, bzw. die öffentliche Sicherheit und die Gesetzgebung unmittelbar aus den Steuern der Bürger finanziert. In der Union bezahlen die Mitgliedstaaten kollektive Steuern. Die Bürger bezahlen also ihre Steuer in ihrem eigenen Nationalstaat. Demzufolge steht es im Interesse aller Bürger des Staates, dass die Gesamtheit der Staatsbürgergemeinschaft gute Steuerzahler werden. Wenn es in Budapest und im westlichen Teil Transdanubiens wohlhabende und gute Steuerzahler gibt und in einer Stadt eine reiche Steuerzahlergemeinschaft entsteht, aber die östlichen oder südwestlichen Teile des Landes arm sind und die ländlichen Leute schwache Steuerzahler sind, nimmt die vollbrachte Leistung der gesamten Gemeinschaft von Staatsbürgern ab. Es steht also im Interesse der Mitgliedstaaten der Union eine aktive Politik auf dem Gebiet der ländlichen Entwicklung zu führen, um damit die Steuerzahlungsfähigkeit der ländlichen Leute zu steigern.

Die Hebung des Wohlstandes der ländlichen Gesellschaft soll auch deswegen unterstützt und mit unternehmensfördernden Maßnahmen, sog. Unternehmensanregern, geholfen werden, weil der Zugriff auf die Finanzmittel der Europäischen Union durch die Einreichung von Projekten möglich gemacht wird. Die von den ungarischen Steuerzahlern einbezahlte Summe soll also von den Bürgergemeinschaften mit Hilfe von Projekten zurückerworben werden. Die Bewerbungen für Projektgelder werden in den Tätigkeitsbereichen und Produktionszweigen ausgeschrieben, die von der Europäischen Union für wichtig gehalten werden. Es steht also im Interesse der ganzen ungarischen Steuerzahlergemeinschaft an die bedeutenden Subventionen für regionale und ländliche Entwicklung, bzw. für Umweltschutz heranzukommen. Diese Förderungen sind also für die ländlichen Leute und ihre Kommunen zugänglich. Die Modernisierung wird also den Mitgliedstaaten durch bestehende wirtschaftliche Interessen und binnenwirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten aufgezwungen. Die Unterstützung des ländlichen Raums bedeutet also nicht bloß die Herausbildung einer ausgeglichenen Steuerzahlergesellschaft, sondern auch, dass die Rückerstattung unserer einbezahlten Gelder, oder eventuell noch größerer Summen, möglich wird. Und dadurch bereichern wir die ganze Steuerzahlergemeinschaft.

b) Die Aufwertung des ländlichen Raums

Die Europäische Union sprach im Rahmen der „Agenda 2000” auf dem Forum in Berlin 1999 über die Notwendigkeit einer staatlichen Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums. Hier wurde all das in die Unionspolitik integriert, das von der naturwissenschaftlichen Literatur der vergangenen Jahre über das Gaia-Prinzip und von den Umweltschutzbewegungen über die umweltbewusste Anschauungsweise erfasst wurde. Der ländliche Raum wurde aufgewertet. Eine Aufwertung in der Europa-Politik. Es wurde bewusst, dass der ländliche Raum mit unternehmensanregenden und arbeitsplatzschaffenden Aktionen gefördert werden soll, weil das Bewohntbleiben des ländlichen Raums nur dann gewährleistet werden kann, wenn es dort Arbeitsmöglichkeiten gibt. Deshalb wurde als sog. zweiter Pfeiler der gemeinsamen Agrarpolitik die Förderung zur Entwicklung des ländlichen Raums in der Union formuliert, gerade weil die Erhaltung der natürlichen Umwelt des ländlichen Raums ein Gemeinnutz ist.

Die jetzt beigetretenen ostmitteleuropäischen Staaten – unter anderen auch Ungarn – sollen eine aktive Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums führen. Es ist zwar keine EU-Vorschrift, aber die Europäische Union zwingt uns in diese Richtung dadurch, dass bei der Ausschreibung der Förderungen, um die beworben werden kann – und wodurch Finanzmittel zurückerworben werden können –, die Union die Umweltwirtschaft, die regionale und ländliche Entwicklung bevorzugt.

c) Die Osterweiterung der Union

Diejenigen, die gegen die Osterweiterung der Europäischen Union waren, betonten zwei Hauptargumente. Das eine: die sich jetzt umwandelnden politischen Systeme der ostmitteleuropäischen Region verursachten eine „allgemeine Unsicherheit”, und es ist zu befürchten, dass die Erwerbskriminalität auch auf die westlichen Teile Europas übergreift. Das zweite Argument: die Angst vor der Landwirtschaft der ostmitteleuropäischen Region. Das bedeutet teilweise die Angst vor der Konkurrenz der ostmitteleuropäischen Lebensmittelerzeuger, und Angst davor, dass der Fonds für Agrarförderung in mehrere Scheiben aufgeteilt werden soll. Diese Befürchtung wurde dadurch nur gesteigert, dass der Anteil der von der Lebensmittelproduktion lebenden Bevölkerung in dieser Region – vor allem in Polen – viel höher ist, als in den westeuropäischen Staaten.

Diese Ängste widerspiegeln sich auch darin, dass die Agrarförderung der neuen Mitgliedstaaten nur in sieben Jahren die Summe der westeuropäischen EU-Beihilfen erreichen wird. Wie bekannt, bedeutet das so viel, dass die Leute, die im ungarischen Agrarwesen leben, vorläufig nur 25% der Förderungen der gleichen deutschen oder französischen Bauern bekommen. Der ungarische Landwirt muss also mit einem Viertel der Unionsförderungen der gleichrangigen Konkurrenz der westeuropäischen Kornerzeuger, Tierzüchter oder Weinbauern standhalten. Die ostmitteleuropäische Gemeinschaft der Lebensmittelerzeuger tritt also unter ungünstigen Bedingungen auf den Markt. Es ist eine nicht ausgesprochene westeuropäische Hoffnung, dass die Fördersummen in den neuen Beitrittsländern so langsam ansteigen werden, dass bis dahin die Lebensmittelerzeuger der Region allmählich Konkurs anmelden, und somit keine Konkurrenz mehr für die westeuropäischen Erzeuger darstellen. (Wie bekannt, trägt es auch zum Zugrundegehen der Landwirte bei, dass es für die ostmitteleuropäischen Lebensmittelerzeuger fast unmöglich ist, in die von Westeuropäern besetzten Märkte, die sowieso auf einem höheren Produktionsniveau stehen, hineinzugelangen.) Es ist eine offene Frage, wie die Erzeuger der neulich beigetretenen Gebiete diese sieben mageren Jahre überleben können?

Aber den ländlichen Leuten der neuen Mitgliedstaaten stehen die sonstigen Faktoren des ländlichen Lebens, bzw. der ländlichen Lebensmöglichkeiten, von Anfang an mit gleichen Chancen zur Verfügung wie den westlichen Landwirten. Solche sind z.B. die Bioerzeugung oder die Umweltwirtschaft. Ein mögliches Ziel der neuen ostmitteleuropäischen ländlichen Politik könnte gerade die Förderung des Produktstrukturwandels der im ländlichen Raum betriebenen Landwirtschaft sein.

d) Der europäische ländliche Raum ist nicht identisch mit der Landwirtschaft

Die ländliche Politik der Europäischen Union ist aber nicht identisch mit der Agrarpolitik – sie ist breiter – und ist nicht identisch mit der Lebensmittelproduktion. Es ist zwar die primäre Aufgabe der ländlichen Bevölkerung, das von ihr bewohnte Gebiet instand zu halten: sei es durch Lebensmittelproduktion, Umweltwirtschaft, der Erzeugung von Rohstoffen für Bioenergie oder durch Öko- und Dorftourismus. Der ländliche Raum ist jedoch auch der Ort der europäischen Klein- und Mittelunternehmen.

Auf dem europäischen Kontinent, ähnlich den USA, erfolgt die Herstellung der grundlegenden technischen Massenprodukte in den Betrieben der globalen Großunternehmen. Die Produktion von vielen Produkten, die in kleinen Serien hergestellt werden, steigert jedoch das Einkommen der europäischen Klein- und Mittelunternehmen. Neben der Landwirtschaft bieten diese Unternehmen in einer immer größeren Anzahl Arbeitsplätze für die ländliche Bevölkerung. Deshalb ist die neue ländliche Politik der Union ein Pfeiler der gemeinsamen Agrarpolitik, aber sie beschränkt sich nicht ausschließlich auf Landwirtschaft, sondern fördert zum Beispiel auch Industriezweige, die mit der lokalen Verarbeitung der landwirtschaftlichen Produkte verbunden sind.

Der ländliche Raum in Europa ist gleichzeitig auch der Ort der Einführung von neuartigen Dienstleistungen. Mit der Verbreitung der verfügbaren Mittel auf dem Gebiet der Informatiktechnologie werden immer weniger Leute im Verwaltungsapparat benötigt. Gleichzeitig steigert sich auch die Zahl der Leute, die in den gesundheitlichen, kulturellen und infrastrukturellen Dienstleistungsbereichen beschäftigt werden. Die Zahl der in der Umweltwirtschaft benötigten Angestellten steigt auch wiederum an. Wir brauchen weniger Leute in der Verwaltung und mehr Leute in den verschiedenen Zweigen der Infrastruktur (Straßenverkehr, Eisenbahn, öffentliche Werke etc.), und mehr Leute für die Instandhaltung der Wälder, Wiesen und Wasserlebensräume. (Denken wir nur an die traurige Tatsache, wie viele zehntausend Arbeitsplätze in der Wald- und Wassererhaltung in den vergangenen 15 Jahren abgeschaffen wurden, während der Verwaltungsapparat auf umstrittene Weise anschwoll!)

e) Der ländliche Raum ist der Ort der natürlichen und kulturellen Diversität

Für den europäischen Kontinent sind ein beispielloses Entwicklungsniveau und eine eigenartige kulturelle Vielfalt charakteristisch. Mehr als zwei Dutzend nationale Kulturen mit gleichrangiger Literatursprache leben in einem relativ kleinen geographischen Raum. In der Geschichte Europas und der Europäischen Union im 21. Jahrhundert betrachten wir diese Vielfalt – die neben der ethnischen Vielfalt auch eine religiöse und traditionsverbundene Vielfalt ist – als eine Sache, die bewahrt werden soll. Deswegen sprechen wir neben der biologischen Diversität auch über kulturelle Vielfalt.

Diese kulturelle Diversität wird natürlich unvermeidlich von der modernen, uniformierenden Technik untergraben, und die Grundlagen dieser Vielfalt werden von der Modernisierung erschüttert. Lange haben wir gedacht, dass sie auch die freie Bewegung der Arbeitskräfte vernichten wird. Jetzt hat es sich herausgestellt, dass wir die menschlich-kulturelle Vielfalt als einen eigenständigen und zu bewahrenden Wert betrachten, und nicht nur wir Intellektuellen, sondern auch Leute, die physische Arbeit leisten. Es hat sich herausgestellt, dass einer der Erträge der Union es ist, dass die national-religiöse Vielfalt nicht zu Kriegen führen wird wie im vergangenen Jahrtausend, sondern zur Herausbildung einer neuen vielfältigen europäischen Toleranz und Offenheit beitragen kann.

Der ländliche Raum in Europa – und dadurch auch in Ungarn – ist Träger dieser kulturellen Vielfalt. In den Großstädten Europas haben sich fast dieselben Verhaltensformen herausgebildet. Es ist auch in Ordnung so, ich selbst fühle mich in Wien, München, Frankfurt, Paris, London genauso zu Hause wie in Budapest. Aber ich bewundere auch die bunte Traditionswelt, die mich im Loire-Tal, in Süd-Wales, dem Rheingebiet oder in Kärnten empfängt. Wir wissen, dass diese bunte Tradition gerade durch den Konservierungseffekt des rückständigen, unbeweglichen ländlichen Raums so lange erhalten wurde. Und wir wissen, dass die Gefühle der ländlichen Leute, die sie gegen die Stadt und das Leben in den Städten hegten, oft gerade gegen die europäische Modernisierung ausgenutzt wurden. Sie dienten mehrmals als emotionale Grundpfeiler von konservativen Diktaturen: als Brutstätte des Fremdenhasses und der Modernisierungsfeindlichkeit. Heute befinden wir uns jedoch in einer anderen Situation. Heute ist der sich entwickelnde ländliche Raum nicht mehr stadtfeindlich, oder antimodern, sondern stolz auf seine traditionsbewahrende Rolle – auf die Dialekte, die lokalen Trachtentraditionen, Spezialitäten und Festkulturen – die im 21. Jahrhundert noch erhalten sind. Die ländlichen Leute akzeptieren auch, dass wir, Stadtbewohner, ebenso Teil und Gestalter der nationalen Traditionen sind wie sie, und sie sehen sogar mit Sympathie zu, wenn wir versuchen, das Leben im ländlichen Raum zu organisieren.

Die kulturelle und biologische Diversität gehen immer mehr Hand in Hand. Die Pflanzen- und Tiergemeinschaften, die geomorphologischen Eigenschaften der Erdoberfläche sind Teile der komplexen Erbschaft der jeweiligen Art. Nicht zu sprechen von den lokalen Kulturunterschieden der erbauten Umwelt. (Dem Baumaterial nach richten sie sich nach dem Vorkommnis der früher lokal auffindbaren Materialen – Stein, Holz, Ton -, was die Form betrifft, folgen sie den Klimaverhältnissen oder den sich ausgebildeten lokalen „Stilen”.)

Der ländliche Raum ist also ein wichtiger Schauplatz des europäischen Kulturprogramms geworden, zu dieser Zeit, wenn die Vielfalt des historischen Erbes wieder als wertvoll betrachtet wird.

In Ostmitteleuropa blieb die Konservierungskraft des ländlichen Raums – wegen ihrer Rückständigkeit – stärker bestehen als in Westeuropa. Deshalb kann in den neulich beigetretenen Ländern die Bewahrung der kulturellen Vielfalt des ländlichen Raums zu einer noch nicht wirklich erkannten, richtigen EU-Aufgabe werden.

f) Der ländliche Raum in Ungarn: aus Verlierern zu Gewinnern

In Ungarn ist der ländliche Raum der große Verlierer des Systemwechsels und der Erweiterung der EU. Zumindest bis jetzt. Wir hoffen aber, dass wir dies ändern können, wenn wir die neue europäische Politik erkennen und die neuen Möglichkeiten ausnutzen.

Mit dem Systemwechsel und dem EU-Beitritt haben wir im Allgemeinen ziemlich viel gewonnen. Eine politische Demokratie hat sich in der Region herausgebildet. Die einst zu Zusammenstößen führenden nationalen Konflikte der Region lassen allmählich nach. Es herrschen die Regeln des freien Marktes, und sie tragen auch mit spontaner Kraft zur Modernisierung der ungarischen Wirtschaft bei. Der wirtschaftliche „Großraum” der Union, die einströmende fortschrittlichere Technologie und effektivere Arbeitsstruktur wird für uns auf die Dauer unbedingt Vorteile bringen. Die Güterversorgung ist von den großen Kaufhausketten, die in das Land kamen, auf ein hohes Niveau gebracht worden. Die Modernisierung des Bankensystems ist auch hervorragend gelungen. Es ist jedoch nicht zu leugnen, dass die Modernisierung vor allem in den Wirtschaftszweigen und in jenen Gebieten (in den Städten) durchgesetzt werden konnte, wo die freie Strömung des internationalen Kapitals nach 1990 gesichert werden konnte, dort also, wo die Wirtschaft eine spontane Modernisierung vollzogen hat. Langfristige Planung und die dazu nötige aktive Administration sind hier viel seltener zu finden, als im benachbarten Slowenien, Tschechien oder sogar in der Slowakei. In den Regionen, wo es keine internationalen Kapitalinvestitionen gibt, so z.B. im ländlichen Raum, ist eine graduelle Verarmung zu beobachten. Im ungarischen ländlichen Raum können wir nicht auf das internationale Kapital warten. Wenn wir es auch in Betracht ziehen, dass die heimischen Aufarbeitungsbetriebe der Lebensmittelrohstoffe nicht besonders günstig privatisiert wurden, ist es verständlich, warum die ländliche Bevölkerung das Gefühl hat, dass sie die Verlierer des Systemwechsels und des EU-Beitritts sind. Das trägt auch dazu bei, dass Ungarn heute nach europäischer Beurteilung in der Reihe der mitteleuropäischen ex-kommunistischen Länder auf einem ungünstigeren Platz ist als 1989-91. Das schlechte Niveau der allgemeinen Sicherheit, die Verarmung breiter Gesellschaftsschichten, die Steigerung der sozialen Unterschiede, das Sinken der bildungs-moralischen Allgemeinzustände, die langsame Entwicklung der Infrastruktur und die ungeregelten Landbesitzverhältnisse degradieren uns. Die Mehrheit dieser Faktoren unserer Rückständigkeit ist mit dem ländlichen Raum verbunden, und es ist auch im ländlichen Raum, wo die Auswirkung dieser negativen Faktoren spürbar wird.

Mit dem Systemwechsel und dem EU-Beitritt verlor vor allem die ungarische Landwirtschaft. Sowohl die Lebensmittelproduktion als auch die Umweltwirtschaft. Eine politisch bestimmte Landbesitzreform führte dazu, dass 90% der ungarischen Landbesitzer über ein Landbesitz von weniger als 5 ha Größe verfügt. All das zu einer Zeit, in der die Lebensmittelproduktion in den meist profitablen Branchen nicht mehr unter 50-100 ha geführt werden kann. (Ich möchte jetzt nicht über die Vorgeschichte dieser Landbesitzpolitik sprechen, aber denken Sie nur daran, dass das Landbesitzwesen auch vor 1945 eine politische Frage war und nicht von den regierenden Tendenzen des freien Markts bestimmt wurde. Die historischen Großgrundbesitze, die sogenannten Fideikommisse und die großen Landbesitze der Kirche, wurden mit politischen Mitteln, d.h. mit Gesetzen, aufrechterhalten, während der Landbesitz im Westen von den Verhältnissen des Marktes bestimmt wurde. All das führte zu politischen Bewegungen gegen Großgrundbesitze, und so entstand die heute noch gefeierte Landreform von 1945, die aus politischer Veranlassung wieder eine Unmenge von wettbewerbsunfähigen Zwergbauern herausbildete. Darauf erfolgte zwischen 1951-1956 die „gemeinsame Politik”, die von politischen Überlegungen veranlasst wiederum die echte Rationalisierung der Produktionsstruktur der neuerrichteten Großbetriebe untergrub. So erhob der Systemwechsel 1990 das Motto „der Kleinbesitz soll wieder her” zu einem seiner politischen Wahlsprüche – als Kritik am sozialistischen Großbetrieb und am gemeinsamen Besitz. Das Land wurde sogar als Mittel der politischen Entschädigung verwendet. In Wirklichkeit ist natürlich der Zwang des Marktes gut spürbar. Die so entstandenen größeren Betriebe basieren alle auf dem undurchschaubaren System von Mietverträgen, das die systematische Betrachtung der Lebensmittelproduktion und der Umweltwirtschaft verhindert.)

Aber die Bevölkerung wurde nicht auf den EU-Beitritt vorbereitet – weder von der politischen, noch der intellektuellen Leitungsschicht. Den Mangel dieser Vorbereitung spüren vor allem die ländlichen Leute. Es ist die gemeinsame Verantwortung von uns, Intellektuellen und Politikern. Beim EU-Beitritt suchten wir allzu viel die diplomatische und außenpolitische Aktivität, die, meines Erachtens nach, erreicht wurde. Aber wir bildeten nicht genügend Europa-Experten aus und konnten es vor allem den einfachen Leuten nicht verständlich genug erläutern, welche Vorteile und Nachteile infolge des EU-Beitritts zu erwarten sind und inwieweit die Konkurrenz sich steigern wird. Wir nahmen nicht in Betracht, dass der EU-Beitritt nicht mit der Herströmung der Subventionen gleichzusetzen ist, sondern nur die Möglichkeit dafür bedeutet. Wir bereiteten die Leute nicht darauf vor, dass der EU-Beitritt sowohl für die Bevölkerung der kleinsten Siedlungen als auch für die Bewohner der Städte einen teilweise grausamen Wettbewerb mit sich bringen wird, und dass in diesem Wettbewerb gerade die ländlichen Leute den Kürzeren ziehen, wenn der Staat nicht angemessen für ihre Vorbereitung sorgt.

Schlussfolgerung. Die neue ländliche Politik setzt sich zum Ziel, den ungarischen ländlichen Raum aufnahmefähig und für die Ausnutzung der Unionsmöglichkeiten geeignet zu machen, nicht zuletzt durch die klügere Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel der staatlichen Förderungen und durch die Bevorzugung der ländlichen Entwicklung.

g) Die Interessen des ungarischen und ostmitteleuropäischen ländlichen Raums in der EU

Wie gesagt, die Europäische Union ist eine junge Organisation. An ihrer Gestaltung sollen jetzt auch wir ostmitteleuropäische Bürger teilnehmen. Auch deswegen sollen wir darauf achten, welche besonderen regionalen Interessen wir konzipieren. Umso mehr, weil sich nach Nizza (2000) eine neue Möglichkeit dafür bietet, dass die kleinen Staaten gemeinsame Aktionen initiieren, die ihre eigenen Interessen widerspiegeln. Die Institution der sog. „engen Zusammenarbeit” macht es nicht nur möglich, dass acht Staaten gemeinsam Präferenzen vorschlagen. Keiner der anderen Mitgliedstaaten hat die Möglichkeit, ein Veto einzulegen. Über die Vorschläge soll abgestimmt werden.

Eine Eigentümlichkeit der Gebiete der neuen ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten ist die Rückständigkeit des ländlichen Raums, vor allem der Kleinsiedlungsregionen. Unserer Auffassung nach sollte unter den Präferenzen der Union die Bevorzugung der Kleinsiedlungsregionen (Regionen von Dörfern unter 1000 Bewohner) auf Unionsebene vorgeschlagen werden. (Die Union hat schon ein besonderes Förderungssystem für Meeresküsten und Gebirgsländer. Die skandinavischen Staaten erreichten, dass die Präferenz der wenig bewohnten Gebiete ebenfalls eine Sonderstellung bekommt.) Die Staaten der ostmitteleuropäischen Region könnten die Bevorzugung der „Kleinsiedlungsregionen” vorschlagen. Um das zu erreichen, könnte die „Charta für den ländlichen Raum” einen Vorschlag zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit enthalten.

 

4. Der ländliche Raum in der Politik, eine neue Interpretation der Modernisierung

Die neuen Faktoren des Zeitalters benötigen Vertretung und Publizität auch in der Parteipolitik. Im 21. Jahrhundert – wie gesagt – wird die ländliche Gesellschaft und im Allgemeinen der ländliche Raum aufgewertet. Die Grundlagen dieser Aufwertung sind die Umweltwirtschaft und der Umweltschutz als Bedürfnisse und gleichzeitig die Entwicklung des ländlichen Lebens als eine Möglichkeit, also die Rolle des ländlichen Raums in der Erzeugung neuartiger Energiequellen. Diese neuen Faktoren und ihr Wirkungsbereich, der ländliche Raum, verlangen auch eine Vertretung auf politischer Ebene.

In der Zeit der früheren industriellen Revolutionen zwischen 1780-1990 (1998) war die Stadt der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung in Europa. Sowohl die technische (industrielle, energetische), als auch die kulturelle und gesellschaftliche Modernisierung war mit der Stadt verbunden. Die Produktions- und Dienstleistungszweige, die die Lebensqualität verbesserten, waren ebenfalls an die Städte gebunden. Die Tatsache, dass die Städte seit einem Jahrtausend viel entwickelter sind als der ländliche Raum, wurde in den letzten zwei Jahrhunderten ganz eindeutig. Wir könnten auch sagen, dass in den vergangenen zweihundert Jahren Europa von den urbanen Kräften und der urbanen Zivilisation zum Sieg verholfen wurde. Diese urbane Zivilisation strömte mit Hilfe der neuen technischen Instrumentenkultur im 20. Jahrhundert langsam auf außerstädtische Gebiete. Der ländliche Raum und die dort lebenden Leute holen aber ihren tausendjährigen Nachteil ab 1998 explosionsartig auf.

Die Rolle des ländlichen Raums als Träger der Kultur ändert sich auch. Bis jetzt war der ländliche Raum Bewahrer der tausendjährigen Erzeugungs- und Sittentraditionen. Der Bewegungsradius der ländlichen Bevölkerung war jahrtausendelang unvergleichbar enger als der der Stadtbewohner, und ihre Fähigkeit neue kulturelle und geistige Strömungen aufzunehmen war auch auf einer niedrigeren Ebene. Damit ist es zu erklären, dass der ländliche Raum in der Geschichte der parlamentarischen Politik des 19-20. Jahrhundert ein Ort der Politik war, die die Traditionen und die Kontinuität als wichtigste Priorität setzte. Die Bewegungen, die die ständige Erneuerung aufs Banner schrieben, waren eher mit der städtischen Produktion und Verwaltung und den städtischen Arbeitnehmern verbunden. Die neuen Faktoren der vergangenen Jahrzehnte, z.B. die Offenheit für Umweltschutz, wurden eigenartigerweise auch von der städtischen Gesellschaft formuliert. Sogar die sogenannten Grünbewegungen der 1970-90er Jahre waren ausgesprochen städtische Bewegungen. Daraus ergibt sich der eigenartige Widerspruch der vergangenen drei Jahrzehnte: während die Umwelterhalter – ihrem Beruf zufolge – auf dem Lande leben, wohnen die meisten Umweltschützer in der Stadt.

In der europäischen parlamentarischen Politik kam in den vergangenen 150 Jahren eine eigenartige Arbeitsteilung zustande. Der Liberalismus und die Sozialdemokratie, bzw. die daraus entstandene kommunistische Bewegung, erschienen als politische Befürworter der Arbeiterklasse und des städtischen Kleinbürgertums, die sich im Zeitalter der Maschinen erhoben hatten. Diese Parteien wurden in ihrer 150-jährigen Entwicklung zu typisch städtischen Parteien. Ihre Geschichte zeugt von einer Sensibilität für revolutionäre Änderungen, für die technische Modernisierung der industriellen Gesellschaft, den damit verbundenen freien Handel und den Schutz der Arbeitskräfte. Sie zeigten aber wenig Verständnis für die ländliche Bevölkerung und vor allem die Probleme des dort lebenden Bauerstandes. Und sie zeigen wenig Verständnis für die zwei Faktoren, die im Allgemeindenken der Traditionsbewahrung zugeordnet werden: die nationale Identität und die Religion. Die konservativen Parteien sind gerade unter der ländlichen Bevölkerung populär und bauen auf die religiösen und nationalen Formen der Traditionen, auf die religiöse und nationale Identität.

Der erste störende Faktor in dieser Arbeitsteilung war die früher erwähnte Grünbewegung und das Erscheinen der Grünparteien. Die Grünparteien entwickelten sich aus den (sich ab den 1970er allmählich mildernden) sogenannten neulinken Ideen und dem Antikapitalismus der Sozialdemokratie. Ihr Programm basiert primär auf der Negation: die Verneinung der unbegrenzten Profitsuche, die die menschlichen Faktoren völlig außer Acht lässt, und die Verneinung der einseitigen Interpretation der Entwicklung. Sie sprechen sich dagegen aus, dass die Entwicklung allein an der Vermehrung der materiellen Güter und der Zunahme des technischen Instrumentenbestands zu messen ist. Sie setzen das Leben in Harmonie mit der Natur und die Wertordnung der Bildung und der Umweltpflege vor die materielle Vermehrung. Wenn sie aber ein positives Programm formulieren sollen, geraten sie in Widersprüche. Die Grünbewegungen sollen nun aus dem politischen Feld der Negation in das Feld der kreativen Aktionen, der Taten (z.B. das der Regierungsverantwortung) treten. Heute ist das Feld, wo es an Taten mangelt, nur noch zum kleinen Teil in Städten zu finden und vielmehr im ländlichen Raum. Die erste Generation der grünen Politiker, die zu Beginn in den Städten tätig war, soll auch den ländlichen Raum erlernen. Auf jeden Fall erkennen wir erst jetzt, dass die Grünbewegungen die neuartige ländliche Politik kennen lernen sollen, und dies ist nur mit Hilfe der ländlichen Leute zu erreichen. Ähnlicherweise sind die Wähler der sozialdemokratischen und liberalen Parteien immer lauter und regen diese Parteien an, sich aus der Stadt auch in Richtung des ländlichen Raums zu bewegen. Die ländlichen Bauernunternehmer sind ja genauso Teilhaber der Prinzipien des Liberalismus wie die städtischen Kleinbürger im Dienstleistungsbereich und im Handel. Die ländlichen Lohnarbeiter brauchen das soziale Schutznetz und seine Institutionen genauso wie die städtischen Arbeitnehmer oder Beamten. Sowohl die europäische Sozialdemokratie als auch der europäische Liberalismus leidet unter dieser Krise.

Die menschliche Tätigkeit im ländlichen Raum und die Aufwertung der natürlichen Umwelt braucht eine bunte politische Vertretung im Parlament. Die jahrhundertlange Interessenvertretung der Lebensmittelerzeuger in den Landwirtschaftskammern bzw. in den verschiedenen Genossenschaften oder Agrargewerkschaften genügt heute nicht mehr. Die politischen Parteien, die mit dem Geld der Steuerzahler wirtschaften und Rechtsordnungen geben, können das Wirksamwerden und die Verstärkung der neuen Faktoren beschleunigen oder verzögern. Die Tatsache, dass in den vergangenen 20 Jahren in Westeuropa, und jetzt auch in Ungarn, die Agrarunternehmer regelmäßig zum Streik greifen, zeigt, dass die ländliche Gesellschaft ihre angemessene politisch-parlamentarische Vertretung nicht findet. Es ist nicht selten, dass die Kammer, und sogar die Fachadministration des Agrarsektors spontan oder ohne es auszusprechen auf der Seite der Streikenden waren. Es gibt keinen angemessenen und kontinuierlichen Dialog zwischen den politischen Parteien und der ihr unterstellten Regierungsadministration, und den ländlichen Leuten. Die Initiativen, eine selbständige Agrarpartei oder eine sogenannte Landespartei zu organisieren, versagen.

Es ist eine große Frage für die konservativen Parteien: Nehmen sie die neuen Programme auf sich, die den ländlichen Raum zu modernisieren versuchen? Wagen sie sich von den traditionsbewahrenden Programmen zu distanzieren, die schon seit Jahrhunderten angewandt werden? Können sie die Schlussfolgerung ziehen, dass der ländliche Raum nicht derselbe ist und nicht derselbe sein kann wie er früher war? Wenn sie es tun, und die Mottos der neuen ländlichen Politik aufs Banner schreiben – den Lebensformwechsel, den Produktstrukturwandel, die infrastrukturelle Modernisierung, die Selbstorganisation und die Stichwörter der Subsidiarität – kann sich ihre Beurteilung durch die nächste Generation der Historiker ändern: vielleicht wird die konservative Politik von gestern die Modernisierungspolitik von morgen werden...

Aber es ist auch eine große Frage für die sozialdemokratischen und liberalen Parteien, ob sie die neuen Kräfte im ländlichen Raum unterstützen werden? Werden sie sich in Richtung der ländlichen Bevölkerung und des Bauernstands bewegen? Werden sie zur Kenntnis nehmen, dass der ländliche Raum nicht mehr Gegner der Modernisierung ist, sondern notwendigerweise gerade Ort der neuartigen Modernisierung? Und dass diese neue Modernisierung auch auf die Hilfe der politischen Parteien wartet? Können sie die heutigen Hindernisse der sozialdemokratischen und liberalen Rolleninterpretation überspringen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten? Können sie die sich heute in der Welt abspielenden Änderungen in der Wertordnung, in ihrem politischen Programm und bei ihrer Tätigkeit zur Geltung kommen lassen?

Es ist eine große Frage, ob die europäischen Apparat-Parteien fähig sind, die hindernde Bürokratie und die geistige Behäbigkeit der allzu sehr institutionalisierten Parteien aufzulösen.

Das neue ländliche Programm wartet jedoch sowohl in Europa als auch in Ungarn auf die Hilfe der politischen Eliten.

 

II.
DER GEMEINNUTZ DES LÄNDLICHEN RAUMS IN UNGARN

Das ländliche Ungarn soll nicht zum Verlierer des Systemwechsels und des EU-Beitritts werden! Das gilt auch für die Leute, die im ländlichen Raum leben, und für die natürliche Umgebung, die zum ländlichen Raum gehört. Das ist die Zielsetzung unseres Unternehmens, der Bewegung „Dialog für den ländlichen Raum”. Es ist unser Ziel, die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft und der politischen Elite auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und umweltwirtschaftlichen Konflikte des ländlichen Raums zu lenken. Und es ist unser Ziel, die Aufmerksamkeit auf die im ländlichen Raum steckenden Möglichkeiten zu lenken – sowohl die Aufmerksamkeit der Politiker, als auch die Aufmerksamkeit der Leute, die in den Städten und in dem ländlichen Raum leben. Es ist unser Ziel, die „Charta für den ländlichen Raum” zu verfassen, die wir den leitenden Politikern des Landes überreichen werden, und aufgrund dessen das Parlament einen Beschluss über die Grundprinzipien der ländlichen Entwicklung verfassen kann. Einen Parlamentsbeschluss, der eine langfristige Verpflichtung aller Parteien des Parlaments enthält, und der die vierjährigen Regierungsperioden überspannt. Diese Verpflichtung soll die Bevorzugung des ländlichen Raums bei der Verteilung der Haushaltsmittel feststellen: vor allem bei Investitionen, die die Infrastruktur (Verkehr, Informationstechnologie, Förderung der öffentlichen Werke), die Bildung und Allgemeinbildung, die Umweltwirtschaft und den Landschaftsschutz betreffen, und bei der Förderung von Unternehmen mit staatlichen Mitteln, sowohl im Bereich der Landwirtschaft, als auch im Bereich der Industrie. Es ist unser Ziel, auf der vorher geschilderten Weise im Rahmen einer langfristigen Zusammenarbeit mit den Nachbarländern, einen Vorschlag zur Präferenz der ostmitteleuropäischen Kleinregionen der Europäischen Union (und dadurch des ländlichen Raums) zu erfassen. Damit würden auch unsere ostmitteleuropäische Interessen unter den bevorzugten Unionsförderungen erscheinen.

Im Folgenden möchte ich zu den jetzt beginnenden Analysen und den darauf folgenden Zusammenfassungen fünf Anmerkungen hinzufügen über den Gemeinnutz, den die Bevorzugung des ländlichen Raums für die ganze ungarische Gesellschaft mit sich bringt und noch bringen kann.

 

1. Die geographische Lage des ungarischen Staates

Der ungarische Staat liegt in der Mitte des Karpatenbeckens, und bestimmte Zwänge folgen aus dieser geographischen Lage, die das Leben der auf seinem Gebiet lebenden Bürger beeinflussen.

a) Offenheit in alle Richtungen, Vermittlungsrolle

Einer dieser Zwänge ist eigentlich ein „Vorteil”, der aus der Vermittlungsrolle des Landes entsteht. Die Offenheit des Staates in alle geographischen Richtungen ist ein Zwang. Durch die Osterweiterung der Europäischen Union liegt Ungarn an der neuen Landstraße des wirtschaftlichen und politischen Lebens: an der Landstraße der Erweiterung in Richtung der ukrainisch-russischen Gebiete und der Balkangebiete. Die ukrainisch-russischen Gebiete werden die großen europäischen Reserven des 21. Jahrhunderts werden. Genauso wie die Informatik und der Luftverkehr sich entwickeln, soll ihre Zugänglichkeit auch auf dem Festland gewährleistet werden. Das kann auf den Landstraßen und Schienen geschehen, die durch Polen und Ungarn führen. Ähnlicherweise könnte der Weg in die von der Union anvisierten Richtung der Erweiterung, dem Balkan und der Türkei, durch Ungarn oder Kroatien und Serbien führen. Die Entwicklung der Infrastruktur des östlichen Teils Ungarns soll also eine besonders wichtige Angelegenheit von öffentlichem Interesse sein, weil die Bedienung des Transitverkehrs nach Osten und Südosten hin im Interesse der ganzen steuerzahlenden Gemeinschaft steht. Das Ziel der ländlichen Entwicklung ist also begründeterweise Ostungarn, bzw. Südwestungarn. (Nordwestungarn, das zu den prosperierenden Wirtschaftsgebieten zählt, und die Agglomeration der Hauptstadt entwickeln sich dynamisch infolge der spontanen kapitalreichen Investitionen auch bei durchschnittlicher Förderung.)

b) Klima, Gegebenheiten der Boden- und Wasserbewirtschaftung

Der andere Zwang ist nur teilweise ein Vorteil: Ungarn liegt nicht nur in der Mitte des Karpatenbeckens, sondern auch im unteren Teil des Beckens.

Es ist ein Vorteil, dass die Gewässer des Beckens aus den Karpaten auf diesem Gebiet zusammenfließen, und es ist ein Vorteil – oder wenigstens war es bisher so – dass der höchste Ackerlandanteil eines Staatsgebiets in Europa Ackerland von hoher Qualität ist, das sich für die Landwirtschaft eignet. Dieser Vorteil kann aber nur dann ausgenutzt werden, wenn wir die Gewässer, die im 21. Jahrhundert wohl zu den Mangelwaren zählen werden, einstauen, und sie in einer größeren Menge auf dem Gebiet des Landes halten als bisher. Daneben sollten wir auf diese Wassermenge ausgerichtete neue Produktionskulturen ausbauen: Lebensmittelproduktionszweige, die sich nach den Überschwemmungsgebieten und planmäßiger Wasserbewirtschaftung richten, touristische Möglichkeiten, und eine spezielle Landwirtschaft mit Bewässerung. (Diesem Zweck dient das Neue Theiß-Tal Programm, bzw. das Programm der Wasserspeichersysteme mit geringem Wasserdurchfluss, und das Donautal Programm, das wegen der Krise in Serbien ins Stocken geriet.) Ausgedehnte Ackerländer sind ein Vorteil, wenn wir in dem kommenden Jahrzehnt die Lebensmittel- und Umweltwirtschaftszweige (Biomasse) nutzen wollen, die sich nach unserem Klima und der zeitgemäßen Ernährung richten und auch auf dem Weltmarkt zu verkaufen sind.

Der Nachteil ist, dass die Abwässer der Nachbarländer in dem unteren Teil des Karpatenbeckens zusammenfließen, und die großen Pflanzen- und Tierseuchen der Region mit den Luftströmungen hierher kommen. Es ist ein schwieriges Problem auch deshalb, weil sich die Industrialisierung in der Region in der sowjetischen Ära doppelgesichtig entwickelte: die Mechanisierung, die Ausnutzung der fossilen Energiequellen in der Region erfolgten zwar, aber die Umwelt- und Naturschutzsysteme wurden nicht ausgebaut, wie es im Westen parallel mit der Mechanisierung stattfand. In Ungarn soll also eine aktive Landschaft- und Naturschutzpolitik betrieben werden, die vom Staatshaushalt vor allem die Pflege der Kunstwerke des ländlichen Raumes und der Naturschutzgebiete fordert. (Nicht zu sprechen davon, dass das umfangreichste Dammsystem der Welt in Ungarn zu finden ist, das für den Hochwasserschutz des mittelöstlichen Gebiets des Landes, bzw. des Donautals sorgt.) Seiner geographischen Lage zufolge soll Ungarn zur gleichen Zeit eine aktive Nachbarschaftspolitik betreiben, da sowohl der Hochwasserschutz, als auch die neuartige Umweltwirtschaft nur in Zusammenarbeit mit den uns umgebenden sieben Staaten zu verwirklichen ist. Zufolge des Friedensvertrags von Trianon reichen die Grenzen dieser Staaten bis in die ungarische Tiefebene (vor allem im Falle der Slowakei, Rumäniens und Serbiens). Die natürliche Instandhaltung des Gebiets des Ungarischen Staates kann nur in enger Zusammenarbeit mit diesen Staaten erfolgen. Die ländlichen Räume in Ungarn und in der Slowakei, Rumänien, Serbien sind alle Teile derselben Landschaft, die durch Staatsgrenzen getrennt wurde. Die ungarische ländliche Entwicklung soll also eine ländliche Entwicklung sein, die auf ostmitteleuropäischer Zusammenarbeit basiert. Die Festlandwege führen sowieso durch den ungarischen ländlichen Raum in die Nachbarländer, mit denen die allgemeine internationale Zusammenarbeit – so nicht zuletzt auch die Unionszusammenarbeit – äußerst wichtig für Ungarn ist.

 

2. Zu den Gründen des Rückstands der ungarischen ländlichen Entwicklung

Aufgrund unserer Geschichtsstudien können wir folgende vier Gründe des Rückstands des ungarischen ländlichen Raums nennen.

a) Erster Grund: Die vorhandenen günstigen landwirtschaftlichen Gegebenheiten

Einer der Vorteile des heutigen Ungarns ist, dass ein großes Gebiet des Landes für Lebensmittelproduktion geeignet ist. Innerhalb des früheren Staatsgebiets sorgte die Mitte des Landes, d.h. der untere Teil des Karpatenbeckens, für den Speisekammer-Charakter des ungarischen Staates. Bis zum 19. Jahrhundert wurde der westeuropäische Lebensmittelmarkt infolge des während der kleinen Eiszeitalter entstandenen Lebensmittelmangels, später der schnellen industriell-technischen Entwicklung und der Verstädterung von hier gespeist. Die Lebensmittel aus dem Karpatenbecken – vor allem das Getreide und das Treibvieh, also das auf eigenen Beinen zum Markt getriebene Vieh – waren gut zu verkaufen. Nach 1945 nahm der neue sowjetische Markt die Lebensmittel günstig auf. Die Mitte des Karpatenbeckens, das nach Trianon zurückbleibende ungarische Staatsgebiet, war ein Wirtschaftsgebiet, das sich jahrhundertlang einseitig auf Lebensmittelproduktion konzentrierte. Nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Märkte geriet diese ländliche Gesellschaft, die sich vorwiegend auf Lebensmittelproduktion spezifizierte, „selbstverständlich” in eine akute Krise. Die bisher jahrhundertelang ertragsbringende Produktionsstruktur wurde zur Zeit des Systemwechsels und des EU-Beitritts plötzlich zu einem Nachteil.

b) Zweiter Grund: Die ungünstige Landbesitzstruktur

In Ungarn brachte die Verbürgerlichung der Bauern magere Ergebnisse. Während der Landbesitzwechsel in Westeuropa im 19. und 20. Jahrhundert frei wurde, blieb in Ungarn – wie schon erwähnt – das Monopol des Großlandbesitzes der Kirchen und der Fideikommisse der historischen Familien bis 1945 erhalten. Von Széchenyi an bis 1945 wussten alle Denker, die sich mit Europa beschäftigten, dass die primäre Voraussetzung der Verbürgerlichung des ländlichen Raums – und der mit dem Land verbundenen Landwirtschaft – die kapitalreiche Investitionen wären. Das wurde aber durch die Betriebsunfähigkeit des Landbesitzes und der daraus entstandenen verzerrten Struktur verhindert. Während sich die in der Landwirtschaft tätigen Leute in Westeuropa allmählich dem Bürgertum aufschlossen, das Land den Marktbedürfnissen nach gebraucht wurde und sich der Typ eines kräftigen Bauernbürgers herausbildete, blieb diese Schicht in Ungarn mager: mit wenigen Leuten und mit niedriger Kapitalkraft. (Auch trotz der verschiedenen kleineren Reformen, die zwischen 1890-1936 stattfanden.) Demzufolge war die Mehrheit der ländlichen Leute arm, das sich auf die lokale Bauernkommune stützende Selbstverwaltungssystem konnte sich nicht entfalten, und das System der lokalen Märkte, das in dem ländlichen Raum Westeuropas Industrialisierung und Fortschritte im Zivilisationsniveau mit sich brachte, konnte nicht ausgebaut werden. Während der ländliche Raum in Westeuropa in den 19. und 20. Jahrhundert anfing, sich mit Bezug auf die Lebensqualität und die Wirtschaft den Städten anzunähern, näherten sich in Ungarn nur die Lebensmöglichkeiten der Stadt an die der europäischen Städte. Der ungarische ländliche Raum blieb jedoch hinter den Städten und vor allem der Hauptstadt weit zurück.

Die Landreform von 1945 geschah aus politischem Antrieb. Es erfolgte auf außerwirtschaftlichem Zwang und nicht auf marktorientierten Grundlagen. So reproduzierte der ländliche Raum durch die Überzahl der konkurrenzunfähigen Kleinlandbesitzer die Armut und den Rückstand. Daran änderte der weitere Besitzstrukturwechsel von 1951-61 nur wenig. Die nicht marktorientierte Anschauungsweise und die von der Politik beeinflusste Förderungspolitik zerstörten den Vorteil, den die Großbetriebsform in einigen Zweigen mit sich brachte. Und das politische System förderte auch nicht das lokale Selbstverwaltungswesen und die ländliche Entwicklung. Noch dazu wurde die sich in fünfzig Jahren doch entwickelnde magere Bauernbürgerschicht mit politischen Mitteln liquidiert (Kulakverfolgungen).

Nach 1990 erfolgte wiederum ein Besitzwechsel aus politischem Antrieb. Der verzettelte Landbesitz und die verbliebene Annäherung an die westlichen Märkte verwandelten den ländlichen Raum in einen Wohnort der armen Leute. Die Behauptung unserer Agrarökonomen, laut der eines der größten Hindernisse der Entwicklung des ländlichen Raums die schlechte Landbesitzstruktur ist, ist nicht unbegründet.

c) Dritter Grund: Die territoriale Umwandlung infolge des Friedensvertrags von Trianon

Die Beurteilung des Friedensvertrags von Trianon kann von den mitteleuropäischen Nationen bestritten werden. Sowohl in Ungarn als auch in den Nachbarländern und in Polen gibt es nationalpolitische Debatten darüber. Eines kann aber nicht bestritten werden: durch Landesgrenzen trennte das neue System von kleinen Staaten solche Gebiete voneinander, die jahrhundertelang wirtschaftlich aufeinander angewiesen und miteinander verflochten waren. Straßensysteme und regionale Marktsysteme, die sich in einem Jahrtausend entwickelt hatten, wurden unterbrochen. Die neuen Wirtschafts-, Verkehrs- und Handelsstrukturen wurden von Präferenzen und nationalen politischen Interessen beherrscht.

Eine der Grundlagen des Reichtums des ungarischen Staates vor 1918 war im Karpatenbecken die organische Einheit der Industrie, Landwirtschaft und der Infrastruktur. Neben der Hauptstadt, Budapest, wurde ein System von starken industriellen mittelgroßen Städten an den Randgebieten des Staates ausgebaut, die die Produkte der Landwirtschaft in der Mitte des Beckens aufnahmen und als Vermittlungszentren zu benachbarten Staatsgebieten funktionierten. Die Randgebiete, die sich zwischen 1880-1918 rasch entwickelten, und das Straßen- und Bahnnetz, das in diesen Gebieten äußerst entwickelt war, wurde mit Trianon vom Gebiet des neuen Staates abgerissen. Das Bahn- und Straßensystem, dessen Zentrum in Budapest war, führte von einem Augenblick auf den anderen nirgendwohin. Auf dieser Weise verlor der ländliche Raum auf dem verbliebenen Staatsgebiet eine seiner wichtigen Lebensfunktionen.

Die Bedeutung der Hauptstadt nahm auf dem verbliebenen Landgebiet unverhältnismäßig zu. Budapest überlebte die Änderung des Staatsgebietes schnell und blieb weiterhin eine der internationalen Städte Mitteleuropas. Sie genoss auch die Hauptstadt-Orientiertheit der diktatorischen Staatsysteme zwischen 1920-1990: der die Hauptstadt in der Hand hat, hat ja mit Hilfe der diktatorischen Politik und der zentralistischen Verwaltung den ganzen Staat in der Hand. Der Gegensatz zwischen Budapest und dem ländlichen Raum nahm aber zu, und zu dieser Zeit entstand das bis heute lebendige Bild über den ländlichen Raum: alles, was außerhalb der Hauptstadt liegt, ist auf dem Lande. (Die Interpretation des „ländlichen Raums” bedeutet nur in Ungarn die Gesamtheit aller Gebiete, die außer der Hauptstadt liegen.)

Einer der möglichen Ergebnisse des EU-Beitritts kann die Lockerung der nationalstaatlichen Isolation sein, wodurch die Städte im ländlichen Raum ihre Beziehungen mit den ähnlichen Siedlungen der benachbarten, neuen EU-Staaten wieder aktivieren können. Eine tausendjährige ländliche Entwicklung, die von den natürlichen Gegebenheiten ausging, könnte dadurch in der Zukunft wiederhergestellt werden. Die forcierte nationalstaatliche Hauptstadt-Orientiertheit, die zwischen 1920-2004 nicht nur für Ungarn, sondern auch für die Slowakei, Rumänien, Serbien und Kroatien charakteristisch war, zu Ende gehen. (Die Siedlungsstruktur Ungarns verfügt in dieser Hinsicht über gute Gegebenheiten: neben den fünf Großstädten im ländlichen Raum haben wir mehrere Dutzend mittelgroßer Städte in der Nähe von Staatsgrenzen, die die neuen Gebiets-, Markt- und Kulturorganisierungsfunktionen auf sich nehmen und entwickeln können.)

All das benötigt aber eine bewusste Politik in der regionalen Entwicklung, nicht zuletzt durch die Bevorzugung des ländlichen Raums bei der Distribution der öffentlichen Beihilfen.

d) Vierter Grund: Der ländliche Raum – ein von der Sozialpolitik betroffener Bereich

Demzufolge war die lokale wohlhabende Schicht im ungarischen ländlichen Raum auch zur Zeit der bürgerlichen Entwicklung schwächer als in Westeuropa. Wegen dieser Schwäche blieb der ländliche Raum in seinem zivilisationsbezogenen Instrumentensystem noch weiter hinter den Städten, bzw. der Hauptstadt, zurück als in Westeuropa.

Diese Schwachstelle des ländlichen Raums wurde durch eine Reihe von gesellschaftspolitischen Veränderungen nur gesteigert. In Ungarn wurden aus den Reihen des ländlichen Mittelstands im Jahre 1944 zuerst die Juden vernichtet, die im Produkt- und Vermittlungshandel und in den lokalen Dienstleistungen eine wesentliche Rolle spielten. Danach wurde aufgrund von ethnischen Überlegungen (schwäbischer Abstammung) ein anderes starkes Element des ländlichen Mittelstandes durch die Aussiedlung der Hälfte des Deutschtums vernichtet (1945). Darauf folgend wurde 1950-1961 die restliche Schicht der aus guten Fachmännern bestehenden kleinen und mittleren Landbesitzer aufgrund ihrer Angehörigkeit zu einer sozialen Schicht, unter dem Motto der Entledigung der Kulaken, vernichtet. Nur ein Teil dieser Leute konnte in den 1970-80er Jahren innerhalb des sowjetischen Wirtschaftssystems wieder vorstoßen. Und nur ein Bruchteil davon bekam im Rahmen der weiteren Landesreform nach 1990 betriebsfähige Landbesitze. Die während des Systemwechsels aufgepeitschten politischen Leidenschaften, die mal verständlich, mal erklärbar waren, betrafen wiederum die ländliche Gesellschaft. Der neue Mittelstand und die in der Produktionsorganisation schon bewanderte Schicht, die in den 1980er Jahren im ländlichen Raum bereits anwesend war, wurden oft zum Opfer von politischen Verfolgungskampagnen. Unabhängig davon, ob der politische Tadel begründet oder unbegründet war, ist es eine Tatsache, dass der ungarische ländliche Raum zu einem von der Politik beeinflussten Bereich wurde. Nach den 1950er Jahren wurden wiederum die politisch-ideologischen Präferenzen den fachbezogenen Präferenzen vorangestellt. Um zu ermöglichen, dass die Leute die Gegebenheiten des ländlichen Raums ausnutzen und lokale – dörfliche, städtische oder kleinregionale – Strategien ausarbeiten, sollen in der lokalen Gesellschaft solche Aspekte (z.B. Talent oder Geschicklichkeit) zu entscheidenden Faktoren werden, die über parteipolitischen Überlegungen stehen.

Die Grundlage der modernen kapitalistischen Landwirtschaft ist die Anpassung an die Aufnahmemärkte. Dazu sind ein gut funktionierender Vermittlungshandel und eine vielseitig gebildete Tradition der Betriebsorganisation erforderlich. In Westeuropa geriet der ländliche Mittelstand infolge des großbetrieblichen Produktionsrahmens und der intensiven Mechanisierung teilweise in eine Krise. Teilweise kamen aber die am meisten dynamischen lokalen Kräfte der Modernisierung aus diesen Mittelständen. Nach 1944 ging dieser Mittelstand, der in Ungarn sowieso schwach war, wegen verschiedener politischer Aktionen fast ganz zugrunde. Das hat auch zur Folge, dass in der heutigen ländlichen Gesellschaft die lokale Leitungsschicht im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich, bzw. in den Selbstverwaltungen, ziemlich schwach ist. (Ich fügte in meinen früheren diesbezüglichen Studien oft hinzu: es ist ein Wunder, dass der ungarische ländliche Raum im jetzigen Zustand überhaupt existiert.)

 

3. Biologische und kulturelle Vielfalt, das Ungarntum außerhalb der Grenzen Ungarns

a) Bewahrung der biologischen Vielfalt

Ich habe schon über die Bewahrung der Biodiversität gesprochen. Der Bewahrungsraum der Mehrheit der Pflanzen- und Tiergemeinschaften auf dem Gebiet des Staates ist, ähnlich zu anderen Teilen der Welt, der ländliche Raum. Deswegen ist der ländliche Raum auch in Ungarn der Bewahrungsraum der Biodiversität. Darum soll die „Charta für den ländlichen Raum” das Thema der Landschafts- und Umweltwirtschaft und der Instandhaltung unserer natürlichen Energiequellen mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln. Genauso soll sich die Charta mit der Bewahrung der Hungarika, d.h. der im Karpatenbecken einheimischen Pflanzen- und Tiergemeinschaften, beschäftigen, die zum Teil dem Bereich der Lebensmittelproduktion angehören. Zum bekannten Grundprinzip hätte ich nur eine Bemerkung: die Biodiversität kann sich nicht allein auf den ländlichen Raum begrenzen, die ländlichen Lebensräume gehören ja auch zum Rahmen desselben Programms wie die in unseren Wäldern, Wiesen und Gewässern lebenden Lebensgemeinschaften.

b) Entfaltung der kulturellen Vielfalt

Wie die Bewahrung der ethnischen, religiösen und traditionsverbundenen Vielfalt in Europa zu den Programmen der Europäischen Union gehört, so ist sie auch in den einzelnen Mitgliedstaaten auf der Tagesordnung. Das kann in Ostmitteleuropa und in Ungarn eine besonders große Bedeutung haben, weil sich auf dem Gebiet der Staaten dieser Region bis 1918 eine Bevölkerung gemischter ethnischer Abstammung und unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit ansiedelte. Die Entnationalisierungspolitik der nationalstaatlichen Ära (1918-2004) verarmte jedoch diese kulturelle Vielfalt. Parallel dazu wurde im sowjetischen Regime nicht nur die nationale, sondern auch die religiöse Identität unterdrückt. Trotzdem war die kulturelle (menschliche und traditionsverbundene) Diversität in dieser Region viel größer, als in Westeuropa. Wir könnten auch sagen, dass die administrative Unterdrückung weniger effektiv war als die spontane, marktorientierte, technische Modernisierung. Die modernen industriellen Gesellschaften hobelten bis in die 1980er Jahre einen großen Teil der ethnisch-religiösen Unterschiede ab. In Ostmitteleuropa geschah all das nur in den Städten (vor allem in den Großstädten.) Im ländlichen Raum blieben also die ethnischen und traditionsverbundenen Unterschiede größer – gerade als Folge des technischen Rückstands. Bei der Behandlung von gesellschaftlichen Fragen soll die neue ländliche Politik die institutionellen Möglichkeiten der Bewahrung dieser Vielfalt weitgehend in Betracht ziehen. Man soll ganz konkret über die realen Möglichkeiten und über die Notwendigkeit der Bewahrung der deutschen, slowakischen, rumänischen, ukrainischen, kroatischen, serbischen und Sinti- und Roma-Identitäten sprechen.

c) Zu den Ungarn, die außerhalb der Grenzen Ungarns leben

Fünfzehn Prozent der Ungarn leben jenseits der jetzigen Staatsgrenzen. Der Kontakt mit diesen Leuten ist ein menschenrechtliches Bedürfnis dieser Zeit, und vor allem die Aufgabe des Staates. In dieser Kontakterhaltung bekommen solche Gebiete eine besonders wichtige Rolle, die direkt an der Grenze liegen. Die Gebiete im ländlichen Raum Ungarns, die mit der Ukraine, der Slowakei, Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Rumänien benachbart sind, bilden einen Verbindungsraum bei der Erhaltung der Kulturnation. Diese kulturnationale Erhaltung der Kontakte kann in der Europäischen Union besonders vielversprechend sein.

Dem Gemeinnutz des ländlichen Raums kann also neben den wirtschaftlichen, sozialen und naturwirtschaftlichen Zweigen auch in unserem kulturellen Leben eine besonders wichtige Rolle zukommen.

 

4. Zum Begriff des Ländlichen Raums

Innerhalb der Europäischen Union werden die Gebiete, die nicht zum ländlichen Raum gehören aufgrund von zwei Kriterien definiert, die sich nicht immer überdecken. Die Auffassung des ländlichen Raums, der in der regionalen Entwicklung benutzt wird, qualifiziert bestimmte Gebiete als Teile des ländlichen Raums aufgrund ihrer Bevölkerungsdichte (100 Personen/km2) Die Auffassung des ländlichen Raums, die in den landwirtschaftlichen Dokumenten vertreten wird, nimmt den Beruf der Bevölkerung zur Grundlage der Einordnung und zählt diejenigen Gebiete zum ländlichen Raum, in denen ein entscheidender Anteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft, der Försterei und Fischerei tätig ist. (Einschließlich der verschiedenen Siedlungstypen, (Dörfer und Kleinstädte.)

In Ungarn und in der ungarischen Sprache werden diese zwei Auffassungen durch eine zivilisationsbezogene, verhaltensorientierte Auffassung ergänzt. Der ungarische Begriff des „ländlichen Raums” („vidék”) ist weder ins Englische, noch ins Französische oder Deutsche eindeutig zu übersetzen. Dessen Gründe sind in der Eigenartigkeit der Entwicklung des ungarischen ländlichen Raums zu suchen. Der englische und französische Begriff „rural” oder das im Englischen angewandte „countryside” bedeuten nichts anderes als Gebiete, die außerhalb der Stadt liegen. Diese Interpretation ist auch in der ungarischen Sprache zu finden. Deswegen sagen wir oft, dass jede Stadt ihre eigene „Umgebung” hat, wobei wir im Ungarischen in diesem Fall auch den Begriff „vidék” verwenden. In Ungarn wird jedoch wegen der vorher erwähnten Zentralisiertheit jedes Gebiet, das außerhalb der Hauptstadt liegt, als „Land”, als „vidék”, bezeichnet. Dieser Begriff des ländlichen Raums trägt auch einen bestimmten Werteinhalt in sich, der sich von dem der westlichen Länder unterscheidet. „Auf dem Lande zu leben” bedeutet in den westlichen Ländern nichts anderes als nicht in einer Stadt zu leben, aber in Ungarn bedeutet der Tatbestand, dass man „auf dem Lande lebt” auch, dass man auf einem niedrigeren Zivilisationsniveau lebt. Das ist auf die vorher schon erwähnten Gründe zurückzuführen. Während sich die Verbürgerlichung des ländlichen Raums in Westeuropa ab dem 19. Jahrhundert allmählich vollzog, der ländliche Raum sich nach 1945 schnell an die städtische Lebensweise und -qualität anpasste, und ihr Verhältnis jetzt zur Zeit der Informatik bereits langsam ausgeglichen werden konnte, hat diese Entwicklung in Ostmitteleuropa und in Ungarn noch nicht stattgefunden. Die Leute, die im ländlichen Raum leben (die also nicht in der Hauptstadt wohnen), lebten und leben unter schlechteren Umständen, und die ländlichen Städte bieten unvergleichbar bessere Möglichkeiten als „das Leben außerhalb der ländlichen Städte”. (Das Gleiche gilt für den Begriff „Dorf” und „dörflich”. Sowohl in der englischen als auch in der deutschen und französischen Sprache trug der Begriff „dörflich” (village) – bis zu den 1950er Jahren und teilweise auch heute noch – solange eine negative Konnotation mit sich, bis die zivilisationsbezogene Entwicklung der kleinsten Siedlungen vollzogen wurde.)

Die „Charta für den ländlichen Raum” nimmt also vor dem Beginn der Diskussionen drei verschiedene Auffassungen des ländlichen Raums in Betracht: 1. alle Gebiete außerhalb der Hauptstadt; 2. die Gebiete außerhalb der Hauptstadt, der fünf Großstädte und ihrer Agglomeration; 3. die Gebiete, die aufgrund der Bevölkerungsdichte unter 100 Personen/km2 sind. Unser Ausgangspunkt ist die kombinierte Anwendung der Bevölkerungsdichte und der Lebensqualität. Aufgrund der Indikatoren der Bevölkerungsdichte gehört fast 80% des Staatsgebiets zum ländlichen Raum, in dem ungefähr 33% der Bevölkerung lebt. Wenn wir das mit anderen Indikatoren der Lebensqualität ergänzen, erreicht der prozentmäßige Anteil der ländlichen Bevölkerung 40-45%. (Die Feststellung der Bevölkerungsdichte ist genau messbar und basiert auf konkreten Erhebungen, während die Feststellung der Lebensqualität lediglich auf Einschätzungen beruht. Man kann aber in Ungarn nicht über ländliche Entwicklung sprechen, ohne die Agglomeration der ländlichen Großstädte, in einigen Fällen sogar die der Hauptstadt, in Betracht zu ziehen.)

Die „Charta für den ländlichen Raum” ist also ein soziales, wirtschaftliches und Umwelterhaltungsprogramm, das ungefähr zwei Drittel des ungarischen Staatsgebiets und etwa die Hälfte der Bevölkerung Ungarns betrifft.

 

5. Umwandlung der Siedlungsstruktur

a) Nicht konservieren, aber regeln

Die Siedlungsstruktur hängt in jedem Zeitalter von der wirtschaftlichen Kraft des gegebenen Gebiets, d.h. der lokalen Sicherheit der Produktion und des Einkommens ab. Wo sich die Einkommensmöglichkeiten steigern, beginnt eine natürliche Einwanderung und ein natürlicher Bevölkerungszuwachs, wo aber die Arbeitsmöglichkeiten weniger werden, fängt eine Abwanderung und dadurch die Entvölkerung der Siedlung an. Die heutige ungarische Siedlungsstruktur hängt von den Veränderungen der Bevölkerung und der Wirtschaft ab, die sich im Land abspielen, und zeigt gleichzeitig die Tendenzen dieser Umwandlung. Deswegen sprechen wir primär über ländliche Politik und regionale Politik und nicht einfach über ländliche Entwicklung oder regionale Entwicklung. Die Entwicklung des ländlichen Raums ist auch so vorzustellen, dass sich die Siedlungen, die weniger als ein paar hundert Einwohner haben, entvölkern, während die Kleinstädte größer und reicher werden. Das ist die jetzige Richtung der spontanen wirtschaftlichen Entwicklung. Wir wollen die heutige Siedlungsstruktur nicht auf künstliche Weise konservieren. Wir beharren aber auf unseren Standpunkt, dass die Erhaltung des Staatgebiets auf der Ebene einer Kulturlandschaft, d.h. seine Abdeckung mit Einwohnern ein Gemeinnutz ist. Der spontane Umwandlungsprozess der Siedlungsstruktur soll also mit einer bewussten Politik für regionale Entwicklung ergänzt werden. Diese Politik für regionale Entwicklung soll folgende vorher erwähnte Präferenzen beinhalten: die Anregung zur Gründung von Unternehmen, die die Erhaltung der Bevölkerung erzielen, und die Bevorzugung von kommunalen Investitionen.

Das sowjetische System wollte in Ungarn die spontanen Prozesse der Siedlungsentwicklung mit einer forcierten Industrialisierungspolitik und dem Zustande bringen des staatlich geförderten Gemeinguts und Großbetriebs erreichen. Teil dieser Politik war auch eine sozusagen aufgeklärte Politik der regionalen Entwicklung: die Elektrifizierung des ländlichen Raums, der Ausbau eines Verkehrsystems im staatlichen Besitz, das viel effektiver war als das Frühere, sind zweifellos Ergebnisse dieser Politik. Aber die politisch-ideologischen Überlegungen hielten im ländlichen Raum solche überholten Systeme aufrecht, die zur Folge hatten, dass die Infrastruktur der Flügelbahn und des Autobusverkehrs, die in den 1980er Jahren schon unfinanzierbar und unausgenutzt waren, in Ungarn immer noch am Leben waren – zwar auf einem sehr niedrigen Niveau. Die neue Politik der regionalen Entwicklung kann nur unter Bedachtnahme auf die spontanen Prozesse der regionalen Entwicklung und der erwähnten Präferenzen vollzogen werden.

b) Nationale und lokale ländliche Politik

Die sich umwandelnde Siedlungsstruktur lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die zwei Ebenen der ländlichen Politik: die nationale und die lokale ländliche Politik. Die nationale ländliche Politik soll im Allgemeinen einen Standpunkt mit Bezug auf die Präferenzen der einzelnen Branchen vertreten, die das ländliche Leben und die natürliche Umgebung betreffen. Aber diese nationale ländliche Politik soll ständig mit den spontanen gesellschaftlichen und natürlichen Prozessen konfrontiert werden, die sich im ländlichen Raum abspielen, und soll mit einer aktiven lokalen ländlichen Politik ergänzt werden. Während die nationale ländliche Politik von der politischen und intellektuellen Elite des Staates festgelegt wird, ist die lokale ländliche Politik eine Sammlung der Lebensmöglichkeiten der Siedlung, die von den lokalen Bewohnern festgelegt und von ihnen formuliert wird. Die „Charta für den ländlichen Raum setzt sich zum Ziel, dass jedes Dorf, jede Kleinregion als Fortsetzung des Dialogs in den folgenden Jahren eine Entwicklungsstrategie herausarbeiten soll. Die Beamten der lokalen Selbstverwaltung, die lokalen weltlichen und kirchlichen Intellektuellen und Landwirte sollen an der Ausarbeitung dieser Zielsetzung gemeinsam teilnehmen.

c) Die sog. „Selbstlösungsfähigkeit” der Bevölkerung

Deswegen sollen die Selbstlösungsfähigkeiten der Wohnkommunen der Kleinsiedlungen mit besonderer Aufmerksamkeit überprüft werden. Diese Selbstlösungsfähigkeit ist noch auf einer viel niedrigeren Ebene in Ungarn und in Ostmitteleuropa als in Westeuropa. Der Grund dafür ist die vorher erwähnte Vernichtung der mittleren Schichten im ländlichen Raum. Ein weiterer Grund ist die Zentralisierung- und Vorschriftenpolitik des sowjetischen Regimes. Wenn aber die Europäische Union über das Prinzip der Subsidiarität spricht – wonach die Angelegenheiten primär auf der untersten Ebene, auf demselben Forum mit den Betroffenen verrichtet werden sollen – will sie diese lokale Selbstlösungsfähigkeit fördern. Das Prinzip der Subsidiarität bedeutet also in Ungarn eine zwangsmäßige Modernisierung des Alltags der ländlichen Gesellschaft, und will das System der Selbstverwaltungen, bzw. die Rolle der Zivilorganisationen verstärken. (Die auf einander aufbauende Konstruktion der verschiedenen ministerialen und Selbstverwaltungsebenen – Dorf, Stadt, Komitat etc. – soll in der öffentlichen und Fachverwaltung des Landes Gegenstand einer getrennten Diskussion sein.)

Die „Charta für den ländlichen Raum” will ein Fundament für die bewusste Politik der regionalen Entwicklung niederlegen, die auf die Harmonie der spontanen wirtschaftlichen und Gemeinnutzfaktoren aufbaut, in der sowohl das nationale als auch das ländliche Interesse seinen Platz findet und die den im Alltag zu spürenden Gegensatz zwischen den Städten und dem ländlichen Raum auflösen kann.

 

6. Langfristige und komplexe ländliche Politik

Der Systemwechsel kann in den politischen Institutionen in einigen Monaten durchgeführt werden. In der Besitzstruktur und der Wirtschaft dauert er notwendigerweise mehrere Jahre. Der Systemwechsel in der Gesellschaft – und dadurch in der Denkweise der Leute – kann ein Prozess von mehreren Jahrzehnten sein. Die neue ländliche Politik soll auch für Jahrzehnte geplant werden. Vor der Diskussion sollten zwei Aspekte hervorgehoben werden, die die Planung grundsätzlich beeinflussen:

a) Langfristiger politischer Konsens

Die ländliche Politik ist eine politische Aktivität, die auf Dauer geplant ist. Sie kann nicht nach den vierjährigen Wahlperioden und Regierungszyklen gerichtet werden. Das Parlament soll in diesen Themenbereichen eine Mehrparteien-Vereinbarung erreichen, sonst können die wahren Ergebnisse der vergangenen Jahre von einem Regierungswechsel vom Tisch gefegt werden. Besonders wahr ist es für die ungarische Demokratie und die jungen ostmitteleuropäischen Demokratien, wo es fast unmöglich ist, in der parlamentarischen „Wechselwirtschaft” Konsens zu schaffen. Voraussichtlich soll ein Jahrzehnt vergehen, bis wir die Ebene der gerechten westlichen Demokratien erreichen. (Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die stille und bequeme Diktatur des Kádár-Regimes in der ostmitteleuropäischen Region von der lauten und aggressiven Form der Demokratie abgelöst wurde.) Die ländliche Politik könnte vielleicht die erste Politik werden, bei der alle Parteien im Parlament zum Konsens kommen können.

b) Interministerielle ländliche Politik

Die ländliche Politik – und darunter die Entwicklung des ländlichen Raums – erscheint seit 2000 in der Europäischen Union als zweiter Pfeiler der gemeinsamen Agrarpolitik. Jede europäische Regierung ist sich bewusst, dass sie eine vorläufige Administrationsstruktur ist, weil diese ländliche Politik nicht allein auf die Agrarpolitik begrenzt werden kann, und weil bei der Behandlung der ländlichen Politik der Umweltschutz, die Umweltwirtschaft, die Entwicklung der Industrie und der Infrastruktur, das Bildungs- und -unterrichtswesen und auch die Wissenschaft immer mehr einbezogen werden. Nicht zu sprechen vom Gesundheitswesen und der Sozialpolitik. Die „Charta für den ländlichen Raum” will den Vorschlägen zur ländlichen Politik Platz in der Regierungsadministration, dem Wissenschaftswesen und dem System der Zivilorganisationen machen. Wir stellen zur Diskussion: den Plan des Nationalen Rats für Ländliche Politik (er wird seit Februar dieses Jahres diskutiert), das Aufstellen von Hintergrundinstitutionen zur regionalen Entwicklung (delegiert von jedem Ministerium, bzw. der Akademie), und die regelmäßige Organisation von zivilen Foren, an denen die Vertreter der Zivilgesellschaft teilnehmen (Kammern, lokale Vereine für regionale Entwicklung, Selbstverwaltungen, Universitäten und Forschungszentren im ländlichen Raum, nationale ethnische und soziale Vereine für Umwelterhaltung und Gemeinbildung, etc.)

 

Liebe Freunde!

Ich begann damit, dass wir jetzt aufstehen und uns auf den Weg – in eine bestimmte Richtung – machen sollen. Ich sage das, weil wir in der Geschichtsschreibung im Allgemeinen nur die falschen Entscheidungen verurteilen. Wir belasten aber die Leute nicht, die die Konflikte nicht erkennen, oder die sie erkennen, aber umgehen – und dadurch etwas versäumen. Meiner Meinung nach ist diese Mentalität von Historikern falsch. Etwas zu versäumen kann manchmal genauso schwere Folgen haben, wie eine schlechte Entscheidung zu treffen. Ich warne mich selbst und alle meine Freunde davor, etwas zu versäumen. Wir sollen also an die Arbeit gehen!

 

Budapest, 29. März 2005.